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Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren

Eine Analyse des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

von Manuel Julius Schubert (Autor:in)
©2016 Dissertation 274 Seiten

Zusammenfassung

Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleisten einen Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer und gebieten einen gesetzlichen Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren. Letzteren regelte der deutsche Gesetzgeber für überlange Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren im Jahr 2011. Der Autor untersucht, ob dieser gesetzliche Rechtsschutz die Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllt und unangemessene Verfahrensverzögerungen verhindern kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Kapitel: Einleitung und Gang der Untersuchung
  • 2. Kapitel: Der verfassungsrechtliche Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer und das verfassungsrechtliche Gebot eines Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren
  • A) Verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer
  • I. Vor der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit
  • II. Im Zivilprozess
  • III. Im Strafverfahren
  • 1. Verfahrensbeteiligter in Haft
  • 2. Verfahrensbeteiligter in Freiheit
  • IV. Prozessgrundrechte
  • 1. Die Verfahrensgarantie des gesetzlichen Richters
  • 2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör
  • V. Zwischenergebnis
  • B) Verfassungsrechtlich gebotener Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
  • I. Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
  • II. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG
  • 1. Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 4 GG
  • 2. Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 4 GG
  • 3. Bezug zum Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
  • III. Verhältnis der verschiedenen Rechtsschutzgebote
  • C) Spannungsverhältnis mit anderen Verfassungsgütern
  • I. Unabhängigkeit der Richter
  • II. Funktionsfähigkeit der Gerichte
  • D) Zusammenfassung
  • 3. Kapitel: Die Angemessenheit der Verfahrensdauer und die Vorgaben für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
  • A) Verhältnis von EMRK und Grundgesetz
  • I. Befolgung der EGMR-Rechtsprechung
  • II. Zukünftige Rangänderung der EMRK
  • B) Die Angemessenheit der Verfahrensdauer
  • I. Das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK
  • 1. Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK
  • a) Zivilrechtlicher Charakter der Streitigkeit
  • b) Strafrechtliche Anklage
  • c) Zwischenergebnis
  • 2. Die angemessene Frist
  • a) Tatsächliche Verfahrensdauer
  • b) Schwierigkeit des Falles
  • c) Bedeutung für den Verfahrensbeteiligten
  • d) Verhalten der Verfahrensbeteiligten, der staatlichen Organe und Dritter
  • e) Ausnahmesituation des Bundesverfassungsgerichts
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Vereinbarkeit der Vorgaben aus der EMRK und dem Grundgesetz
  • 1. Einfluss der EGMR-Rechtsprechung auf den grundgesetzlichen Anspruch
  • 2. Notwendigkeit subjektiver Kriterien zur Bewertung der Verfahrensdauer
  • III. Zwischenergebnis
  • C) Vorgaben für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
  • I. Das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK
  • 1. Präventiver Rechtsschutz
  • 2. Kompensatorischer Rechtsschutz
  • 3. Bewertung der Vorgaben des EGMR
  • II. Verfassungsrechtliche Anforderungen
  • 1. Verhältnis von Primär- und Sekundärrechtsschutz
  • 2. Gebot eines präventiven und kompensatorischen Rechtsschutzes
