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Die Benannte Stelle im Medizinprodukterecht

Rechtsstellung und Einbindung in die Verwaltungsstruktur sowie Amtshaftung

von Niels Tacke (Autor:in)
©2016 Dissertation 275 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor untersucht die umstrittene Rechtsstellung der deutschen Benannten Stellen im Medizinprodukterecht und geht der Frage nach, ob diese rein privatrechtlich oder hoheitlich tätig werden. Dafür diskutiert er unter anderem die Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Benannten Stellen, deren Einbindung in das Zulassungs- und Überwachungssystem sowie ihre Bedeutung im Gesundheitswesen. Es zeigt sich, dass die Benannten Stellen gegenüber den Herstellern von Medizinprodukten, insbesondere bei der Vergabe der CE-Kennzeichnung, mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen ausgestattet sind und hoheitlich handeln. Sie sind damit Beliehene. Dies führt bei einer Pflichtverletzung einer Benannten Stelle zur Anwendung der Amtshaftung, die der Autor ebenfalls erörtert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • A. PIP-Skandal; Darstellung des Falles; Zahlen und Fakten
  • B. Problemstellung und Untersuchungsgegenstand
  • 1. Kapitel: Rechtliche Grundlagen
  • A. Nationale Rechtsnormen
  • I. Medizinproduktegesetz – MPG
  • II. Verordnung über Medizinprodukte – MPV
  • III. Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung – MPSV
  • IV. Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Medizinproduktegesetzes (MPGVwV)
  • B. Europarechtliche Regelungen
  • I. 90/385/EWG über aktive implantierbare medizinische Geräte
  • II. Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte
  • III. Richtlinie 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika
  • IV. Leitlinien und Leitfäden
  • C. Zentrale Gesetzesbegriffe
  • I. Definition des Begriffes „Medizinprodukt“
  • 1. Abgrenzung AMG und MPG
  • 2. Abgrenzung zu Kosmetika
  • II. Aktive implantierbare medizinische Geräte
  • III. In-vitro-Diagnostika
  • IV. Definition des Begriffes „Hersteller“
  • V. Herstellerverantwortlichkeit
  • VI. Definition des Begriffes „Benannte Stelle“
  • 2. Kapitel: Zertifizierung und Akkreditierung
  • A. Konformitätsbewertung
  • I. Grundzüge des Verfahrens zur Konformitätsbewertung
  • II. Das Modulsystem des Konformitätsbewertungsverfahrens
  • III. Die einzelnen Module
  • 1. Interne Fertigungskontrolle (Modul A)
  • 2. EG-Baumusterprüfung (Modul B)
  • 3. Konformität mit der Bauart (Modul C)
  • 4. Qualitätssicherungssysteme (Module D, E und F)
  • 5. Qualitätssicherung Produktionsprozess (Modul D)
  • 6. Qualitätssicherung Produkt (Modul E)
  • 7. Prüfung der Produkte (Modul F)
  • 8. Einzelprüfung (Modul G)
  • 9. Umfassende Qualitätssicherung (Modul H)
  • IV. Konformitätsbewertung von Medizinprodukten, aktiven implantierbaren medizinischen Geräten und In-vitro-Diagnostika
  • 1. Klassifizierung
  • a) Bedeutung der Klassifizierung
  • b) Klassifizierungskriterien
  • 2. Einteilung und Klassifizierung von Medizinprodukten
  • a) Medizinprodukte
  • b) Aktive implantierbare medizinische Geräte
  • c) In-vitro-Diagnostika
  • V. Zusammenfassung
  • VI. Die CE-Kennzeichnung
  • 1. Allgemein
  • 2. Aussagekraft der CE-Kennzeichnung
  • 3. Straf- und Bußgeldvorschriften
  • VII. Zwischenfazit für die rechtliche Einordnung Benannter Stellen
  • B. Die Akkreditierung
  • I. Entwicklung der Akkreditierung
  • II. Voraussetzungen für eine Akkreditierung
  • III. Akkreditierung in Deutschland
  • IV. Aktuelle Entwicklungen
  • V. Rechtsnatur der Benennung und Rechtsschutz
