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Altersdiskriminierung im Versicherungsprivatrecht?

Über die Berücksichtigung des Alters als Risikomerkmal in der Privatversicherung

von Joachim Frhr. von Wrangel (Autor:in)
©2016 Dissertation 250 Seiten

Zusammenfassung

Die Entscheidung des EuGH zu den Unisex-Tarifen im Versicherungsprivatrecht im März 2011 hat für viel Aufsehen gesorgt. Das Buch behandelt unter dem Blickwinkel des EuGH-Urteils das Risiko- und Diskriminierungsmerkmal «Alter» im deutschen Recht. Dabei spielen die europäischen Diskriminierungsrichtlinien und deren deutsche Umsetzung in § 20 AGG eine zentrale Rolle. Der Autor stellt die Frage, ob die derzeitige Fassung von § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG mit europäischem Recht vereinbar ist. Er untersucht, ob mit einem dem Unisex-Urteil ähnlichen Urteil des EuGH hinsichtlich des Merkmals «Alter» zu rechnen und damit der Weg für Uniage-Tarife vorprogrammiert ist. Hierbei betrachtet er verschiedene Privatversicherungen und kommt zu einem innovativen Ergebnis.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung, Gegenstand der Untersuchung
  • § 2 Das Diskriminierungsmerkmal Alter
  • A. Vorbemerkung
  • B. Das Diskriminierungsmerkmal Alter im Europarecht
  • I. Die politische Dimension
  • II. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
  • 1. Art. 19 AEUV
  • a) Tatbestand
  • b) Rechtsnatur von Art. 19 Abs. 1 AEUV
  • c) Ausgestaltung der Kompetenznorm
  • d) Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 AEUV
  • e) Zwischenergebnis
  • 2. Art. 10 AEUV
  • III. Europäische Grundrechte-Charta
  • 1. Historischer Hintergrund
  • 2. Rechtliche Einordnung der Grundrechte-Charta
  • 3. Art. 21 Abs. 1 GRCh
  • a) Systematik und Wortlaut
  • b) Regelungsinhalt
  • i. Subjektives Recht
  • ii. Tatbestand
  • iii. Rechtfertigung
  • c) Zwischenergebnis
  • 4. Art. 25 GRCh
  • IV. Richtlinie 2000/78/EG
  • V. Rechtsprechung des EuGH
  • 1. Rechtssache „Mangold“
  • 2. Weitere Entscheidungen
  • VI. Verhältnis der GRCh zur Rechtsprechung des EuGH
  • VII. Zwischenergebnis
  • C. Das Diskriminierungsmerkmal Alter im nationalen Recht
  • I. Kodifiziertes Recht
  • 1. Grundgesetz
  • 2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
  • 3. Sonstiges einfaches Bundesrecht
  • II. Rechtsprechung der deutschen Gerichtsbarkeit
  • III. Zwischenergebnis
  • D. Das Diskriminierungsmerkmal Alter in völkerrechtlichen Verträgen
  • E. Fazit
  • § 3 Rechtsphilosophische Grundlagen des Diskriminierungsrechts
  • A. Der Begriff der Diskriminierung
  • I. Semantischer Ursprung des Begriffs
  • II. Umgangssprachliche Verwendung des Begriffs
  • III. Juristische Verwendung des Begriffs
  • IV. Zwischenergebnis
  • B. Der Begriff der Gleichheit
  • I. Problemaufriss
  • II. Gleichheit und Menschenwürde
  • III. Gleichheit und Freiheit
  • IV. Gleichheit und Gerechtigkeit
  • C. Rechtsphilosophische Grundlagen des Begriffs Diskriminierung
  • I. Antike
  • 1. Von Protagoras bis Aristoteles
  • 2. Übertragung des aristotelischen Gleichheitskonzepts auf die Thematik der Arbeit
  • II. Naturrecht
  • 1. Vom stoischen zum rationalistischen Naturrecht
  • 2. Übertragung der naturrechtlichen Ansichten auf die Thematik der Arbeit
  • III. Immanuel Kant
  • 1. Widerlegung der naturrechtlichen Ansätze
  • 2. Der kategorische Imperativ
  • 3. Übertragung des kategorischen Imperativs auf die Thematik der Arbeit
  • D. Ansichten der neueren Philosophie
  • I. John Rawls
  • 1. Theorie der Gerechtigkeit
  • 2. Übertragung der Theorie der Gerechtigkeit auf die Thematik der Arbeit
  • II. Ronald Dworkin
  • 1. Inselsituation als Gedankenexperiment
  • 2. Übertragung der Inselsituation auf die Thematik der Arbeit
  • III. Ernst Tugendhat
  • 1. Differenzierung nach primärer und sekundärer Diskriminierung
  • 2. Übertragung des Differenzierungsmodells auf die Thematik der Arbeit
  • IV. Prinzip eines Non-Egalitarismus
  • 1. Etablierung eines absoluten Verteilungsmaßstabes
  • 2. Übertragung des Non-Egalitarismus auf die Thematik der Arbeit
  • E. Fazit