  • 3. Rechtsschutz durch das Ausgangsgericht
  • 4. Gebot der Rechtsbehelfsklarheit
  • III. Keine Einschränkung durch die EMRK
  • D) Zusammenfassung
  • 4. Kapitel: Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
  • A) Der Anwendungsbereich des GRüGV
  • B) Die Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren
  • I. Die Erhebung der Verzögerungsrüge durch den Verfahrensbeteiligten
  • 1. Der berechtigte Rügezeitpunkt
  • 2. Die Rechtsfolgen einer verfrühten oder verspäteten Verzögerungsrüge
  • a) Verfrühte Verzögerungsrüge
  • b) Verspätete Verzögerungsrüge
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Der Inhalt und die Form der Rüge
  • II. Die Reaktion des Ausgangsgerichts auf die Verzögerungsrüge
  • 1. Die Abhilfe durch das Ausgangsgericht
  • 2. Die Bescheidung der Rüge
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Die weiteren Funktionen der Verzögerungsrüge
  • 1. Einschränkung des Sekundärrechtsschutzes
  • 2. Instrument gegen ein „Dulden und Liquidieren“
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Das Verhältnis zur außerordentlichen Untätigkeitsbeschwerde
  • V. Fazit zur Verzögerungsrüge
  • C) Das Entschädigungsverfahren
  • I. Die Zuständigkeit und Besetzung des Entschädigungsgerichts
  • II. Die Warte- und Ausschlussfrist
  • 1. Parallele Anhängigkeit von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren
  • 2. Entschädigungsklage nach Ablauf der Ausschlussfrist
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Die unangemessene Verfahrensdauer
  • 1. Die Gesamtdauer oder die Dauer eines Verfahrensabschnitts
  • 2. Die Schwierigkeit des Verfahrens
  • 3. Die Bedeutung des Verfahrens
  • 4. Das Verhalten des Verfahrensbeteiligten
  • 5. Das Verhalten Dritter
  • 6. Die Verfahrensführung durch das Gericht
  • 7. Besonderheiten beim Bundesverfassungsgericht
  • 8. Zwischenergebnis
  • IV. Entschädigung bei einer unangemessenen Verfahrensdauer
  • 1. Die Entschädigung materieller Nachteile
  • 2. Die Entschädigung immaterieller Nachteile
  • a) Der Entschädigungsumfang
  • b) Die Wiedergutmachung auf andere Weise
  • c) Die Besonderheit im Strafverfahren
  • 3. Zwischenergebnis
  • V. Die Revision gegen die Entscheidung des Entschädigungsgerichts
  • VI. Das Verhältnis zum Amtshaftungsanspruch
  • 1. Schuldhafte Amtspflichtverletzung
  • 2. Kausalitätsnachweis und Schadensersatzumfang
  • 3. Der Vorrang des Primärrechtsschutzes
  • 4. Zwischenergebnis
  • VII. Fazit zur Entschädigungsklage
  • D) Zusammenfassende Bewertung des GRüGV
  • 5. Kapitel: Ansatz für eine Kombination aus einem präventiven und kompensatorischen Rechtsschutz
  • A) Präventiver Rechtsbehelf im Ausgangsverfahren
  • I. Voraussetzungen für die Erhebung des Rechtsbehelfs
  • II. Form und Inhalt des präventiven Rechtsbehelfs
  • III. Prüf- und Bescheidungspflicht des Ausgangsgerichts
  • IV. Kontrolle durch ein anderes Gericht oder einen anderen Spruchkörper
  • V. Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit
  • VI. Sperrfrist und Kontrollerfordernis bei Abhilfe durch das Ausgangsgericht
  • VII. Zwischenergebnis
  • B) Anpassung des kompensatorischen Rechtsbehelfs
  • I. Rechtsfolgen der Erhebung oder Nichterhebung des Verzögerungshinweises
  • II. Folgen für den Entschädigungsanspruch bei einer Reaktion des Ausgangsgerichts
  • III. Vermutung einer unangemessenen Verfahrensdauer bei Untätigkeit
  • IV. Zwischenergebnis
  • C) Eigener Gesetzesentwurf für eine Kombination aus einem präventiven und kompensatorischen Rechtsschutz
  • 6. Kapitel: Ergebnis und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