  • 3. Kapitel: Rechtliche Qualifizierung der Tätigkeiten der Benannten Stellen und der Benannten Stellen als solche
  • A. Mögliche anwendbare Rechtsinstitute
  • I. Rechtsform der Benannten Stellen
  • II. Beliehener
  • 1. Die modifizierte Aufgabentheorie
  • 2. Die Rechtsstellungstheorie
  • 3. Zusammenfassung
  • 4. Kritik an der Rechtsstellungstheorie
  • 5. Sinn und Zweck einer Beleihung
  • 6. Voraussetzungen einer Beleihung
  • 7. Die Rechtsfolgen einer Beleihung
  • III. Stärkung privater Eigenverantwortung
  • 1. Privatisierung und deren Erscheinungsformen
  • 2. Formen der staatlich veranlassten gesellschaftlichen Selbstregulierung
  • a) Betriebsbeauftragte im Umweltschutz
  • b) ECO-Management und Audit Scheme (EMAS)
  • c) Geräte- und Produktsicherheitsgesetz
  • d) Fazit
  • 3. Ergebnis
  • IV. Verwaltungshelfer
  • 1. Begriff des Verwaltungshelfers
  • 2. Abgrenzung zur Beleihung
  • 3. Fazit
  • B. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben und nationale rechtliche Ausgestaltung
  • I. Europarecht
  • II. Fazit
  • III. Nationale rechtliche Ausgestaltung
  • 1. MPG
  • 2. § 18 Abs. 1 MPG
  • a) § 18 Abs. 2
  • b) Rechtsweg gegen Maßnahmen Benannter Stellen
  • (i) Verwaltungsrechtsweg
  • (ii) Zivilrechtsweg
  • (iii) Zwei-Stufen-Theorie
  • c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
  • (i) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im öffentlichen Recht
  • (ii) Die Verhältnismäßigkeit im Privatrecht
  • (iii) Ergebnis
  • 3. Preisbindung für Konformitätsbewertungen und Finanzierung der Benannten Stellen
  • 4. Zusammenfassung
  • 5. Haftpflichtversicherung, Regress und Haftungsausschluss
  • 6. Fazit
  • 7. Vertragliche Rechtsbeziehungen zu den Herstellern
  • IV. Gesamtergebnis
  • V. Gesetzesbegründung zum MPG
  • 1. Begründung zu einem Gesetzesentwurf über den Verkehr mit Medizinprodukten vom 08. März 1994
  • 2. Begründung zum Entwurf zum zweiten Gesetz zur Änderung des Medizinproduktegesetzes vom 15. Juni 2001
  • VI. Fazit
  • C. Die Überwachung Benannter Stellen
  • I. Die Kontrollinstrumentarien des § 15 Abs. 2 MPG
  • II. Das Kontrollinstrumentarium des § 16 Abs. 2 MPG
  • III. Überwachung durch „Dritte“
  • IV. Rechtsfolgen eines Widerrufs oder Einschränkung der Benennung
  • V. Schlüsse für eine rechtliche Einordnung der Benannten Stellen
  • D. Befugnisse Benannter Stellen im Rahmen der Zertifizierung
  • I. Die Zertifizierung selbst
  • II. Einschränkung, Aussetzung und Zurückziehung
  • III. Weitere Befugnisse
  • IV. Fazit
  • E. Transnationale Aufgabenwahrnehmung und Befugnisse
  • I. Gebietshoheit von Drittstaaten
  • 1. Tätigkeit der Benannten Stellen innerhalb Deutschlands
  • 2. Modifikation der Souveränität
  • 3. Das Anerkennungsprinzip
  • 4. Wirkungsbezogene transnationale Verwaltungsakte
  • 5. Die Möglichkeit extraterritorialer Zertifizierungen, Besichtigungen und Audits als transnationale Verwaltungsakte (adressaten- und behördenbezogene Transnationalität)
  • 6. Physische Grenzüberschreitung
  • 7. Konformitätsbewertung im europäischen Ausland
  • II. Fazit
  • F. Marktaufsicht
  • I. Die Schutzklausel
  • II. Das Schutzklauselverfahren
  • III. Zusammenfassung
  • IV. Koordinations- und Informationsmechanismen
  • V. Risikomanagement
  • 1. Das Risiko
  • a) Risikoermittlung und Risikobewertung
  • b) Informationsgewinnung
  • c) Risikobewertung
  • 2. Korrektive Maßnahmen
  • 3. Zuständigkeit
  • 4. Zentralnorm des § 26 MPG
  • 5. Befugnisnormen
  • 6. Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des MPG (MPGVwV)
  • 7. Aktuelle Entwicklungen
