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Die Göttinger Hegel-Schule

Julius Binder, Karl Larenz, Martin Busse, Gerhard Dulckeit und der juristische Neuhegelianismus in den 1930er-Jahren

von Jakob Schirmer (Autor:in)
Dissertation 283 Seiten

Zusammenfassung

Anfang der 1930er-Jahre bildete sich in Göttingen das Zentrum des juristischen Neuhegelianismus heraus. Der Rechtsphilosoph Julius Binder und seine Schüler Karl Larenz, Martin Busse und Gerhard Dulckeit prägten als sog. Göttinger Schule in den folgenden Jahren durch zahlreiche Publikationen den rechtsphilosophischen neuhegelianischen Diskurs. Sie agierten im geistigen Klima der Ablehnung der Weimarer Republik und propagierten nach der ‚Machtergreifung‘ die aufkommende Herrschaft des Nationalsozialismus zunächst als eine Art Synthesis aus dem untergegangenen Kaiserreich und der überwundenen Weimarer Republik. Relativ rasch verebbte dieser Impetus und ist bis heute relativ undurchsichtig. Dieses Buch zeichnet die Existenz der Göttinger Schule aus der rechtshistorischen Perspektive nach und eröffnet einen Einblick in das Denken ihrer Angehörigen. Die Auswertung zahlreicher Briefe illustriert die persönlichen Gedanken Binders und seiner Schüler.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorbemerkung
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • I. Die „Göttinger Schule“
  • II. Forschungsstand und Forschungsdesiderat
  • 1. Die Göttinger Schule in der rechtsphilosophischen, rechtshistorischen und rechtsmethodologischen Literatur
  • 2. Die Göttinger Schule in Studien zu Binder und Larenz
  • 3. Die Göttinger Schule in der philosophischen Hegel-Literatur
  • 4. Die Göttinger Schule als rechtshistorische Tatsache
  • III. Rechtsphilosophischer und historischer Kontext der Göttinger Schule
  • 1. Hegelrenaissance und Neuhegelianismus
  • 2. Neuhegelianismus und Nationalsozialismus
  • 3. „Rechtsphilosophie oder Rechtsgeschichte?“
  • Kapitel 1: Umrisse der Göttinger Schule
  • I. Julius Binder
  • II. Karl Larenz
  • III. Gerhard Dulckeit
  • IV. Martin Busse
  • V. Die Binder-Nachfolge
  • VI. Am Rande der Göttinger Schule
  • 1. Walther Schönfeld
  • 2. Karl Michaelis
  • 3. Adam von Trott zu Solz
  • Kapitel 2: „Von Kant zu Hegel“ – Die rechtsphilosophische Entwicklung der Göttinger Schule
  • I. Der „objektiv-idealistische“ Rechtsbegriff
  • II. Larenz’ Abkehr vom Neukantianismus
  • III. Der Übergang zum Neuhegelianismus
  • IV. Das Gemeinschaftswerk „Einführung in Hegels Rechtsphilosophie“ von 1931
  • 1. Larenz’ Annäherung an den Hegelschen Begriff
  • 2. Busses Erläuterung der Hegelschen Rechtsphilosophie
  • 3. Binders Erläuterung des Hegelschen Systems
  • V. „Die allein mögliche Philosophie“ – Das rechtsphilosophische Selbstverständnis Binders und seiner Schüler
  • 1. Larenz’ Kritik der zeitgenössischen Rechtsphilosophie
  • 2. Die Rechtsphilosophie des „objektiven Idealismus“
  • 3. Die „Gegenwartsbedeutung“ des deutschen Idealismus
  • Kapitel 3: Die „sittliche Totalität“ – Das neuhegelianische Staats- und Gesellschaftsverständnis der Göttinger Schule
  • I. Binders Schmähschriften auf Versailles und die Weimarer Republik
  • II. Die Abwicklung der Weimarer Republik
  • III. Das gemeinschaftsbezogene neuhegelianische Staatsverständnis bei Larenz
  • IV. Busses Interpretation des Hegelschen Staatsbegriffs
  • V. Der gemeinschaftsbezogene Staat als Verwirklichung des objektiven Geistes
  • Kapitel 4: Der „objektive“ und „absolute Idealismus“
  • I. Die Wirklichkeit des Bewusstseins bei Binder
  • II. Der objektive Idealismus bei Larenz
  • III. Binders „System der Rechtsphilosophie“
  • Kapitel 5: Rechtsdogmatische Ansätze der Göttinger Schule
  • I. Hegel in Larenz’ zivilrechtlichen Schriften
  • II. Neuhegelianismus und das positive Recht bei Larenz
  • III. Das Privatrecht Hegels
  • Kapitel 6: Philosophische Auseinandersetzungen innerhalb der Göttinger Schule
  • I. Eine Fortsetzung der Göttinger Schule in Kiel?
  • II. Kritik Larenz’ an Binder und sein Abrücken von Hegel
  • III. Kritik Dulckeits an Binder und Larenz
  • IV. Busses Anlehnung an Larenz
  • V. Schönfelds Angriffe auf Binder
  • VI. Binders Verteidigung seines „absoluten Idealismus“
  • VII. Die Auswirkungen der Kritik Schönfelds auf das Verhältnis Binders zu seinen Schülern
  • VIII. Das „Ende des Neuhegelianismus“
  • Kapitel 7: Die Göttinger Schule und der Nationalsozialismus
  • I. Die „Machtergreifung“ als Erfüllung Binders staatsphilosophischer Vorstellungen?
  • II. Binders Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus
  • III. Larenz’ Konzept der „Gliedstellung“
  • IV. Larenz’ „neues deutsches Rechtsdenken“ und sein Rückgriff auf Hegel
  • V. Larenz’ Abkehr vom Nationalsozialismus?
  • VI. Dulckeit und der nationalsozialistische Staat
  • VII. Busses nationalsozialistisches Bauernrecht
  • Kapitel 8: Nach dem „Ende des Neuhegelianismus“ – Dulckeits und Larenz’ Beschäftigung mit Hegel in den 1940er Jahren
  • Fazit und Zusammenfassung
  • Bibliographie der Göttinger Schule
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Archivalien
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister

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Einleitung

I. Die „Göttinger Schule“

Der junge Jurist Martin Busse bedankte sich im Jahr 1930 in der Einleitung zu seiner Dissertationsschrift Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat bei seinem Doktorvater, dem Göttinger Rechtsphilosophen Julius Binder, für die „Hegelabende und sein Seminar“. Sie hätten ihm „das Element der Philosophie Hegels, die Idee, und ihre Bewegung, die Dialektik, und die ideengeschichtlichen Zusammenhänge lebendig nahe gebracht“. Hegels Rechtsphilosophie sei dort „entwickelt“ und die Geschichtsphilosophie „in ihrer Fragestellung zur deutschen Geschichte dargestellt und die Phänomenologie des Geistes in ihrer wunderbaren Tiefe aufgetan“ worden. Ferner dankte Busse „Herrn Privatdozenten Dr. Larenz in Göttingen“ für „wesentliche Anregungen für diese Arbeit“ und sah sich ihm dafür verbunden, dass er ihn „durch seine Anteilnahme“ in seiner philosophischen Ausbildung geführt habe.1 Binder selbst sprach im Jahr 1931 davon, dass er „seit Jahren“ ein „privates Hegelseminar“ abhalte.2 Auch Larenz erinnerte sich im Jahr 1963 an „private ‚Hegel-Abende‘ in der Wohnung Binders“ gegen Anfang der 1930er Jahre.3 In seinem Nachruf auf Julius Binder hatte er im Jahr 1939 festgehalten, dass es diesem ein „innerstes Bedürfnis“ gewesen sei, „seine eigenen Gedanken im wissenschaftlichen Gespräch mit seinen Schülern und in der gemeinsamen Lektüre und Erörterung seines philosophischen Textes zu klären und Einwänden standzuhalten“. Binders Persönlichkeit hatte Larenz an der Gemeinschaftsbezogenheit sowohl seiner Philosophie, als auch seiner akademischen Arbeitsweise, gemessen: „Er brauchte auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit die Gemeinschaft und wirkte gemeinschaftsbildend durch seine Persönlichkeit“.4 Karl Michaelis – ebenfalls ein Schüler Binders – erinnerte sich dabei im Jahr 1973, dass im „Binder’schen Diskussionskreis […] jedenfalls kein autoritärer Stil“ geherrscht habe. Binder sei jederzeit bereit gewesen, „auf die wissenschaftlichen Anliegen von uns jungen Leuten einzugehen“.5 Der Larenz-Schüler Diederichsen erwähnte im Jahr 1988 eine regelmäßige 14-tägliche Hegel-Lektüre „mit einem kleinen Kreise“ im Hause Binders „vom Ende der zwanziger bis Anfang ← 13 | 14 → der dreißiger Jahre“, dem neben Karl Larenz u.a. Gerhard Dulckeit, Karl Michaelis, Adam von Trott zu Solz und Frau Binder angehört hätten. Binder habe dort „Satz für Satz und unter lebhafter Diskussion einen großen Teil von Hegels Werk, allem voran die ‚Phänomenologie des Geistes‘“ gelesen.6

Neben diesen Erwähnungen der privaten Hegel-Abende im Hause Binders in Göttingen – im Nikolausberger Weg 21a – verdichten sich in der Literatur seit dem Ende der 1920er Jahre die Hinweise auf das Bestehen einer rechtsphilosophischen Hegel-Schule in Göttingen unter der Führung Binders. So rechnete der Neuherausgeber Hegels, Georg Lasson7, der bis zu seinem Tod im Jahr 1932 das Wirken Binders und seiner Schüler in zahlreichen Rezensionen begleitete, im Jahr 1928 Karl Larenz in der Rezension von dessen Dissertationsschrift der „Schule des Rechtsphilosophen Julius Binder“ zu, die er freilich nicht weiter erläuterte.8 Im Jahr 1932 sprach Lasson in seiner Rezension des ein Jahr zuvor erschienenen Gemeinschaftswerkes von Binder, Busse und Larenz Einführung in Hegels Rechtsphilosophie davon, dass es im Rahmen des Fortschritts, „den das Hegelstudium während des letzten Jahrzehnts“ genommen habe, in Göttingen „doch so weit gekommen“ sei, „dass dort nun schon unter der Führung des rührigen Julius Binder eine juristische Hegelschule besteht“. Als ihre drei Vertreter sah er Binder, Larenz und Busse an, wobei er Binder als den „Meister der Schule“ bezeichnete.9

Der Göttinger Nationalökonom Richard Passow schrieb in Vertretung des Dekans der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im Jahr 1931 an den Reichserziehungsminister, dass „das Studium der Rechtsphilosophie in den letzten Semestern sich außerordentlich gehoben“ habe und dass „die Teilnehmer an den seminaristischen Übungen, die so intensiv wie hier wohl an keiner anderen Universität“ gehalten würden unter der Führung Binders und Larenz’ „gründliche und sehr erfreuliche Arbeit“ leisteten. Er stellte weiterhin fest, „wie wichtig dieses Studium von der Studentenschaft selbst“ betrachtet werde, könne daraus geschlossen werden, dass „nicht wenige von den Seminarteilnehmern nur wegen der Rechtsphilosophie in Göttingen weilen und an dem Seminar bereits seit mehreren Semestern teilnehmen“.10 In einem anderen Schreiben aus dem Jahr 1931 gab sich die Göttinger Fakultät davon überzeugt, dass „gerade in Göttingen der Grund zu einer wirklich wissenschaftlichen Philosophie des Rechts gelegt wird und teilweise schon gelegt ← 14 | 15 → worden ist“.11 Binder selbst ging im Jahr 1931 in einem Brief an die Fakultät von einer engeren rechtsphilosophischen Schule aus, indem er seinen Fakultätskollegen erläuterte, dass es keinen Sinn hätte, für das Wintersemester 1931/32, in dem er beurlaubt sei und Larenz eine Vertretung in Bonn ausübe, das Ministerium „um Bestellung irgend eines beliebigen Vertreters von auswärts zu bitten, da Leute, die den Namen Rechtsphilosophie verdienen, nicht beliebig vertretbar sind“. Er schrieb explizit: „Die Kontinuität der Schule, die durch meine Vertretung durch Larenz gewährleistet war, verlangt vielmehr, dass an seine Stelle ein anderer meiner Schüler tritt“.12 Dabei brachte Binder Busse ins Spiel. Im Jahr 1933 sprach Binder von „mir und meinen Schülern in unseren seminaristischen Übungen in Göttingen“, womit er deutlich machte, dass er sein rechtsphilosophisches Seminar als Zentrum einer rechtsphilosophischen Erneuerungsbewegung betrachtete.13 Später zitierte er seinen Beitrag Das System der Rechtsphilosophie Hegels zu dem Gemeinschaftswerk Einführung in Hegels Rechtsphilosophie nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter der Gesamtautorschaft „Binder, Busse, Larenz“, womit er seiner Schule gleichsam eine eigene Persönlichkeit zubilligte.14 Larenz nannte in seinem programmatischen Werk Die Rechts- und Staatsphilosophie des deutschen Idealismus und ihre Gegenwartsbedeutung im Jahr 1933 als Vertreter der „sog. Hegelrenaissance“ unter anderem den Neuhegelianismus „Julius Binders und seiner Schüler“ und erklärte damit die rechtsphilosophische Relevanz seiner akademischen Heimat.15 Auch Friedrich Darmstaedter schrieb im Jahr 1933 in seiner Rezension der Einführung in Hegels Rechtsphilosophie von den „als Kenner und Anhänger von Hegels Rechtsphilosophie bekannten Autoren“ und bezeichnete sie als „beredte und kundige Jünger“ Hegels. Allerdings mahnte er, dass man eine „einseitige Überbewertung des Gemeinschaftszusammenhanges gegenüber der Persönlichkeit nicht verabsolutieren“ sollte und „Hegel nicht zum deutschen Rechtsphilosophen schlechthin zu erklären“ sei.16

Adam von Trott zu Solz schrieb im Jahr 1934 an seine Eltern, dass Binder ihn durch Busse für eine „‚große, vor ihm und seinem Kreis liegende wissenschaftliche ← 15 | 16 → Aufgabe‘“ gewinnen wollte.17 Vorangegangen war eine briefliche Anfrage Busses an Trott, ob dieser „nicht nach Göttingen kommen“ wollte, um bei Binder Privatassistent zu werden. Es handele sich darum, dass „unser Göttinger Kreis um Binder“ Aufgaben „wissenschaftlicher Arbeit und Lehre“ vor sich sehe. Auch Trott habe schließlich an der „Vorbereitung“ teilgenommen, die „wir als Schüler Binders“ in Hegels Rechtsphilosophie erfahren hätten.18 Aus dieser Anfrage Busses an Trott spricht deutlich das Selbst- und Sendungsbewusstsein des Göttinger Binder-Kreises, der sich als exklusive Avantgarde der neuhegelianischen Rechtsphilosophie, bzw. der Rechtsphilosophie überhaupt, betrachtete.