  • § 4 Privatversicherungen
  • A. Begriff
  • B. Die (Brutto-)Prämie
  • I. Segmente bzw. Kostenanteile der Prämie
  • II. Zwischenergebnis
  • C. Die allgemeine Prämienberechnung
  • I. Grundlagen
  • II. Individuelle Berechnung bei Privatversicherungen
  • 1. Verwendung von Risiko- und Diskriminierungsmerkmalen
  • 2. Individuelles Äquivalenzprinzip
  • III. Berechnung der Prämiensegmente
  • 1. Nettorisikoprämie
  • 2. Sicherheitszuschlag
  • 3. Verwaltungskostenbeitrag
  • 4. Gewinnmarge
  • 5. Zwischenergebnis
  • IV. Risikomerkmale
  • 1. Bestimmung der Risikomerkmale
  • 2. Relatives Verhältnis der Risikomerkmale zueinander
  • 3. Einteilung in Risikogruppen
  • D. Ausgewählte Beispiele
  • I. Kfz-Haftpflichtversicherung
  • 1. Begriff und Bedeutung
  • 2. Prämienberechnung
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Berufsunfähigkeitsversicherung
  • 1. Begriff und Bedeutung
  • 2. Prämienberechnung
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Private Unfallversicherung
  • 1. Begriff und Bedeutung
  • 2. Prämienberechnung
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Private Krankenversicherung
  • 1. Begriff und Bedeutung
  • 2. Prämienberechnung
  • 3. Zwischenergebnis
  • V. Lebensversicherung
  • 1. Begriff und Bedeutung
  • 2. Prämienberechnung
  • 3. Zwischenergebnis
  • E. Fazit
  • § 5 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
  • A. Historische Grundlagen
  • B. Kompetenztitel
  • C. Europäische Vorgaben
  • I. Richtlinie 2000/43/EG
  • II. Richtlinie 2000/78/EG
  • III. Richtlinie 2002/73/EG
  • IV. Richtlinie 2004/113/EG
  • D. Umsetzung
  • I. Überblick
  • II. Deutsche Umsetzung der zivilrechtlichen Vorgaben
  • 1. Vorgaben der Antirassismus-RL
  • 2. Vorgaben der Gender-RL
  • 3. Überschießende Umsetzung
  • E. Fazit
  • § 6 Das AGG im Hinblick auf Privatversicherungen
  • A. § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG
  • I. Tatbestand
  • II. Zwischenergebnis
  • B. § 19 AGG
  • I. Grundstruktur
  • II. Erfasste Schuldverhältnisse
  • 1. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG
  • 2. § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG
  • III. Erfasste Vertragsstadien
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. § 20 AGG
  • I. Grundstruktur
  • II. § 20 Abs. 1 AGG
  • III. § 20 Abs. 2 AGG
  • 1. Ursprüngliche Konzeption
  • 2. § 20 Abs. 2 S. 1 AGG a.F.
  • 3. § 20 Abs. 2 S. 3 AGG a.F. bzw. § 20 Abs. 2 S. 2 AGG
  • 4. Vergleichbarkeit von § 20 Abs. 2 S. 1 AGG a.F. mit § 20 Abs. 2 S. 2 AGG
  • a) Sachlicher Anwendungsbereich
  • b) Kalkulatorische Grundlagen
  • c) Maßgeblichkeit des Diskriminierungsmerkmals
  • 5. Stufenmodell
  • IV. Urteil des EuGH in der Rechtssache „Test-Achats“
  • 1. Inhalt
  • 2. Dogmatische Folgerungen
  • 3. Rechtsfolgen und Auswirkungen
  • 4. Rückgriff auf § 20 Abs. 1 AGG?
  • D. Fazit
  • § 7 Vorschlag für eine neue Gleichbehandlungsrichtlinie
  • A. Historische Entwicklung
  • B. Regelungsinhalt
  • C. Bereits erfolgte Umsetzung?
  • I. Umsetzung auf Tatbestandsebene
  • II. Umsetzung auf Rechtfertigungsebene
  • 1. Sachlicher Anwendungsbereich
  • 2. Kalkulatorische Grundlagen
  • 3. Maßgeblichkeit des Diskriminierungsmerkmals
  • III. Zwischenergebnis
  • D. Vergleich mit der Gender-RL
  • I. Vorabüberlegungen
  • II. Vergleichbarkeit von Art. 2 Abs. 7 RL-Vorschlag mit Art. 5 Abs. 2 S. 1 Gender-RL
  • 1. Vergleichbarkeit der jeweiligen Grundregel
  • 2. Vergleichbarkeit der jeweiligen Ausnahmeregelung
  • a) „proportionale Unterschiede“ – „verhältnismäßige Ungleichbehandlungen“
  • b) „bei Prämien und Leistungen“ – „bei der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen“
  • c) „bestimmender Faktor“ – „zentraler Faktor“
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Übertragbarkeit der EuGH-Rechtsprechung
  • IV. Zwischenergebnis
  • E. Fazit
  • § 8 Vereinbarkeit von § 20 Abs. 2 S. 2 AGG mit höherrangigem Recht
  • A. Vereinbarkeit mit Unionsrecht
  • I. Vereinbarkeit mit der GRCh
  • 1. Art. 51 GRCh
  • a) Gesetzesintention
  • b) Tatbestand