  • 8. Fazit
  • VI. Abgrenzung/Einbindung der Benannten Stellen in die Marktaufsicht und Überwachung
  • VII. Fazit für die rechtliche Einordnung der Benannten Stellen
  • G. Expertise der Rechtsprechung
  • I. Staatlicher Einfluss auf das Handeln des Privaten
  • II. Zusammenhang mit behördlicher Entscheidung
  • III. Freiwilligkeit der Einschaltung
  • IV. Zusammenfassung
  • H. (Volks-)gesundheit als öffentliche Aufgabe und/oder (obligatorische) staatliche Aufgabe
  • I. Öffentliche Aufgaben
  • II. Staatliche Aufgaben
  • III. Abgrenzung staatlicher und öffentlicher Aufgabe
  • IV. Obligatorische Staatsaufgaben
  • 1. Verfassungsrechtliche Pflichten
  • a) Gesundheit als Grundrecht?
  • b) Schutzpflichten
  • c) Leistungspflichten
  • d) Zusammenfassung
  • 2. Ergebnis
  • V. Das Medizinprodukterecht als besonders sensibler Bereich
  • VI. Verfassungsrechtliche Bindung der Benannten Stellen
  • I. Öffentlich-rechtlich organisierte Benannte Stellen
  • J. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
  • 4. Kapitel: Amtshaftung bei Pflichtverletzungen der Benannten Stellen
  • A. Haftung bei Amtspflichtverletzungen gemäß § 839 Abs.1 BGB i.V.m. Art. 34 GG
  • I. Voraussetzungen der Amtshaftung gemäß § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG
  • 1. Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes
  • 2. Verletzung von Amtspflichten
  • 3. Amtspflichtverletzungen Benannter Stellen
  • a) Unrechtmäßige Verweigerung der Zertifizierung
  • b) Pflichtwidriges Handeln nach § 18 MPG
  • (i) Verletzung der Anhörungspflicht nach § 18 Abs. 2 MPG
  • (ii) Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach § 18 Abs. 1 MPG
  • (iii) Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 MPG
  • (iv) Zwischenfazit
  • c) Amtspflicht zur Verweigerung einer Zertifizierung, zu Maßnahmen nach § 18 MPG und zur Überwachung
  • (i) Pflicht zur Verweigerung der CE-Kenneichnung
  • (ii) Pflicht zur Überwachung und Maßnahmen nach § 18 MPG
  • d) Zusammenfassung
  • 4. Der Schutzzweck der Amtspflichten
  • a) Drittbezogenheit der Amtspflicht
  • (i) Drittbezogenheit gegenüber Herstellern
  • (ii) Drittbezogenheit gegenüber Patienten
  • (iii) Schutzzweck der Konformitätsbewertung
  • (iv) Aussagekraft der CE-Kennzeichnung
  • (v) Das CE-Kennzeichen als Gütesiegel oder Qualitätszeichen?
  • b) Ergebnis
  • 5. Verschulden des Amtsträgers
  • 6. Rechtswidrigkeit
  • 7. Kausalität, Mitverschulden, Schaden und Entschädigung
  • a) Allgemein
  • b) Kausalität, Zurechnung des Schadens
  • (i) Bestimmung der pflichtgemäßen Maßnahme beziehungsweise Entscheidung
  • (ii) Unterlassung oder Verzögerung der pflichtgemäßen Maßnahme beziehungsweise Entscheidung
  • c) Schadensersatz
  • (i) Personenschaden
  • (ii) Gesundheitsschaden (Heilungs-, Behandlungs- und Pflegekosten)
  • (iii) Schmerzensgeld
  • (iv) Entgangener Gewinn, Verdienstausfall
  • (v) Schadensminderungspflicht
  • (vi) Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden (§ 52 Abs. 2 SGB V)
  • 8. Haftende Körperschaft
  • II. Haftungsausschlüsse und -beschränkungen
  • 1. Fehlen anderweitiger Ersatzmöglichkeiten (Verweisungsprivileg, Subsidiarität)
  • a) Anforderungen an die „anderweitige Ersatzmöglichkeit“
  • b) Darlegungs- und Beweislast
  • c) Entfallen des Verweisungsprivilegs
  • d) Schadensabwendung durch Gebrauch eines Rechtsmittels
  • 2. Regress des Staates gegen den Amtsträger
  • 3. Sondergesetzliche Haftungsausschlüsse und -beschränkungen
  • 4. § 7 Abs. 1 RBHaftG
  • 5. Fazit
  • B. Gesamtergebnis und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