Der Dekan der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Herbert Meyer schrieb im Jahr 1935 in einem Brief an den Reichserziehungsminister von der „in Göttingen in der Hand von Professor Binder liegende[n] Wissenschaft der Rechtsphilosophie“, die unter dessen Einfluss „einen besonderen Aufschwung“ genommen habe.19 Dulckeit schrieb Ende 1936 aus Kiel, wo er eine Vertretung wahrnahm, an Binder:

„Die vielen schönen Abende bei Ihnen, bei denen Wissenschaft sich mit heimatlicher Heiterkeit und konstantinischen Freudenkundgebungen zu einem so glücklichen Bilde zu runden vermochte, gehören ja nun leider, hoffentlich aber für nicht allzu lange Zeit, der Erinnerung an.“20

Binder sprach schließlich zum ersten Mal im Jahr 1937 explizit von der „sog. ‚Göttinger Schule‘ in bezug auf das Verständnis der Systematik der Philosophie Hegels“ und von der „Göttinger Hegelschule“. Er fasste darunter sich und seine Schüler Busse, Larenz und Dulckeit. Busse rechnete er an, dass er „vor allem das Verhältnis der beiden Phänomenologien Hegels klar erfasst und herausgearbeitet“ habe. Larenz habe „die Einleitung zur Rechtsphilosophie als den Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist und damit zum Rechte erkannt“ und Dulckeit die „fundamentale Unterscheidung von Begriff und Gestalt als einen der Leitgedanken der Phänomenologie uns in einer vorher nicht erreichten Schärfe bewusst gemacht“. Diese Leistungen bedeuteten „einen dauernden Gewinn und einen wichtigen Fortschritt im Verständnis Hegels“. Dass sie jedoch „nicht die einzigen Leistungen der Göttinger Hegelschule“ bildeten, bedürfe „wohl keiner ausdrücklichen Erwähnung“.21 Auch der neben Binder wahrscheinlich ← 16 | 17 → prominenteste rechtsphilosophische Neuhegelianer, Walther Schönfeld, erwähnte die „Göttinger Schule“ wörtlich zum ersten Mal im Jahr 1937 und bezog sich dabei auf die Einführung in Hegels Rechtsphilosophie.22

Der bulgarische Binder-Schüler Lüben Dikoff sprach in seinem Nachruf auf Binder im Jahr 1939 davon, dass Binder „ein großer Lehrer“ war, der immer Anhänger um sich gehabt habe. Er wies darauf hin, dass Binder „Begründer einer Schule“ gewesen sei. Darüber hinaus sei jedoch seine Bedeutung „viel größer als diejenige der meisten anderen Begründer von neuen Richtungen, weil er eine alte Welt in der Philosophie vernichtete und einer neuen Gestalt gab“.23 Auch Dikoff machte ein gewisses Sendungsbewußtsein der „deutschen Schüler und Anhänger“ Binders aus, insofern „jene Schüler, die neben seinen Arbeiten der Stolz Binders und ein kostbares Gut von seinem Wirken hier auf der Erde“ gewesen seien „die Lücke ausfüllen […], die sich mit seinem Tode auftat, und sein Werk vollenden werden“.24 Auch der Nachruf Rudolf Smends im Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen auf Binder im Jahr 1940 griff den Begriff der „Göttinger Schule“ auf. Binder wird dort als der „rechtsphilosophische Hauptträger der Hegelrenaissance“ bezeichnet, der

„an seiner ‚Göttinger Schule‘ die bildende Kraft der Philosophie des deutschen Idealismus auch in der Gegenwart dargetan und in den Leistungen dieses Kreises, die er in den ersten Jahren nach seinem Eintritt der Gesellschaft vorzulegen pflegte, wichtige Beiträge zum Verständnis Hegels geliefert“

habe.25 Hermann Glockner sprach im Jahr 1941 von einer „Binder-Schule“, zu der er Binder, Busse, Dulckeit und Larenz rechnete. In seinem Literaturbericht über Hegel und die Hegelianer in den Jahren 1924 bis 1940 stellte er fest, dass die Binder-Schule und Theodor Haering „heute am zuverlässigsten“ die Beschaffenheit der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie erklärten. Dabei ergänzten sich die Binder-Schule und Haering in ihrer Interpretation Hegels.26 ← 17 | 18 →