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1. Kapitel:  Einleitung und Gang der Untersuchung

Ein Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren ist für die Rechtsstaatlichkeit der deutschen Rechtsordnung von entscheidender Bedeutung. Der deutsche Rechtsstaat ist insbesondere als Rechtswegestaat ausgestaltet.1 Deshalb hängt dessen Akzeptanz auch von der Effektivität der Gerichtsverfahren ab.2 Für die Effektivität ist vor allem die Dauer eines Gerichtsverfahrens entscheidend.3 Denn nur ein zeitnaher gerichtlicher Rechtsschutz kann zu Rechtsfrieden beitragen und Selbstjustiz verhindern.4 Dieses sind wesentliche Ziele des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips.5

Die Dauer von Gerichtsverfahren ist nicht allein für die Rechtsstaatlichkeit der deutschen Rechtsordnung von besonderer Relevanz, sondern hat ebenso im überstaatlichen Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine wesentliche Bedeutung. Deshalb warnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits in seiner Entscheidung Kudla gegen Polen aus dem Jahr 2000 vor der „erheblichen Gefahr, die für die Rechtsstaatlichkeit in allen innerstaatlichen Rechtsordnungen besteht, wenn große Verzögerungen bei der Justizgewährung vorkommen, hinsichtlich derer den Rechtssuchenden kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht.”6 Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten ist die Dauer der Gerichtsverfahren in Deutschland relativ kurz, so dass auf Grundlage eines solchen europäischen Vergleiches das deutsche Rechtsschutzsystem als effektiv bezeichnet werden kann.7

Auch wenn man den Fokus nur auf die Dauer deutscher Gerichtsprozesse richtet, entsteht der Eindruck, dass im deutschen Rechtsstaat überlange Gerichtsverfahren Ausnahmeerscheinungen sind. Dieses wird im Folgenden anhand der ← 13 | 14 → erstinstanzlichen Verfahren aus der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit exemplarisch verdeutlicht.

In der Zivilgerichtsbarkeit wurden von den Amtsgerichten im Jahr 2013 insgesamt 1.138.823 Verfahren erledigt, bei denen die durchschnittliche Dauer je Verfahren 4,8 Monate betrug.8 Mehr als drei Viertel (75,2 %) der insgesamt erledigten Verfahren dauerten maximal ein halbes Jahr, lediglich 6,0 % der Verfahren dauerten länger als ein Jahr, und 1,3 % der Verfahren mehr als 2 Jahre.9 Vor den Landgerichten wurden im Jahr 2013 in erster Instanz in Zivilprozessachen 348.651 Verfahren erledigt, deren durchschnittliche Dauer bei 8,7 Monaten lag.10 Über die Hälfte der erledigten Verfahren (53,2 %) dauerten maximal ein halbes Jahr, 14,9 % waren länger als ein Jahr und 7 % dauerten mehr als zwei Jahre.11

Ebenso kurz ist die durchschnittliche gerichtliche Verfahrensdauer in Strafsachen. Vor den Amtsgerichten wurden im Jahr 2013 insgesamt 700.394 Verfahren erledigt, deren durchschnittliche Verfahrensdauer bei 3,8 Monaten lag und über drei Viertel (84,4 %) der Verfahren wurden innerhalb eines halben Jahres erledigt.12 Lediglich 3,5 % der Verfahren dauerten länger als ein Jahr und nur 0,8 % mehr als zwei Jahre.13 Vor den Landgerichten wurden in erster Instanz in Strafsachen insgesamt 13.077 Verfahren erledigt, von denen die durschnittliche Verfahrensdauer 6,6 Monate betrug und mehr als zwei Drittel (71,6 %) innerhalb eines halben Jahres erledigt wurden.14 Länger als ein Jahr dauerten 8 % und länger als zwei Jahre 4,4 % der Verfahren.15

Im Verwaltungsprozess ist die durchschnittliche Verfahrensdauer etwas höher. Vor den Verwaltungsgerichten wurden im Jahr 2013 insgesamt 146.278 Verfahren erledigt, von denen die durchschnittliche Dauer bei 8,7 Monaten lag und mehr als die Hälfte (53,7 %) der Verfahren innerhalb eines halben Jahres erledigt wurde.16 Mehr als ein Jahr dauerten 18,2 %, mehr als zwei Jahre 5,7 % und mehr als drei Jahre 1,9 % der Verfahren.17 Von den Oberverwaltungsgerichten wurden erstinstanzlich im Jahr 2013 insgesamt 881 Verfahren erledigt, ← 14 | 15 → deren Durchschnittsdauer bei 16,2 Monaten lag und entsprechend zur hohen Durchschnittsdauer weniger als die Hälfte (44,5 %) der Verfahren innerhalb eines Jahres erledigt wurde.18 Länger als ein Jahr dauerten 32,4 %, mehr als zwei Jahre 14,1 % und mehr als drei Jahre 9,1 % der Verfahren.19