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Einführung

A.  PIP-Skandal; Darstellung des Falles; Zahlen und Fakten

Diese Untersuchung beschäftigt sich mit dem Thema „Die Benannte Stelle im Medizinprodukterecht – Rechtsstellung und Einbindung in die Verwaltungsstruktur sowie Amtshaftung“. Anstoß zur Beschäftigung mit diesem Thema gab der Ende 2010 ans Licht gekommene sogenannte „PIP-Skandal“. Die Firma Poly Implant Prothèse (PIP) war ein 1991 in Frankreich gegründetes Unternehmen, welches sich auf die Herstellung von inneren Brustprothesen (Brustimplantaten) spezialisiert hatte. Bereits Mitte der Neunzigerjahre war die Firma PIP eine der drei größten Hersteller von Brustimplantate weltweit. Seit 2001 war die Firma einer der Marktführer im Bereich von Silikonimplantaten. In den Jahren von 2000 bis 2009 gab es immer wieder Meldungen über Rupturen in den von PIP hergestellten Brustimplantaten. Im März 2010 stellte die französische Agentur für Gesundheitssicherung von Gesundheitsprodukten, Agence francaise de securite sanitaire des produits de sante (AFSSAPS), bei einer Begehung der Firma PIP erhebliche Mängel fest.1

Es hatte sich herausgestellt, dass die Firma PIP bei der Herstellung von Silikonimplantaten billiges Industriesilikon verwendete, dessen industrielle Inhaltsstoffe für den menschlichen Körper schädigend sein können und somit das implantierte Material als Medizinprodukt ungeeignet ist. Es war nicht auszuschließen, dass der konkrete Inhaltsstoff im Falle von Rupturen schwere Gesundheitsschäden hervorrufen könne und möglicherweise sogar Krebs erregend sei. Daraufhin untersagte die AFSSAPS unverzüglich die Verwendung von PIP-Implantaten europaweit.2 Auf Grund von weiteren Informationen des französischen Gesundheitsministeriums, die am 23.12.2011 veröffentlicht worden waren, riet im Januar 2012 das Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfArM) den in Deutschland betroffenen Patientinnen, die vermeintlich schädlichen Silikon- Implantate entfernen zu lassen.3

Dieser Sachverhalt ist schon aufgrund seines Ausmaßes von großem Interesse. Man geht davon aus, dass 400.000 bis 500.000 dieser minderwertigen Brustimplantate ← 15 | 16 → von der Firma PIP weltweit verkauft und auch von Ärzten implantiert wurden.4 In Deutschland sind nach Schätzungen von Experten fast 10.000 Frauen solche minderwertigen Implantate eingesetzt worden.5

Aus rechtlicher Sicht ist der Sachverhalt insbesondere in Deutschland von besonderem Interesse. Die mangelhaften Silikonimplantate der Firma PIP wurden nämlich durch den TÜV Rheinland LGA Products GmbH (TÜV Rheinland) als sogenannte „Benannte Stelle“ für Medizinprodukte zertifiziert. Eine solche Zertifizierung ist für bestimmte Medizinprodukte, wie zum Beispiel Brustimplantate, verpflichtend, um diese in Europa überhaupt in den Verkehr bringen zu dürfen.6 Im Jahre 1997 beauftragte die Firma PIP den TÜV Rheinland damit, ihre Silikonimplantate zu zertifizieren.7 Der TÜV Rheinland führte daraufhin das nach der Medizinprodukterichtlinie notwendige Konformitätsbewertungsverfahren durch. In einem solchen Verfahren prüft eine Benannte Stelle, ob alle gesetzlichen Anforderungen an das Medizinprodukt erfüllt sind und alle technischen Standards beachtet werden. Endet ein solches Verfahren mit einer positiven Bewertung, wird dem Hersteller des Medizinprodukts die Anbringung des CE-Kennzeichens an das Produkt erlaubt. Damit wird kenntlich gemacht, dass dieses Produkt die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, also die notwendigen Sicherheits- und Qualitätsstandards wahrt. Die CE-Kennzeichnung stellt somit quasi den „Warenpass“ zum freien Vertrieb in der EU dar. Erst mit der CE-Kennzeichnung darf ein Medizinprodukt auf dem europäischen Markt verkauft werden.