II. Forschungsstand und Forschungsdesiderat

1. Die Göttinger Schule in der rechtsphilosophischen, rechtshistorischen und rechtsmethodologischen Literatur

Vor dem Hintergrund der Selbstverständlichkeit mit der die Literatur der 1930er und 1940er Jahre von der Existenz der neuhegelianischen Göttinger Schule unter Binder ausgegangen war, überrascht es, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser in der rechtsphilosophischen, rechtshistorischen und rechtsmethodologischen Literatur trotz zahlreichen individuellen Auseinandersetzungen vor allem mit Binder und Larenz bis in die jüngste Zeit nur sehr zurückhaltend erfolgt ist. So setzten sich schon die zeitgenössischen Rechtsphilosophen und Rechtstheoretiker wenn überhaupt nur sehr oberflächlich mit der Hegel-Philosophie Binders und seiner Schüler auseinander. Möglicherweise wurde sie in der Rechtsphilosophie der Zeit als allzu hermetisch und esoterisch empfunden. Die verhaltene Resonanz jedoch auch in der Nachkriegsliteratur wurde sicherlich dadurch mitverursacht, dass der einzige verbliebene vormalige Angehörige der Göttinger Schule in der Bundesrepublik, Larenz, nicht mehr für seine früher propagierte Rechtsphilosophie eintrat und darüber hinaus seinen Anteil am Göttinger Neuhegelianismus geradewegs zu verschleiern suchte. So schreibt er in seiner Methodenlehre der Rechtswissenschaft aus dem Jahr 1960 vom Neuhegelianismus, der sich bei Binder, Schönfeld und Dulckeit als Fortentwicklung des Neukantianismus gezeigt habe.27 Damit unterschlägt er nicht nur seine eigene richtungsweisende Teilhabe am Neuhegelianismus, sondern relativiert diesen auch als Anhängsel des Neukantianismus. Auf die Existenz der Göttinger Schule geht er gar nicht mehr ein. Ferner legt er dar, dass der rechtsphilosophische Streit zwischen Neukantianern, Neuhegelianern und Phänomenologen im Rückblick „viel von der Bedeutung“ verloren habe, die er „auf dem Höhepunkt der Entwicklung, etwa in den zwanziger Jahren, für alle Beteiligte“ gehabt hätte: „Die vielfachen polemischen Auseinandersetzungen jener Zeit haben ihr Interesse heute zum größten Teil verloren“.28 Dieser relativierenden Einordnung des Neuhegelianismus und der Verschweigung des akademischen Zusammenhanges ihrer Hauptvertreter in Göttingen folgen die meisten Erwähnungen des Neuhegelianismus in der Literatur. Beyer geht im Jahr 1967 zwar auf Binder, Busse und Larenz ein, doch übergeht er ihre Göttinger Verbindung.29 Rüthers deutet in seiner im Jahr 1968 in erster Auflage erschienenen, mittlerweile in sechster Auflage vorliegenden, Schrift Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus zwar die „bedeutsame Rolle“ der von Binder und Larenz vertretenen „neuhegelianischen Rechtstheorie“ bei der „Rechtserneuerung aus dem Geist der ← 18 | 19 → nationalen Revolution“ an,30 auch weist er auf Larenz’ Anleihen bei der Hegelschen Begriffslehre hin,31 doch geht er nicht namentlich auf die Göttinger Hegel-Schule bzw. das Zusammenwirken Binders und Larenz’ in Göttingen ein. Auch in seinem Buch Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich aus dem Jahr 1988 erläutert Rüthers zwar ausführlich den Rückgriff Larenz’ auf die Begriffslehre Hegels, doch erwähnt er nicht das Herkommen Larenz’ aus der Göttinger Binder-Schule.32 In seinem Essay Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien aus dem Jahr 2001 geht er immerhin kursorisch auf die Herkunft Larenz’ aus der Göttinger Binder-Schule ein: „Abends lasen Lehrer und Schüler einander Hegel vor“.33 Eine weitere Auseinandersetzung mit der Binder-Schule unterbleibt jedoch auch hier. Rottleuthner geht im Jahr 1970 auf Binder und seine Schüler Busse, Dulckeit und Larenz ein. Zusammen mit Schönfeld, dessen Werke er „indiskutabel“ nennt, fasst er sie als „Hegel-Exegeten im Nationalsozialismus“ zusammen.34 Auf die Existenz der Göttinger Schule kommt er jedoch nicht zu sprechen. Marcic erwähnt ebenfalls im Jahr 1970 Larenz als „führenden Hegelianer in der deutschen Gegenwartsjurisprudenz“. Binder nehme dagegen unter den „älteren, verstorbenen Rechtslehrern, die als Hegelianer gelten“ den ersten Platz ein.35 Doch stellt auch er nicht die Schülerschaft von Larenz, geschweige denn die Schulbildung Binders, heraus. Fikentscher greift im Jahr 1976 den Neuhegelianismus auf und geht zwar auf Binder, Dulckeit und Larenz ein, doch weist auch er nicht auf ihr örtliches Zusammenwirken in Göttingen hin.36 Anderbrügge widmet in seiner Studie Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 1978 dem Neuhegelianismus in der NS-Zeit zwar ein eigenes Kapitel, doch verkennt er das Göttinger Zentrum dieser Bewegung. Dagegen setzt er den Schwerpunkt des Neuhegelianismus in großen Teilen mit der „Kieler Schule“ gleich und nennt Larenz als führenden Theoretiker dieses Kreises.37 ← 19 | 20 → Binder erscheint nur als Lehrmeister gleichsam im Hintergrund.38 Mährlein geht im Jahr 2000 zwar auf die Binder-Schule ein und untersucht sie auf ihre Rezeption des Volksgeist-Denkens, doch erwähnt er nicht die Bezüge zu Göttingen und beschränkt seine Darstellung auf Binder, Larenz und Dulckeit. Da Busse im Krieg fiel und nur ein kleines Werk hinterlassen habe, hält er seine Behandlung für entbehrlich.39 In seinem Beitrag aus dem Jahr 2008 spricht Frassek zwar die „Göttinger Hegel-Lektüre“ an, bezieht sich bei der Erwähnung der Hegel-Abende im Hause Binders jedoch offenbar lediglich auf Diederichsen und kommt, trotz des Titels seiner Abhandlung, über die bloße Feststellung des Bestehens einer rechtsphilosophischen Göttinger Hegel-Schule nicht heraus.40 Meyer-Pritzl spricht im Jahr 2009 in seiner Studie zur Kieler „Stoßtruppfakultät“ zwar das Herkommen mancher ihrer Protagonisten aus dem Göttinger Neuhegelianismus an, doch stellt er fest, dass eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihren geistigen Wurzeln und insbesondere mit den neuhegelianischen Lehren Binders noch ausstehe.41 Pauly greift in seinem HRG-Artikel über Hegel im Jahr 2010 den „Neohegelianismus“ auf, der sich „in der Rechtsphilosophie namentlich bei Julius Binder und Karl Larenz und durchaus mit Bedeutsamkeit für die Rechtslehre im Nationalsozialismus“ auf Hegel berufen habe, geht aber nicht auf das gemeinsame akademische Wirken Binders und Larenz’ in Göttingen ein.42 Die bislang umfassendste Einführung in die neuhegelianische Rechtsphilosophie und die Rechtsphilosophie der Göttinger Schule, die im Gegensatz zu der übrigen Literatur die Göttinger Schule nicht nur kursorisch streift, sondern die Hauptwerke tatsächlich inhaltlich darstellt, findet sich aus philosophischer Perspektive bei Sylvie Hürstel. Sie greift in ihrem Artikel Rechtsphilosophie oder Rechtsgeschichte? im Jahr 1995 im Zusammenhang mit Binder und seinen Schülern die Göttinger Schule auf.43 Ihre französische Abhandlung Au nom de Hegel, Les juristes néo-hégeliens et la philosophie du droit de la République de Weimar au Troisième Reich aus dem Jahr 2010 ← 20 | 21 → liefert von der allgemeinen philosophischen Warte aus eine umfängliche Einführung in die Hauptwerke der Rechtsphilosophie der Göttinger Schule.44 Mit Recht kann diese Studie Hürstels mithin als bislang vollständigste Auseinandersetzung mit den philosophischen Werken der Göttinger Schule betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit setzt sich von den Arbeiten Hürstels insofern ab, als diese die Göttinger Schule ausschließlich vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet und darstellt und den rechtshistorischen Fokus gänzlich außer acht lässt. Dagegen legt der Verfasser der vorliegenden Arbeit als Jurist und Rechtshistoriker den Fokus seiner Betrachtung auf die historische Entwicklung der Göttinger Schule und enthält sich einer philosophischen Interpretation und Kritik.