Einerseits sind die überwiegend kurzen durchschnittlichen Verfahrensdauern ein positives Zeichen für die Leistungsfähigkeit der deutschen Justiz, insbesondere angesichts der Masse der insgesamt erledigten Verfahren. Andererseits gibt es ebenso gerichtliche Verfahren, die deutlich über der jeweiligen Durchschnittsdauer liegen. Eine Überschreitung der durchschnitllichen Verfahrensdauer bedeutet zwar nicht per se, dass die Verfahrensdauer unangemessen lang ist, denn für die Bewertung der Verfahrensdauer sind weitere Kriterien entscheidend.20 Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein länger dauerndes Verfahren möglicherweise nicht mit den Vorgaben aus dem Grundgesetz und der EMRK vereinbar ist. Den genannten Rechtsordnungen kann aber eine konkrete Zeitvorgabe für die Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht entnommen werden.21 Aufgrund der wesentlichen Bedeutung eines zeitnahen Rechtsschutzes gewährleisten das Grundgesetz sowie die EMRK einen Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer. Aus welchen Bestimmungen im Grundgesetz und in der EMRK dieser Anspruch hergeleitet wird und welche konkreten Gewährleistungen diesen zu entnehmen sind, wird im zweiten und dritten Kapitel dargestellt. Um diese Vorgaben miteinander zu vergleichen, ist es zu Beginn des dritten Kapitels erforderlich, das Verhältnis von EMRK und Grundgesetz näher zu ergründen. Zur Durchsetzung des verfassungs- und konventionsrechtlichen Anspruches kann ein Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren geboten sein. Ob ein solches Gebot dem Grundgesetz und der EMRK entnommen werden kann, wird im zweiten und dritten Kapitel untersucht. Darüber hinaus wird überprüft, ob der EMRK und dem Grundgesetz konkrete Vorgaben für einen solchen Rechtsschutz zu entnehmen sind.

Insbesondere die Vorgaben aus der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für einen nationalen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren können prägend für die deutsche Rechtsordnung sein. Denn der EGMR hat bereits mehrfach in der Vergangenheit angemahnt, dass in Deutschland den Verfahrensbeteiligten kein wirksamer Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren ← 15 | 16 → zur Verfügung steht.22 Deshalb hatte der EGMR dem deutschen Gesetzgeber aufgegeben, einen solchen wirksamen Rechtsschutz einzuführen.23 Daraufhin trat Ende 2011 das Gesetz über einen Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) in Deutschland in Kraft. Ob dieses Gesetzes die Vorgaben aus der EMRK und dem Grundgesetz erfüllt, wird im vierten Kapitel untersucht. Fraglich ist, welche Wirkungen dieser Rechtsschutz in einem anhängigen gerichtlichen Verfahren erzielen und ob er überlange Gerichtsverfahren verhindern kann. Falls das Gerichtsverfahren trotzdem eine unangemessene Verfahrensdauer erreicht, wird untersucht, ob und wie ein Verfahrensbeteiligter dafür entschädigt werden kann. Entschädigung durch den Staat wird im vorhandenen System des Staatshaftungsrechts ermöglicht. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich in dieses System ein Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren einordnen lässt oder die neue Rechtsschutzmöglichkeit einen Anlass bietet, um das Staatshaftungsrecht zu modernisieren. Auf den Untersuchungsergebnissen aus dem vierten Kapitel aufbauend, wird eine Änderung der bestehenden Rechtsschutzlösung aus dem GRüGV vorgeschlagen, die im fünften Kapitel vorgestellt wird.

Neben der Wirksamkeit eines Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren wird im Verlauf der Arbeit überprüft, ob andere Maßnahmen notwendig sind, um überlange Gerichtsverfahren zu verhindern. Hierbei soll ermittelt werden, ob die Gerichte überhaupt in der Lage sind, dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Auftrag eines zeitnahen Rechtsschutzes nachzukommen. Möglicherweise könnte eine Überlastung der Gerichte, die auf eine mangelhafte personelle Ausstattung zurückzuführen ist, dem Ziel eines zeitnahen Rechtsschutzes im Weg stehen. Dann wäre es erforderlich, dass die Judikative zur Erfüllung ihrer Pflicht aus der EMRK und dem Grundgesetz funktionsfähig ausgestattet wird. Eine Verantwortung dafür könnte die Exekutive und Legislative treffen. Der gesetzliche Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren könnte mittelbar bewirken, dass zukünftig die Judikative funktionsfähig ausgestattet wird und alle Staatsgewalten einen Beitrag dazu leisten, dass der Staat den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer erfüllen kann.