Inzwischen sind die ersten Klagen deutscher Patientinnen, denen die mangelhaften Silikonimplantate eingesetzt worden waren, bei deutschen Gerichten eingegangen und bis zum Bundesgerichtshof vorgedrungen, der jedoch am 09. April 2015 in einem Beschluss zunächst entschied, drei Fragen im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.8 Alle durch den PIP-Skandal betroffenen und klagenden Patientinnen begehren Schmerzensgeld und Schadensersatz in einer Größenordnung von 20.000 bis 30.000 €. Dabei ist als primärer Anspruchsgegner natürlich an den Hersteller der Implantate zu denken. Im konkreten Fall ist dieser inzwischen insolvent. Dies hat zur Folge, dass die Klägerinnen nunmehr Schmerzensgeld und Schadensersatz von der Benannten Stelle, ← 16 | 17 → in diesem Falle dem TÜV Rheinland, fordern. Hilfsweise wollen die Klägerinnen die Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen, weil das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Warnhinweisen nicht rechtzeitig nachgegangen sein soll.9 Dies sind natürlich Tatsachenfragen, die des Beweises bedürfen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, ob nicht die Bundesrepublik Deutschland im Wege der Amtshaftung ohnehin in Anspruch zu nehmen ist und sich ein mögliches Verschulden des TÜV Rheinland zurechnen lassen muss. Dies hängt insbesondere davon ab, wie die Stellung der Benannten Stellen im Rechtssystem zu beurteilen ist. Die Frage, die sich im Medizinprodukterecht schon länger stellt, jedoch bis heute nicht abschließend geklärt wurde, ist, ob die Benannte Stelle gegenüber den Herstellern von Medizinprodukten in einem rein privatrechtlichen Verhältnis steht oder ob die Benannte Stelle hoheitliche Tätigkeiten wahrnimmt. Es ist damit auch nicht eindeutig, ob die Benannte Stelle ein Beliehener oder ein Verwaltungshelfer ist oder ob man es mit einer sogenannten „Stärkung der privaten Eigenverantwortung“10 zu tun hat. Diese Fragestellungen sind maßgeblich für das Problem der Haftung. Das OLG Zweibrücken, welches sich als erstes Oberlandesgericht mit einer Berufung gegen ein Landgerichtsurteil in einem Rechtsstreit über die Haftung des TÜV für fehlerhafte Silikonimplantate zu beschäftigen hatte, äußerte sich in dieser doch strittigen Frage nur lapidar mit einem Hinweis auf die Literatur gegen ein hoheitliches Handeln, beschäftige sich jedoch nicht mit der Gegenauffassung.11 In der Literatur wird diese Frage seit jeher diskutiert.12 Es gibt also Grund genug, sich mit diesen Fragen eingehend zu beschäftigen, was in dieser Arbeit erfolgt.