2. Die Göttinger Schule in Studien zu Binder und Larenz

Bemerkenswert ist, dass trotz der zahlreichen zeitgenössischen Erwähnungen der Göttinger Schule in den 1930er und 1940er Jahren die retrospektiven Studien zu Binder und Larenz zwar darauf hinweisen, dass Larenz ein Binder-Schüler war (teilweise werden auch Busse und Dulckeit genannt), doch eine namentliche Erwähnung der Göttinger Schule zumeist unterbleibt. Flitsch spricht im Jahr 1957 in seinen Mitteilungen aus Binders Wissenschaftslehre unter Verweis auf Binder, Larenz und Dulckeit vom „deutschen Neuhegelianismus unseres Gebietes“, doch übergeht er das akademische Zusammenwirken Binders und seiner Schüler.45 Frommel weist 1981 zwar auf Larenz’ neuhegelianisches Herkommen hin, geht jedoch nicht auf die Existenz der Binder-Schule ein.46 Dreier spricht im Jahr 1987 zwar von einem „Neuhegelianismus Binderscher Prägung“, vermeidet jedoch die Untersuchung einer Schulbildung und spricht lediglich von einem „beachtlichen Schülerkreis“ Binders und von „Binder und seine[n] Schülern“.47 Im Jahr 1993 erwähnt Dreier in Bezug auf Larenz den „Göttinger Kreis um Binder“ und weist darauf hin, dass Binder und seine Schüler Larenz, Busse und Dulckeit „den engeren Kreis des deutschsprachigen rechtsphilosophischen Neuhegelianismus“ gebildet hätten.48 Hartmann geht in seiner DDR-Dissertation aus dem Jahr 1988 über Larenz’ methodologisches Denken immerhin davon aus, das Larenz mit Busse, Holstein, Schönfeld und Michaelis „eine ← 21 | 22 → Gruppe von jungen neuhegelianisch geprägten Nachwuchsakademikern“ gebildet, „die zunehmend Einfluss in der Rechtsphilosophie“ gewonnen habe. Durch gegenseitige Bezugnahme in ihren Schriften seien die Angehörigen dieser Gruppierung sogar „paradigmenbildend“ gewesen.49 Damit greift Hartmann zwar die Existenz einer neuhegelianischen Schule um Larenz auf, doch bestimmt er sie personell nicht hinreichend.50 Kokert erwähnt in seiner Dissertation Der Begriff des Typus bei Karl Larenz im Jahr 1995 nebenbei, dass Busse und Dulckeit wie Larenz „ehemalige Binderschüler“ waren,51 auch ordnet er Michaelis dem „Binderkreis im weiteren Sinne“ zu, doch unterbleibt ein weiteres Eingehen auf den Binderkreis im engeren Sinne bzw. die Göttinger Schule. Jakob geht in seiner Dissertation zu Binders Rechtsphilosophie im Jahr 1996 zwar auf den „Schülerkreis“ Binders ein, doch erwähnt er die Göttinger Schule mit keinem Wort.52 Auch Frassek geht im Jahr 1996 detailliert auf Larenz ein, beschränkt sich jedoch vornehmlich auf dessen rechtsdogmatisches Wirken. Larenz’ Beschäftigung mit Hegel in den frühen 1930er Jahren wird zwar angerissen, doch nicht vertieft.53 Hüpers behauptet im Jahr 2010, dass von außen „leicht der Eindruck“ entstehen könnte – und er sei auch entstanden – dass es Binder „geglückt“ wäre, eine „neue Schule zu gründen, die Schule des Neuhegelianismus“ deren wichtigste Schüler Larenz, Busse und Dulckeit gewesen wären. Doch trüge der Eindruck der Schulbildung beim näheren Hinschauen.54 Allerdings liefert die Arbeit Hüpers’ keine Auseinandersetzung mit der Göttinger Schule.

3. Die Göttinger Schule in der philosophischen Hegel-Literatur

Die philosophische Hegel-Literatur scheint die rechtsphilosophischen neuhegelianischen Ansätze der Göttinger Schule geradezu zu ignorieren. Marcuse weist im Jahr 1941 zwar bibliographisch auf Busses Dissertationsschrift Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat hin, doch geht er in seiner Schrift Reason and Revolution nicht auf die Göttinger Hegel-Schule ein.55 Lukács weist in dem Kapitel über den Neuhegelianismus seines im Jahr 1954 erstveröffentlichten Werkes Die Zerstörung ← 22 | 23 → der Vernunft immerhin darauf hin, dass in Göttingen „sogar eine besondere neuhegelianische Schule der Rechtsphilosophie“ entstanden sei, wobei er Binder, Busse und Larenz namentlich nennt, doch unterbleibt eine weitere Auseinandersetzung mit ihr.56 Riedel weist im Jahr 1962 auf die „Bemühungen des Neuhegelianismus um 1930“ hin, die er vor allem Larenz, Dulckeit, Busse und dem späten Binder zuordnet, doch führt er diese nicht weiter aus.57 In der Einleitung seiner Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie spricht er im Jahr 1975 von der neuhegelianischen Rezeption der Hegelschen Rechtsphilosophie, die sich „nach dem Ersten Weltkrieg zwanglos der ‚totalitären‘ Staatsideologie des Faschismus“ angenähert habe. Ausgangspunkt dieser Hegel-Deutung, sei die „extrem-konservative […] Juristengruppe um J. Binder (G. Dulckeit, K. Larenz, M. Busse, C.A. Emge, W. Schönfeld)“ gewesen. Zwar nennt Riedel die „sozialphilosophische Pseudosprache der ‚Gemeinschaft‘, die man bei Hegel begrifflich […] vorformuliert glaubt“ als Kennzeichen jener Gruppierung und als Ziel „die Apologie der Volksgemeinschaft, die endgültige und unwiderrufliche Revision der bürgerlichen Freiheiten zugunsten einer ‚Volksordnung‘, in der die von Hegel eingeführten Unterscheidungen zurückgenommen und im Dunkel des politischen Mythos verschwunden sind“, doch unterbleibt eine tiefergehende Identifizierung und Auseinandersetzung mit der Binder-Schule.58 Kiesewetter setzt sich im Jahr 1974 in seiner Abhandlung Von Hegel zu Hitler zwar mit Binder, Larenz, Busse und Dulckeit auseinander, auch weist er auf eine gewisse Lehrerstellung Binders hin, doch bleibt seine Beschäftigung mit Binder und seinen Schülern in Anlehnung an die Zielrichtung seiner Abhandlung selektiv, da er Binder und seine Schüler pauschal und durchweg als „nationalsozialistische Hegelianer“ bezeichnet. Die Zusammengehörigkeit der Binder-Schüler in Bezug auf ihre Göttinger Herkunft erwähnt er nicht.59 Kleiner geht in seinem Wörterbuch-Artikel aus dem Jahr 1984 auf Binder und Larenz nur insofern ein, als er feststellt, dass sie den Neuhegelianismus „kompromittierten, indem sie Hegels Staats- und Geschichtsphilosophie zur Rechtfertigung des Dritten Reichs missbrauchten“.60 Die DDR-Philosophin Monika Leske bezeichnet im Jahr 1990 Binder und Larenz lediglich als Angehörige des „sich offen mit dem Faschismus ins Benehmen setzenden Flügel des Neuhegelianismus“, der auch „‚faschisierender Neuhegelianismus‘“ genannt werde.61 In der Bibliographie des Hegel-Lexikons von Cobben, Cruysberghs, Jonkers und De Vos im Jahr 2006 ← 23 | 24 → wird kein einziges Werk der juristischen Neuhegelianer um Binder genannt.62 In Cobbens Erläuterung der Grundlinien der Philosophie des Rechts im Hegel-Lexikon wird in Bezug auf die Wirkgeschichte des Werkes die Interpretation in zwei Parteien eingeteilt: eine „konservative“ und eine „progressive“. Diese Dichotomie ergebe sich aus der Zweipoligkeit des Werkes: der Pol der Tradition sei im Werk durch die Hegelschen Termini „Familie“, „Korporation“, „Staat“ und „Monarch“ verkörpert, wohingegen der Pol der „formellen Freiheit“ der modernen subjektiven Freiheit Raum schaffe. Zu ersterem Pol wird dann kursorisch Rosenkranz als „Nationalist“ eingeordnet und Binder als „Faschist“.63 Großmann erwähnt zwar im Jahr 2010 Binder und Schönfeld, deren Namen man heute kaum mehr kenne, sowie Larenz und Dulckeit, die der rechtsphilosophisch und rechtshistorisch gebildete Jurist zumindest als Methodologen bzw. Romanisten verorte; auch weist er darauf hin, dass Binder Larenz’ Lehrer in Göttingen war, doch ordnet er Larenz lediglich der „Kieler Schule“ zu und erwähnt die Göttinger Schule nicht.64