1 v. Münch/Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1–19, Rn. 3.

2 Dörr, JURA 2004, 334; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 237.

3 BVerfGE 54, 39 (41); 55, 349 (369); Priebe, in: FS für v. Simson, 287 (296); Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 19, Rn. 70.

4 So auch Schlette, Anspruch, 27.

5 BVerfGE 107, 395 (401); BVerfGE 60, 253 (267); vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, 311; vgl. Schnapp, in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 20, Rn. 32.

6 EGMR, Slg. 2000-XI, S. 197 (235).

7 Vgl. „The 2014 EU Justice Scoreboard”, S. 8–9, unter ec.europa.eu/justice/effective-justice/scoreboard/index_en.htm.

8 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1, 2013, S. 26, unter www.destatis.de.

9 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1, 2013, S. 26, unter www.destatis.de.

10 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1, 2013, S. 50, unter www.destatis.de.

11 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1, 2013, S. 50, unter www.destatis.de.

12 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2013, S. 38, unter www.destatis.de.

13 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2013, S. 38, unter www.destatis.de.

14 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2013, S. 76, unter www.destatis.de.

15 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2013, S. 76, unter www.destatis.de.

16 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.4, 2013, S. 23, unter www.destatis.de.

17 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.4, 2013, S. 23, unter www.destatis.de.

18 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.4, 2013, S. 62, unter www.destatis.de.

19 Stat. Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.4, 2013, S. 62, unter www.destatis.de.

20 Dazu unten unter 3. Kap. B) und 4. Kap. C) III.

21 Dazu unten unter 3. Kap. B).

22 Dazu unter 3. Kap. C) I.

23 EGMR, NJW 2010, 3355 (3358) – Rumpf/Deutschland; dazu unter 3. Kap. C) I.

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2. Kapitel:  Der verfassungsrechtliche Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer und das verfassungsrechtliche Gebot eines Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren

Der Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer ist zwar verfassunsgrechtlich garantiert, jedoch ist dem Grundgesetz eine solche Gewährleistung nicht ausdrücklich zu entnehmen. Dies schließt ihre verfassungsrechtliche Existenz aber nicht aus. Einerseits ist bei der Herleitung eines Anspruchs aus dem Grundgesetz Zurückhaltung angebracht, damit der Wortlaut der Verfassung nicht überspannt wird. Andererseits ist bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen, dass diese Rechtsordnung bereits seit über 60 Jahren existiert. Die im Geltungsraum des Grundgesetzes vorliegenden Bedingungen haben sich seit dessen Inkrafttreten enorm verändert. Auch für das durch die Verfassung gewährleistete Rechtsschutzsystem sind neue Anforderungen entstanden. Deren Relevanz kann bis zum Inkraftreten des Grundgesetzes noch geringer gewesen sein und deshalb wurden sie damals nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert.

Denn die Verankerung des bestehenden Rechtsschutzsystems im Grundgesetz war insbesondere auch eine Reaktion auf den in der Zeit des Nationalsozialismus vollzogenen „kurzen Prozess“ mit den Gegnern des Regimes.24 Ein solcher sollte gerade mit der Einführung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzvorgaben verhindert werden. Deshalb lag es den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates fern, im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern, dass gerichtliche Verfahren in einer angemessenen Zeit zu Ende geführt werden müssen. Diese damals nachvollziehbare Entscheidung steht der heutigen verfassungsrechtlichen Bedeutung einer angemessenen gerichtlichen Verfahrensdauer nicht entgegen.25 Für die verfassungsrechtliche Relevanz der gerichtlichen Verfahrensdauer sprechen die diversen Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in denen es über Verfassungsbeschwerden zu entscheiden hatte, mit denen unter ← 17 | 18 → anderem die Verletzung des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer gerügt wurde.26 Ein Teil der dazu ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird im Abschnitt A) dieses Kapitels analysiert, um die Verortung des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer im Grundgesetz zu überprüfen.