Gerade am Wirtschaftsstandort Deutschland ist der Bereich der Medizintechnik mit einem weltweiten Umsatz von ca. 220 Milliarden Euro ein großer ← 17 | 18 → Wirtschaftssektor.13 Im Jahre 2012 lag der Umsatz der deutschen Medizinprodukteunternehmen bei ca. 22 Milliarden Euro.14 Die Branche beschäftigt etwa 175.000 Personen.15 Deutschland ist weltweit nach den USA und Japan der drittgrößte Markt für Medizinprodukte; als Produktionsstandort steht Deutschland ebenfalls an dritter Stelle.16 Die haftungsrechtliche Frage ist in diesem Bereich besonders bedeutend, da die Branche stark durch den Mittelstand geprägt ist: Rund 95 % der medizintechnischen Unternehmen haben weniger als 250 Beschäftigte.17 Es sind also weitere Fälle denkbar, in denen der Hersteller medizinischer Produkte auf Grund seiner begrenzten finanziellen Mittel bei Auftreten eines Haftungsfalles, wie im Beispiel der PIP-Brustimplantate, Insolvenz anmelden muss und die mit den Medizinprodukten behandelten Personen mögliche Schadensersatzansprüche nicht durchsetzen können.

B.  Problemstellung und Untersuchungsgegenstand

Diese Arbeit soll sich nicht auf den Einzelfall der PIP-Brustimplantate beschränken, sondern es soll auf die bereits angesprochenen Fragestellungen im allgemeinen Bereich der Medizinprodukte eingegangen werden, wobei der PIP-Skandal an einigen Punkten jedoch als hilfreiches Beispiel dient. Diese Dissertation soll Licht ins Dunkel bringen, wie die Implementierung privaten Sachverstands der Benannten Stelle in die bestehenden deutschen Verwaltungsstrukturen rechtlich einzuordnen ist. Sie beschränkt sich dabei jedoch auf den Bereich des Medizinprodukterechts. Benannte Stellen finden sich auch in anderen Rechtsbereichen,18 jedoch sind deren Aufgaben, Befugnisse und Ausgestaltung zumeist unterschiedlich und können damit nicht verallgemeinert werden. ← 18 | 19 →

Die Benannten Stellen sind im Bereich des Medizinprodukterechts zum einen im Bereich der Überprüfung technischer Standards eingebunden und nehmen des Weiteren auch Aufgaben im Bereich der Überwachung wahr. Diese aus Gemeinschaftsrecht gewachsene Struktur stellt die Rechtswissenschaft vor große Herausforderungen. Die Rechtsnatur der Aktivitäten der Benannten Stellen ist bis heute unklar. Sind sie als Privatrechtssubjekte zu sehen, welche auch privatrechtlich handeln, oder nehmen sie hoheitliche Aufgaben wahr und sind damit öffentlich-rechtlich tätig? Möglicherweise können sie auch keinem der beiden rechtlichen Einordnungen eindeutig zugewiesen werden und es bedarf eines rechtlichen Kompromisses. Dies gilt es zunächst zu klären. Welche Rechtsnatur den Tätigkeiten Benannter Stellen zukommt, hat weitreichende Auswirkungen. Bei einer privatrechtlichen Tätigkeit würden sich die Rechtsbeziehungen zwischen Hersteller und Benannter Stelle nach den Vorschriften des Werk- oder Dienstvertragsrechts des BGB richten. Damit wäre dann auch eine mögliche Haftung der Benannten Stelle nach diesen Vorschriften zu beurteilen. In diesem Falle müsste bei Streitigkeiten der Zivilrechtsweg beschritten werden. Außerdem könnte eine falsche Entscheidung der Benannten Stelle (zum Beispiel die Klassifizierung eines Produkts als Medizinprodukt, obwohl es sich tatsächlich um ein Arzneimittel handelt) durch andere Wettbewerber des Herstellers jederzeit rechtlich angegriffen werden, weil eine solche Entscheidung nicht in Bestandskraft erwachsen würde.19 Qualifiziert man hingegen die Tätigkeit der Benannten Stelle als eine öffentlich-rechtliche, so würde sich das Verfahren nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) bestimmen. Die Bundesrepublik Deutschland könnte nach den Grundsätzen des Staatshaftungsrechts für Fehler der Benannten Stellen in Anspruch genommen werden. Zudem könnten Entscheidungen der Benannten Stelle in Bestandskraft erwachsen.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der rechtlichen Einordnung der Benannten Stellen und im Zuge dessen mit deren Einbindung in die Verwaltungsstruktur. Da sich zeigen wird, dass die Benannten Stellen im Medizinprodukterecht hoheitliche Tätigkeiten gegenüber den Herstellern ausüben und somit Beliehene sind, wird im Anschluss auf die besondere Folge dieses Ergebnisses, nämlich die Amtshaftung eingegangen. ← 19 | 20 →


1 Sachstandsbericht zu den Kontrollen der Gesundheitsbehörden bei dem Unternehmen Poly Implant Prothèse, unter anderem abrufbar im Internet unter: http://www.bfarm.de/SharedDocs/1_Downloads/DE/Medizinprodukte/riskinfo/empf/PIP_Uebersetzung_afssaps-Bericht.pdf?__blob=publicationFile (aufgerufen am 30.07.2013).