  • c) Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte bei der Umsetzung von Richtlinien
  • i. Literatur
  • (1) Restriktive Ansicht
  • (2) Differenzierende Ansicht
  • (3) Umfassende Ansicht
  • (4) Zwischenergebnis
  • ii. Rechtsprechung
  • (1) Bundesverfassungsgericht
  • (2) EuGH
  • (a) Rechtssache „Cinéthèque“
  • (b) Rechtssache „Wachauf“
  • (c) Rechtssache „Saldanha und MTS“
  • (d) Rechtssache „Parlament/ Rat“
  • (e) Rechtssache „Bartsch“
  • (f) Rechtssache „Kücükdeveci“
  • (g) Zwischenergebnis
  • d) Übertragung der Ansichten auf § 20 Abs. 2 S. 2 AGG
  • i. Übertragung der in der Rechtssache „Parlament/ Rat“ enthaltenen Aussagen
  • (1) Definition des BVerfG
  • (2) Mindestvorgaben als Ermessensspielraum?
  • (a) Wortlaut der Richtlinien
  • (b) Historischer Kontext im Zusammenhang mit der Implementierung
  • (c) Zwischenergebnis
  • (3) Generelle Möglichkeit eines Handelns innerhalb einer Richtlinie bei überschießender Umsetzung
  • (a) Rechtssachen „IP“ und „Deponiezweckverband Eiterköpfe“
  • (b) Literatur
  • (c) Zwischenergebnis
  • (4) Entgegenstehen der Rechtsprechung des BVerfG?
  • ii. Übertragung der in der Rechtssache „Bartsch“ enthaltenen Aussagen
  • (1) Enges Verständnis
  • (2) Weites Verständnis
  • (a) Rechtssache „Åkerberg Fransson“
  • (b) Literatur zur Rechtssache „Åkerberg Fransson“
  • e) Zwischenergebnis
  • 2. Art. 21 Abs. 1 GRCh
  • a) Tatbestand
  • i. Schlussanträge der Generalanwältin in der Rechtssache „Test-Achats“
  • ii. Würdigung der Aussagen der Generalanwältin
  • (1) Grundannahme
  • (2) Wechselseitiger Ausschluss der Diskriminierung
  • (3) Konflikt mit Privatautonomie
  • iii. Zwischenergebnis
  • b) Rechtfertigung
  • i. Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
  • ii. Verhältnismäßigkeitsprüfung
  • (1) Legitimes Ziel
  • (a) Grundlagen
  • (b) Verwirklichung von Differenzierungsfreiheit
  • (c) Stärkung des individuellen Äquivalenzprinzips als genereller Gerechtigkeitsaspekt
  • (2) Geeignetheit
  • (3) Erforderlichkeit
  • (a) Altersstufen als milderes Mittel
  • (b) Erfahrung als milderes Mittel
  • (i) Kfz-Haftplichtversicherung
  • (ii) Verwendung des Merkmals Alter als Indiz für weitere gefahrerhöhende Ursachen
  • (iii) Übertragbarkeit auf die Personenversicherungen
  • (c) Zwischenergebnis
  • (4) Angemessenheit
  • (a) Erlebensfallversicherungen
  • (i) Grundlagen
  • (ii) Güterabwägung
  • (b) Übrige Personenversicherungen
  • (i) Verwirklichung des legitimen Ziels durch verstärkte Gewichtung anderer Risikomerkmale
  • (ii) Verwendung des Alters als Konterkarierung zum legitimen Ziel
  • (iii) Unternehmerische Freiheit als höherwertiges Grundrecht?
  • (c) Mögliche Inkonsistenz der Abwägungsergebnisse
  • (i) Problemaufriss
  • (ii) Heranziehung der Gender-RL als Vergleichsmaßstab
  • (iii) Die Wirkung der Diskriminierung im Rahmen der Gender-RL
  • (iv) Beurteilung einer möglichen Inkonsistenz
  • (v) Auswirkungen aufgrund des EuGH-Urteils in der Rechtssache „Test-Achats“?
  • (5) Zwischenergebnis
  • II. Vereinbarkeit mit den Antidiskriminierungsrichtlinien
  • III. Vereinbarkeit mit der EuGH-Rechtsprechung
  • 1. Übertragbarkeit der Rechtsprechung?
  • 2. Zwischenergebnis
  • B. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
  • I. Grundgesetz als Prüfungsmaßstab
  • 1. Trennungsthese des BVerfG
  • 2. These der Parallelgeltung
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Verhältnis der Grundrechtsregime zueinander
  • III. Vereinbarkeit mit der Privatautonomie
  • 1. Anwendbarkeit
  • 2. Schutzbereich
  • 3. Eingriff
  • 4. Zwischenergebnis
  • C. Fazit
  • § 9 Rechtsfolgen
  • A. Verfahren vor dem EuGH
  • I. Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV
  • II. Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV
  • B. Unvereinbarkeit mit Unionsrecht
  • I. Ungültigkeit bzw. Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit?
  • II. Abtrennbarkeit des unwirksamen Teils
  • III. Bindungswirkung
  • C. Zeitpunkt der Unanwendbarkeit
  • D. Künftige Regelungen
  • E. Fazit
  • § 10 Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