Neben der Frage nach der verfassungsrechtlichen Herleitung des Anspruchs auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer wird untersucht, wie dieser Anspruch durchgesetzt werden kann. Dies ist denkbar durch einen Rechtsbehelf in dem Gerichtsverfahren, in dem eine Verletzung des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer droht oder bereits eingetreten ist. Dann könnte eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht erst vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden, sondern bereits im jeweiligen fachgerichtlichen Ausgangsverfahren. Deshalb wird im Abschnitt B) dieses Kapitels erörtert, ob das Grundgesetz einen fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren gebietet.

Sofern ein solcher Rechtsschutz verfassungsrechtlich geboten ist, könnte dessen Inanspruchnahme zu einer Entlastung des Bundesverfassungsgerichts beitragen. Die Fachgerichte in Deutschland leisten bereits in diversen Verfahren einen wesentlichen Beitrag zur Beachtung der Grundrechte.27 Deshalb ist aber auch kritisch zu hinterfragen, ob die Leistungsfähigkeit der Gerichte durch einen zusätzlichen Rechtsbehelf beeinträchtigt werden könnte, weil diese mit den Aufgaben im vorhandenen Rechtsschutzsystem mehr als genug ausgelastet sein könnten. Folglich ist bei der Durchsetzung des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer die Funktionsfähigkeit der Gerichte zu beachten. Diese Verfassungsgüter sind in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Zudem könnte ein Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren in die verfassungsrechtlich gewährleistete sachliche Unabhängigkeit der Richter eingreifen. Somit ist zu untersuchen, ob ein fachgerichtlicher Rechtsschutz zur Durchsetzung des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer eine unzulässige Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit sein könnte. Am Ende des zweiten Kapitels soll bewertet werden, ob ein Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren vom Grundgesetz geboten und mit anderen Verfassungsgütern grundsätzlich vereinbar ist. ← 18 | 19 →

A)  Verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine angemessene gerichtliche Verfahrensdauer

Zwar herrscht weitgehende Einigkeit, dass das Grundgesetz einen gerichtlichen Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Zeit gebietet.28 Es bestehen aber unterschiedliche Ansichten darüber, aus welchen Bestimmungen der Verfassung ein Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer für die jeweiligen Gerichtsbarkeiten hergeleitet werden kann. Deshalb wird im Folgenden die Anspruchsherleitung unterteilt nach den verschiedenen Gerichtsbarkeiten.29 Der Anspruch wird differenziert hergeleitet für das Gerichtsverfahren in öffentlich-rechtlichen sowie in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten und für das strafgerichtliche Verfahren. Der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer ist ein Verfahrensgrundrecht, welches in erster Linie durch formelle Grundrechte geprägt sein könnte. Deshalb ist es interessant zu überprüfen, ob auch die materiellen Grundrechte eine Bedeutung für den Anspruch haben.

I.  Vor der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit

In der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit (öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit)30 stehen sich in der Regel als Verfahrensbeteiligte der Rechtsträger einer Behörde sowie ein privater Bürger gegenüber, der etwa gegen einen belastenden Verwaltungsakt vorgehen möchte. Ebenso ist in der genannten Konstellation möglich, dass der Bürger auf dem Rechtsweg einen Anspruch gegen eine Behörde durchsetzen möchte, damit diese einen Verwaltungsakt zu seinen Gunsten erlässt. In den genannten Beispielen kann der Bürger durch den belastenden Verwaltungsakt oder durch den Nichterlass eines Verwaltungsaktes durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt werden. Dagegen kann er gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gerichtlich vorgehen. Fraglich ist, ob die Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG auch gewährleistet, dass der Rechtsschutz in angemessener Zeit gewährt werden muss. ← 19 | 20 →

Details

Seiten
274
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653069587
ISBN (ePUB)
9783653956825
ISBN (MOBI)
9783653956818
ISBN (Paperback)
9783631676172
DOI
10.3726/978-3-653-06958-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Unangemessene Verfahrensdauer Verzögerungsrüge Entschädigungsklage Untätigkeitsbeschwerde
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 274 S.

Biographische Angaben

Manuel Julius Schubert (Autor:in)

Manuel Julius Schubert studierte Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Dort promovierte er nach dem ersten juristischen Staatsexamen und arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

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