2 Pressemitteilung 04/10 des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte abrufbar im Internet unter: http://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/mitteil2010/pm04-2010.html (aufgerufen am 24.03.2015).

3 Pressemitteilung 01/12 des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte abrufbar im Internet unter: http://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/mitteil2012/pm01-2012.html (aufgerufen am 24.03.2015).

4 Süddeutsche Zeitung Online am 27.01.2012, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/panorama/PIP-gruender-im-visier-der-justiz-undurchschaubar-und-uneinsichtig-1.1268405 (aufgerufen am 24.03.2015).

5 Aerzteblatt.de am 12.01.2012, abrufbar im Internet unter: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/48722/Weniger-als-10-000-deutsche-Frauen-von-fehlerhaften-Brustimplantaten-betroffen (aufgerufen am 24.03.2015).

6 § 6 Abs. 1 Medizinproduktegesetz.

7 Website des TÜV Rheinland, abrufbar im Internet unter: http://www.tuv.com/de/deutschland/ueber_uns/presse/hintergrundinformation.html (aufgerufen am 24.03.2015).

8 Vorlage des BGH an den EuGH: BGH, Beschluss vom 09.04.2015, VII ZR 36/14 = BeckRS 2015, 08717.

9 Spiegel Online Panorama 2012, abrufbar im Internet unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/prozess-um-brustimplantate-gericht-beauftragt-einen-gutachter-a-870165.html (aufgerufen am 20.03.2015).

10 Vgl. zu diesem Begriff ausführlich 3. Kapitel A. III.

11 OLG Zweibrücken, GesR 2014, S. 163, 165.

12 Vgl. für ein hoheitliches Tätigwerden der Benannten Stellen nach dem MPG Scheel, DVBl. 1999, S 442, 448; von Czettritz, in: Anhalt/Dieners, Hdb. des Medizinprodukterechts, § 15, Rn. 8 f.; ders., PharmaR 2002, S. 321, 322; ders./Strelow, in: Meier/von Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, Teil 3, § 5, Rn. 126 und § 6, Rn 57 ff.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 1, Rn. 256; a.A. Ratzel, in: Deutsch/Ratzel/Lippert/Tag, MPG, § 3, Rn. 22, wobei dieser auch betont, dass es einem schwer fällt die Tätigkeiten als rein privatrechtlich zu qualifizieren; ebenso Deutsch, in: Deutsch/Ratzel/Lippert/Tag, MPG, § 15, Rn. 3, der dieses Ergebnis als „erstaunlich“ bezeichnet; Rehmann, in: Rehmannn/Wagner, MPG, Einf., Rn. 31, § 3, Rn. 26; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 881 und 2071; Lücker, in: Spickhoff, § 18 MPG, Rn. 1; Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, S. 26; Merten, DVBl. 2004, S. 1211 ff.; ders., Private Entscheidungsträger, S. 134 ff.; Kage, Das Medizinproduktegesetz, S. 185 ff.; Hiltl, PharmaR, 1997, S. 408, 411.

13 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar im Internet unter: http://www.bmg.bund.de/gesundheitssystem/medizinprodukte/definition-und-wirtschaftliche-bedeutung.html (aufgerufen am 01.10.2014).

14 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar im Internet unter: http://www.bmg.bund.de/gesundheitssystem/medizinprodukte/definition-und-wirtschaftliche-bedeutung.html (aufgerufen am 01.10.2014).

15 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar im Internet unter: http://www.bmg.bund.de/gesundheitssystem/medizinprodukte/definition-und-wirtschaftliche-bedeutung.html (aufgerufen am 01.10.2014); Webel, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, Kap. 7, Vorb., Rn. 1.