4. Die Göttinger Schule als rechtshistorische Tatsache

Von der weitgehenden Verkennung der Existenz der Göttinger Schule abgesehen, ist der Neuhegelianismus an sich kein unbeackertes Feld der Literatur.65 Gemeinhin wird dabei davon ausgegangen, dass Julius Binder Gründer und Hauptrepräsentant des deutschsprachigen rechtsphilosophischen Neuhegelianismus des 20. Jahrhunderts gewesen sei.66 Frappierend ist dabei jedoch die Nichtbeachtung der geradezu ins Auge fallenden persönlichen Verbundenheit der durch Binder geschulten neuhegelianischen Rechtsphilosophen Karl Larenz, Martin Busse und Gerhard Dulckeit durch ihre Göttinger Zeit in den 1920er und 1930er Jahren, die Dulckeit im Jahr 1936 in Bezug auf die Schülerschaft bei Binder als „geistige Heimat“67 bzw. „geistige ← 24 | 25 → Kindschaft“68 bezeichnet. Die Betrachtung der rechtsphilosophischen neuhegelianischen Veröffentlichungen im Zeitraum zwischen den Jahren 1900 und 1950 offenbart eine überwiegende Konzentration des rechtsphilosophischen Neuhegelianismus von 1929 bis 1945 auf diese Göttinger Neuhegelianer.69 Faktum ist, dass diesem Kreis in einer relativ überschaubaren Anzahl an Jahren eine reiche Anzahl an Publikationen entsprang, die sich eingehend mit Hegel auseinandersetzten.70 Dass, über diese statistisch-bibliographische Häufung hinaus, von einer Göttinger Schule des juristischen Neuhegelianismus gesprochen werden kann, insofern Binder und seine Schüler vielfältige Zeugnisse ihres Zusammenwirkens abgelegt haben, soll die vorliegende Arbeit aufzeigen. Sie soll die Entwicklung der neuhegelianischen Rechtsphilosophie durch Julius Binder und seine Göttinger Schüler von Ende der 1920er bis etwa zur Mitte der 1930er Jahre und vereinzelt darüber hinaus herausarbeiten. Fraglos bleiben damit wichtige Teile vor allem des Binderschen und Larenzschen Oeuvres außerhalb des Fokus dieser Abhandlung. Dies scheint deshalb gerechtfertigt zu sein, als nicht eine umfassende Personen- oder Werkgeschichte Julius Binders und seiner Schüler erstellt werden, sondern dem Phänomen der Göttinger Hegel-Schule nachgegangen werden soll, die im engeren Sinne nicht deckungsgleich mit den Gesamtwerken der betrachteten Autoren ist.71 Wo jeweils Überschneidungen thematisch abseitiger Schriften mit dem neuhegelianischen Schaffen der Autoren auftreten, wird im Verlaufe der Abhandlung auf sie eingegangen werden.

III. Rechtsphilosophischer und historischer Kontext der Göttinger Schule

1. Hegelrenaissance und Neuhegelianismus

Im Jahr 1933 datierte Carl Schmitt den Tod Hegels im übertragenen Sinne auf den 30. Januar desselben Jahres, wonach mit dem Tag der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten der „Hegelische Beamtenstaat des 19. Jahrhunderts“ durch „eine andere Staatskonstruktion“ ersetzt worden sei.72 Zuvor hatte die Rechtsphilosophie Hegels in den 1920er Jahren eine florierende Renaissance erfahren und die Beschäftigung mit Hegelschen Gedanken schien unter den deutschen Rechtsphilosophen ab Mitte der 1920er Jahre geradezu en vogue gewesen zu sein.73 Die Zeitschrift Logos ← 25 | 26 → hatte bereits im Jahr 1910 die ein Jahr zuvor neu herausgegebene Phänomenologie des Geistes Hegels mit einer einleitenden Akklamation kommentiert: „Innerhalb dreier Jahre die dritte Neuausgabe der Phänomenologie!“.74 Auch der prominente philosophische Vertreter des Neuhegelianismus Hermann Glockner resümierte im Jahr 1941, dass es „vor dem [Ersten, Anm. d. Verf.] Weltkriege […] keine auch nur einigermaßen vollständige Neuausgabe von Hegels Werken“ gegeben habe und „der alte Originaldruck […] selten und kostbar geworden“ sei.75 In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte jedoch eine rege Herausgabetätigkeit der Hegelschen Schriften eingesetzt und bis zum Beginn der 1930er Jahre lagen diverse Neu- und Gesamtausgaben des Hegelschen Werkes vor.76

Neben der Neuedition der Werke Hegels nahm auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Hegel nach dem Ersten Weltkrieg zu. So stellte Georg Lasson 1915 fest, dass sich „der Geist der Zeit im allgemeinen der geistigen Art Hegels wieder irgendwie zuzuneigen beginnt“.77 Noch zu Hegels hundertfünfzigstem Geburtstag im Jahr 1920 war die publizistische Resonanz jedoch relativ verhalten. Hermann Heller ← 26 | 27 → schrieb im Jahr 1921 in seiner Schrift Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, dass sich „heute, wo wir den 150. Geburtstag Hegels begehen wollen“, leicht vermuten lasse, dass „die ‚idealistische‘, doktrinär-spekulative Machtstaatsidee“ Hegels im politischen Denken der Gegenwart ihre Wirksamkeit verloren hätte. Doch sei „bislang eher das Gegenteil zu bemerken“ gewesen. Es lasse sich in der Rechtsphilosophie eine „Erneuerung des Hegelianismus“ bemerken.78 Auch Hermann Glockner beschwor im Logos in seiner dort abgedruckten programmatischen Heidelberger Antrittsvorlesung von 1924 eine „Renaissance“ Hegels.79 Der Jesuit Erich Przywara sprach im Jahr 1926 von einer „Wende zu Hegel“ und „Hegel-Neugeburt“.80 Glockners akademischer Lehrer, der Philosoph Heinrich Rickert, konstatierte im Jahr 1927 anlässlich der von Glockner herausgegebenen Jubiläumsausgabe Hegels sämtlicher Werke in Faksimile: „Seit längerer Zeit wächst das Interesse für Hegels Philosophie, ja man kann von einer Bewegung des Neuhegelianismus reden“.81 Heinrich Levy untersuchte 1927 in seiner Abhandlung Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie die „hegelschen Motive“ und „Annäherungen an Hegel“ bei den maßgeblichen Schriftstellern der Zeit. Auf Binder ging er allerdings nicht ein.82 Eine Rezension im Logos stellte im Jahr 1929 fest: „Heute kann man mit Recht von einer Rückkehr zu Hegel sprechen“.83 Julius Binder stellte im Jahr 1930 ein „neuerwachtes Verständnis für Hegel“ fest.84 Richard Kroner griff in der Rede zur Eröffnung des ersten internationalen Hegel-Kongresses vom 22. bis 25. April des selben Jahres in Den Haag, auf der der Internationale Hegelbund85 gegründet wurde, „das Wort ← 27 | 28 → von der Hegel-Renaissance“ auf, „das in Deutschland immer lauter erklingt“, um festzustellen, dass diese Bezeichnung „also eine tiefe Berechtigung“ haben dürfte.86 Auch Binder sprach auf dem Kongress von einer „heutigen Hegel-Renaissance, die auf diesem ersten Hegel-Kongress Erscheinung und Bestätigung“ gefunden habe. Weiterhin ließe der Kongress gar die Deutung zu, „dass der Geist, der in Hegel einmal zu seinem Selbstbewusstsein gekommen war, doch noch nicht ganz erstorben ist und wir noch nicht daran zu verzweifeln brauchen wieder einmal eine Wirklichkeit des Geistes auf Erden zu erleben“.87 Der niederländische Hegelianer Samuel Adrianus van Lunteren befürchtete, dass es im Zuge der Hegel-Renaissance „vielleicht in nächster Zukunft wohl ‚Mode‘ werden könnte“, sich „nichts weniger als ‚Hegelianer‘“ zu nennen.88 Max Wundt tastete sich im Jahr 1930 ebenfalls an das Phänomen Neuhegelianismus heran, ohne jedoch den Begriff expressis verbis zu verwenden und stellte einen Übergang vom Kantschen Paradigma in der Rechtsphilosophie hin zu Fichte und Hegel fest.89 Spätestens zu Hegels hundertstem Todestag im Jahr 1931 wurde ein „erstaunliches Anschwellen“ der Literatur bemerkt.90 Anlässlich dieses Jubiläums fand der zweite internationale Hegel-Kongress in Berlin mit mehr als 300 internationalen Teilnehmern statt. Ein Empfang des preußischen Kultusministers Adolf Grimme, Kranzniederlegungen am Hegel-Denkmal an der Universität und am Grab, sowie eine Hegel-Ausstellung der Preußischen Staatsbibliothek unterstrichen die erneute Popularität des Philosophen.91 ← 28 | 29 →