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§ 1 Einleitung, Gegenstand der Untersuchung

Versicherungsunternehmen vollziehen aufgrund ihres Geschäftsmodells einen wahren Balanceakt. Zum einen müssen sie die Prämien und Leistungen der Versicherungsnehmer so kalkulieren, dass ein Gewinn erwirtschaftet werden kann. Die Kalkulation bzw. die Gewinnrealisierung gestaltet sich dabei von Natur aus schwierig, da die Versicherer nicht wissen können, wie oft bzw. in welcher Höhe sie Leistungen zukünftig zu gewähren haben. Zum anderen gibt es Wettbewerber, die ihrerseits die Prämien und Leistungen bestimmen, was ebenfalls auf die Preisgestaltung Einfluss nimmt. Die Schwierigkeit der Berechnung von Prämien und Leistungen ist dem Geschäftsmodell der Versicherer daher immanent.

Neben diesen grundlegenden Bestimmungsproblemen für die Prämien und Leistungen rückt seit einigen Jahren ein weiteres Kriterium mehr und mehr in den Vordergrund, welches auf die Tarifierung ebenfalls nicht unwesentliche Auswirkungen hat: das (Anti-)Diskriminierungsrecht. So sah noch vor Einführung des AGG1 § 81e VAG2 a.F. vor, dass Tarifbestimmungen und Prämienkalkulationen, die auf die Zugehörigkeit eines Versicherungsnehmers zu einer ethnischen Gruppe abstellen, als Missstand anzusehen sei, gegen den die BaFin einschreiten konnte. Nach der europarechtlich gebotenen Einbeziehung von privaten Versicherungen in das AGG3, hatten sich die von den Versicherern zu beachtenden Diskriminierungsmerkmale mit der Einführung desselben im Jahre 2006 vervielfältigt. Unter einem Diskriminierungsmerkmal ist ein personenbezogenes Merkmal zu verstehen, welches dazu dient, Menschen in Gruppen unterteilen zu können. Das AGG setzt sich zum Ziel, Benachteiligungen nicht lediglich aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft zu verhindern oder zu beseitigen, sondern auch wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität.4