16 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar im Internet unter: http://www.bmg.bund.de/gesundheitssystem/medizinprodukte/definition-und-wirtschaftliche-bedeutung.html (aufgerufen am 01.10.2014).

17 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar im Internet unter: http://www.bmg.bund.de/gesundheitssystem/medizinprodukte/definition-und-wirtschaftliche-bedeutung.html (aufgerufen am 01.10.2014).

18 Siehe dazu im 1. Kapitel C. VI.

19 OLG München, ZLR 2001, S. 614.

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1.  Kapitel: Rechtliche Grundlagen

Im Folgenden soll vorab kurz dargestellt werden, welche Rechtsnormen und Regelungen zur Bearbeitung des Themas aus dem Bereich des Medizinprodukterechts insbesondere einzubeziehen sind und wie diese zueinander in Beziehung stehen. Die folgenden internationalen und nationalen Regelungen bilden den Rahmen für das Handeln der Benannten Stellen und dafür, dass diese gar erst existieren. Damit soll jedoch nicht angedeutet werden, dass diese Aufzählung von Rechtsnormen abschließend ist, um die Benannten Stellen rechtlich einzuordnen. Hierfür werden insbesondere auch Normen aus dem Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht und anderen Rechtsbereichen heranzuziehen sein. Wo immer weitere Normen zum Tragen kommen, wird auf diese an jeweiliger Stelle näher eingegangen werden.

Das Medizinprodukterecht und insbesondere das Medizinproduktegesetz (MPG) regeln nicht nur den Umgang mit Medizinprodukten, sondern behandeln auch die Bereiche der aktiven implantierbaren medizinischen Geräte und In-vitro-Diagnostika.20 Auch wenn die Benannten Stellen es in den meisten Fällen mit der Zertifizierung von Medizinprodukten zu tun haben, so soll diese Arbeit am Rande auch die Tätigkeiten der Benannten Stellen bei aktiven implantierbaren medizinischen Geräte und In-vitro-Diagnostika behandeln. Dies geschieht zunächst einmal der Vollständigkeit halber, da Medizinprodukte, aktive implantierbare medizinische Geräte und In-vitro-Diagnostika gemeinsam den großen Bereich „medizinischer Konsumgüter“ darstellen, bei dem es sinnvoll ist, diese drei Teilbereiche gemeinsam zu behandeln und auch, soweit möglich, für alle ein gemeinsames Ergebnis zu finden. Die Benannten Stellen zertifizieren sowohl im Bereich der Medizinprodukte als auch in den Bereichen der aktiven implantierbaren medizinischen Geräte und In-vitro-Diagnostika, wobei die Verfahren und die Aufgaben und Befugnisse der Benannten Stellen sich weitestgehend decken. Zudem lassen sich nicht nur in der Rechtsetzung zu Medizinprodukten, sondern auch in der Normsetzung zu aktiven implantierbaren medizinischen Geräte und In-vitro-Diagnostika Anhaltspunkte und Argumente für eine rechtliche Einordnung der Benannten Stellen finden. Darüber hinaus spricht das deutsche Recht im Medizinproduktegesetz (MPG) und in der Medizinprodukteverordnung (MPV), im Unterschied zur Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Teilbereiche in den Richtlinien – alle drei Bereiche wurden durch einzelne Richtlinien geregelt – einheitlich von Medizinprodukten.21 Daher ist es jedenfalls in Deutschland kaum möglich und auch nicht sinnvoll, diese Bereiche ← 21 | 22 → strikt zu trennen, sondern sich, wie der Gesetzgeber auch, ihnen in ihrer Gesamtheit zu widmen und sie gemeinsam zu behandeln.

Details

Seiten
275
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653069778
ISBN (ePUB)
9783653957525
ISBN (MOBI)
9783653957518
ISBN (Paperback)
9783631675458
DOI
10.3726/978-3-653-06977-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
. PIP-Skandal Konformitätsbewertung Beliehener CE-Kennzeichnung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 275 S.

Biographische Angaben

Niels Tacke (Autor:in)

Niels Tacke ist zugelassener Rechtsanwalt in München. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau und der Monash University in Melbourne.

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Titel: Die Benannte Stelle im Medizinprodukterecht
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