Larenz ging im Jahr 1931 davon aus, dass die Gründung des Internationalen Hegelbundes „sicher nicht allein auf einer gerechten Würdigung der Voraussetzungen und Ziele der Hegelschen Philosophie“ beruhe, sondern sogar „auf ein verändertes Verhältnis unserer Zeit gegenüber der Idee der Philosophie und zumal gegenüber der Metaphysik“ hindeute, „das nur in einer tiefgehenden Wandlung des Bewusstseins“ begründet sein könne.92 Gleichzeitig könne die „Erneuerung der Hegelschen Philosophie in der Gegenwart, der moderne Hegelianismus, nur eine Rückkehr zu Hegel bedeuten, die ebensosehr ein Hinausgehen über ihn ist“. Notwendig für den „modernen Hegelianismus“ sei, dass er Hegels Denken „nicht allein wiederholt, sondern es in einer veränderten geistigen Situation als fruchtbar erweist und damit wahr macht“. Für die Rechtsphilosophie sei die Stunde gekommen, „sich auf das zu besinnen, was die Philosophie Hegels heute noch und gerade wieder zur Erfassung des Rechts und der Erscheinung des Rechtslebens leisten kann“.93 Im selben Jahr legten Binder und seine Schüler Larenz und Busse im Sinne dieser „Erneuerung des Hegelstudiums“ ihr Gemeinschaftswerk Einführung in Hegels Rechtsphilosophie vor, in dem Larenz feststellte, dass „die Entwicklung des philosophischen Bewusstseins in der Gegenwart so weit fortgeschritten ist, dass die Probleme Hegels wieder unsere eigenen Probleme geworden sind“ und dass „niemand mehr an Hegels Rechtsphilosophie vorübergehen“ könne, „dem ernsthaft um die philosophische Erkenntnis des Rechts und des Staates zu tun ist“.94

Hermann Glockner betitelte im Jahr 1931 einen Aufsatz im Logos programmatisch mit Hegelrenaissance und Neuhegelianismus. Eine Säkularbetrachtung.95 Er trennte dort den Neuhegelianismus von der Hegelrenaissance.96 Letztere sei lediglich ein neu erwachtes Interesse an Hegel. Der Neuhegelianismus gehe aber darüber hinaus, da es sich „um eine geistige Erscheinung handelt, die früheren analog ist“, nämlich der „heute abgelaufenen Bewegung des Neukantianismus“.97 Gleichwohl konnte Glockner noch keinen Vertreter einer eigenständigen neuhegelianischen Systembildung benennen. Den Rechtsphilosophen Binder und seine Schüler erwähnte er jedenfalls noch nicht. ← 29 | 30 →

2. Neuhegelianismus und Nationalsozialismus

Die Schmittsche Pointe vom Tod Hegels am 30. Januar 1933 ist Ausdruck der Ambivalenz in der Zeit des Nationalsozialismus die der Hegelschen Rechtsphilosophie schon wenige Jahre nach der konstatierten „Hegelrenaissance“ zukam. Ob Hegel dabei mit der „Machtübernahme“ gleichsam, gestorben war, oder geradezu zum rechtsphilosophischen Wegbereiter des „Dritten Reichs“ erhoben wurde, ist – je nach Perspektive – höchst umstritten. Rechtstheoretiker wie Binder und seine Schüler Larenz, Busse und Dulckeit bemühten sich nicht nur um die rechtsphilosophische Bewältigung und Abwicklung der Weimarer Republik, sondern auch um die Fundierung des neuen nationalsozialistischen Staats mit Hilfe einer neuhegelianischen Rechtsphilosophie.98 Darüber hinaus finden sich in großen Teilen der rechtstheoretischen Schriften der Zeit Zitate von Hegel oder Verweise auf ihn, wenngleich dies freilich noch kein Indiz für eine tatsächliche rechtsphilosophische Rezeption ist. Stolleis spricht von einem „auf breiter Front einsetzenden Neo-Hegelianismus unter der Führung Julius Binders“ in den 1930er Jahren99 und davon, dass es in den Jahren nach der „Machtergreifung“ eine „offene Frage“ gewesen sei, „ob der Hegelianismus mit der nationalsozialistischen Weltanschauung vereinbar oder sogar als ihre Grundlage geeignet“ gewesen wäre.100 Rottleuthner stellt fest, dass es, wenn es zur Zeit des Nationalsozialismus in der Rechtsphilosophie einen tonangebenden Denker gegeben hätte, dies allenfalls Hegel gewesen sein könnte. Gleichwohl betont er, dass der Neuhegelianismus „anscheinend nicht zu ‚herrschenden‘ rechtsphilosophischen Doktrin“ im Nationalsozialismus geworden sei.101

Nach der „Hegelrenaissance“ der späten 1920er und frühen 1930er Jahre scheinen Literaturverweise auf Hegel auch in den Jahren nach 1933 zu einem spezifischen Comment der Rechtstheorie gehört zu haben. Alfred Manigk ging im Jahr 1938 gar von einem „Zeitalter des Neu-Hegelianismus“ aus.102 Hans Frank bezeichnete im selben Jahr Hegel als den „vielleicht größten Rechts- und Staatsphilosophen, den das deutsche Volk bisher hervorgebracht hat“103. Er bemaß diesen Status jedoch nicht an rechtsphilosophischen Inhalten, sondern zog Hegelzitate heran, die schwerlich ← 30 | 31 → als besonders typisch für Hegels Rechtsphilosophie zu deuten sind. Sie sind eher als rechtspolitische Gemeinplätze aufzufassen, die mit der Autorität Hegels untermauert werden sollten. So würdigte Frank den Ausdruck „idealistischen“ Rechts in den „gewaltigen Gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre“, wobei dem Gesetz an sich „leicht das Zufällige des Eigenwillens und anderer Besonderheit“ anhafte, „wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie sagt (§ 212)“.104 Weiterhin zog er Hegel als Garanten gegen ein reines „Fallrecht“ oder „Richterrecht“ heran und ging auf § 211 der Hegelschen Rechtsphilosophie ein, in dem sich Hegel gegen eine historisierende Betrachtung des Rechts wandte.105

Eine derartig oberflächliche Vereinnahmung Hegels mag retrospektiv zu der Annahme verleitet haben, Hegel habe tatsächlichen Einfluss auf das nationalsozialistische Rechtsdenken gehabt.106 Rottleuthner spricht jedoch in diesem Zusammenhang treffend von einer „Reduktion Hegelscher Gedanken zum bloßen Topos“, der keinerlei Klärung des Verhältnisses des Nationalsozialismus zu Hegel erlaube.107 ← 31 | 32 → Gleichwohl ist z.B. Topitsch zuzugeben, dass die autoritäre und antiliberale Hegel-Rezeption der Weimarer Republik dem geistigen Klima Vorschub leistete, in dem 1933 die nationalsozialistische „Machtergreifung“ begrüßt wurde.108 Der Impuls der neuhegelianischen Rechtsphilosophie, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Weimarer Republik zu überwinden und eine Rechtsphilosophie des nationalsozialistischen Staates zu begründen, verebbte jedoch ohne Aufnahme bei den nationalsozialistischen Machthabern und ihren Propagandisten.109

In der zu Hitlers fünfzigstem Geburtstag im Jahr 1939 erschienenen Festschrift Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe kritisierte der „NS-Hofpädagoge“110 Ernst Krieck etwa, dass „über der Philosophie der Gegenwart in der Mehrzahl der Fälle nicht so sehr die nationalsozialistische Weltanschauung in der Wegweisung [stehe], sondern das Epigonentum gegenüber Kant, Hegel, Nietzsche usw.“111 In seiner Polemik Hegel gegen das Reich aus dem Jahr 1941 versuchte Krieck nachzuweisen, dass Hegel keineswegs als Philosoph der deutschen Reichsrestauration angesehen werden könnte, sondern die „Neigung zum Franzosentum“ Hegels „erste und einzige Liebe“ gewesen sei und dass Hegel „nicht den guten Typus der Deutschen“ des 19. Jahrhunderts vertreten habe, sondern den „verhängnisvollen Gegentypus“.112

In der Diskussion um die Lehrstuhl-Nachfolge Binders im Jahr 1937 warf der Göttinger Dekan Karl Siegert, ein überzeugter Nationalsozialist, dem Kandidaten Dulckeit vor, „einseitig im Neuhegelianismus festgelegt“113 bzw. „auf Grund seines Hegelschen rechtsphilosophischen Denkens nicht in der Lage“ zu sein, „eine fruchtbare Rechtsphilosophie im Sinne unserer Weltanschauung zu gestalten“.114 Auch der Jurist Otto Koellreutter konstatierte im Jahr 1935, dass das Hegelsche Staatsdenken und das nationalsozialistische Volksdenken „weltanschauliche Gegensätze“ seien. Der Nationalsozialismus Adolf Hitlers habe mit der „Staatsvergottung Hegels“ nichts zu tun. Adolf Hitler sei „ein völkischer Denker und deshalb kein Hegelianer“.115 Weder „Hegel noch der Nationalsozialismus“ habe es nötig, dass ← 32 | 33 → Hegel zu einem „völkischen Denker“ umgedeutet werde.116 Hegels Staatsdenken wurzele in der liberalen Gedankenwelt und sei zwar Grundlage des Faschismus nicht aber des Nationalsozialismus.117

Noch weniger als die hegelkritischen nationalsozialistischen Akademiker wie Krieck, Siegert und Koellreutter konnte sich die rechts- und juristenfeindliche Führungsclique der Nationalsozialisten für Hegel erwärmen und dachte in anderen Kategorien als in Hegelschen oder neuhegelianisch geprägten „konkret-allgemeinen“ Begriffen oder in „dialektischer“ Methode.118 So lehnte NS-Chefideologe Rosenberg in seinem im Jahr 1930 zuerst veröffentlichten Hauptwerk Der Mythus des 20. Jahrhunderts die „Staatsvergottung“ Hegels ab und kritisierte Hegels Staatslehre als „gehaltloses Schema“.119 Die Tatsache, dass in dem im Jahr 1935 von Hans Frank herausgegebenen Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung zwar in Carl Schmitts Ausführungen über den Rechtsstaat120 sowie im völkerrechtlichen Teil auf Hegel zumindest stichwortartig rekurriert wurde121, nicht jedoch in dem von C. A. Emge122 und Erich Jung123 geschriebenen Teil Deutsche Rechtsphilosophie, ← 33 | 34 → kann ebenfalls als Gradmesser dafür dienen, dass die Hegelsche Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus keinesfalls auf durchweg fruchtbaren Boden fiel.

Auch die Vertreter des rechtsphilosophischen Neuhegelianismus selbst stellten nach anfänglicher großer Euphorie für die nationalsozialistische „Machtergreifung“ schon bald ihre eigene Wirkungslosigkeit auf das neue System bzw. sogar eine Missachtung durch dessen Vertreter fest. So klagte Binder im Jahr 1937 über die „Ablehnung […], die Hegel immer noch von den geistigen Führern des Nationalsozialismus erfährt“.124 Der Nationalsozialismus habe sich „schon lange vor der Machtübernahme nach geistigen Bundesgenossen umgesehen“ und sich dabei nicht an Hegel, sondern an Nietzsche orientiert. Obgleich „führende Männer des Dritten Reiches“ versuchten, „das vom Idealismus erarbeitete Gedankengut für die neue Zeit fruchtbar zu machen“, sei das vorherrschende Bild des deutschen Idealismus durch vielfältige Fehldeutungen verzerrt. Die „Revolution von 1933“ habe die Rechts- und Staatsphilosophie Hegels, „wie sie sie verstehen zu müssen glaubte, als eine Ausgeburt eines veralteten, längst erstorbenen Geistes, der ihr als der Ungeist schlechthin erschien“, bekämpft. Freilich sei diese Ablehnung Hegels durch die Nationalsozialisten „nirgends und niemals ausgesprochen worden“, doch werde ihm „diese ablehnende Haltung der Männer des dritten Reiches und vor allem seiner Jugend“ durch „ein untrügliches Gefühl für geistige Sympathien und Antipathien“ zur „nahezu untrüglichen Gewissheit“.125 Auch Dulckeit hatte im Jahr 1934 ausdrücklich auf die Schwierigkeiten der neuhegelianischen Begründung des nationalsozialistischen Staates hingewiesen und in seiner Rezension von Binders Schrift Der deutsche Volksstaat festgestellt, dass Binder zwar den Versuch unternommen habe, „den neuen Staat Hitlers vom Standpunkt seiner an Hegel anknüpfenden, d.h. dialektischen Methode philosophisch zu begreifen“, doch hielt er fest:

„Mehr als ein Versuch konnte es in gewisser Richtung auch nicht sein; denn wenn dem Verf. auch in der Dialektik das ganze Rüstzeug besten und tiefsten deutschen philosophischen Denkens zur Verfügung steht, so liegt die notwendige Begrenzung doch in der Aufgabe selbst.“126

Details

Seiten
283
ISBN (PDF)
9783653059854
ISBN (ePUB)
9783653957402
ISBN (MOBI)
9783653957396
ISBN (Paperback)
9783631668146
DOI
10.3726/978-3-653-05985-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Neuhegelianismus Nationalsozialismus Zeitgeschichte Rechtsgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 283 S.

Biographische Angaben

Jakob Schirmer (Autor:in)

Jakob Schirmer ist Rechtsanwalt. Vormals war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Georg-August-Universität Göttingen.

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Titel: Die Göttinger Hegel-Schule
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