Hinter dem neu eingeführten Gesetz stehen vor allem politisch-historische Erwägungen. Die Politik in Europa sieht sich berufen, den in der Vergangenheit ← 23 | 24 → aufgekommenen Gedanken der Gleichheit aller Menschen gesetzlich zu konkretisieren. Bestimmte Merkmale, die nach den bisherigen gesellschaftlichen Erfahrungen besonders häufig zu Benachteiligungen bzw. Diskriminierungen führten, sollen gesetzlich verboten werden. In Westeuropa setzte sich im Zeitalter der Aufklärung zunehmend die Erkenntnis durch, dass es nicht gerecht sein könne, Menschen nach bestimmten Merkmalen zu kategorisieren. Am Ende der Aufklärung stand die Französische Revolution, die mit ihrer Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ Menschen- und Bürgerrechte proklamierte und damit aufklärerische Ideen vertrat. Dennoch führte die Französische Revolution nicht zu einer Verankerung der Gedanken der Aufklärung. Vielmehr verfestigte sich im 19. Jahrhundert der Gedanke, dass bestimmte Personengruppen, sei es wegen ihrer Herkunft oder wegen ihrer Religion, für die eigene schlechte Lebenssituation verantwortlich seien – nationalistische Ideen rückten wieder in den Vordergrund. Es sollte somit mehr als ein Jahrhundert vergehen bis die durch die Aufklärung erlangten Erkenntnisse in Gesetzesform gegossen wurden. Erst die Abkehr vom Nationalismus nach dem Ende des 1. Weltkrieges führte zu einer ersten gesetzlich kodifizierten Abkehr von Benachteiligungen aufgrund von bestimmten personenbezogenen Merkmalen.5 Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurden derartige Abwendungen auch im deutschen Grundgesetz verankert. Bereits die ursprüngliche Fassung vom 23. Mai 1949 sprach in Art. 3 Abs. 3 GG6 ein grundsätzliches Verbot von Benachteiligungen und Bevorzugungen aufgrund der personenbezogenen Merkmale Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben sowie religiöse und politische Anschauungen aus. Diese Merkmale dienten als Wegbereiter für weitere Diskriminierungsmerkmale, die sich im juristischen Kontext im Laufe der Zeit etablieren konnten. Im Jahre 1994 wurde der Merkmalskatalog aus Absatz 3 mit der Hinzufügung eines zweiten Satzes dahingehend erweitert, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden dürfe.7 Auch außerhalb des Grundgesetzes wurden vergleichbare Merkmalskataloge geschaffen. Diese Kataloge sowie Normen und Verträge, die sich lediglich auf eines der Merkmale beziehen, finden sich im Europarecht, in völkerrechtlichen Verträgen und auch in nationalen einfachen Gesetzen. Tendenziell lässt sich festhalten, dass neuere Vorschriften einen umfassenderen Merkmalskatalog aufweisen als ältere Normen und Verträge. So beinhaltet die Charta der ← 24 | 25 → Grundrechte der Europäischen Union8 17 Diskriminierungsmerkmale, darunter moderne personenbezogene Merkmale wie die Genetik einer Person, aufgrund derer grundsätzlich niemand benachteiligt werden darf. Die gesetzliche Manifestierung von Diskriminierungsverboten soll damit auch das gesellschaftliche Meinungsbild prägen und vergangene Errungenschaften festigen.

Die dargestellte historische Entwicklung rechtfertigt es, dass das Diskriminierungsrecht einen in zweifacher Hinsicht breiten Anwendungsbereich inne hat.9 Gegenstand der Untersuchung ist jedoch lediglich der Bereich des Privatversicherungsrechts im Hinblick auf das Diskriminierungsmerkmal Alter. Im Gegensatz zum Merkmal Rasse/ ethnische Herkunft, bei dem in der Rechtswissenschaft und auf gesellschafts-politischer Ebene ein allgemeiner Konsens herrscht, dass die Rasse bzw. ethnische Herkunft einer Person grundsätzlich zu keinerlei Benachteiligungen führen darf und dem Diskriminierungsmerkmal Geschlecht, bei dem sich mehr und mehr die gesellschafts-politische Meinung durchsetzt, dass Geschlechterdiskriminierungen ebenso grundsätzlich unzulässig sein sollten, ist die Diskussion um das Diskriminierungsmerkmal Alter in vollem Gange – dies gilt sowohl für die Rechtswissenschaft als auch auf der gesellschafts-politischen Ebene. Das Alter rückt nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch im allgemeinen Zivilrecht immer weiter in den Fokus des (Anti-)Diskriminierungsrechts. Hierzu beigetragen hat u.a. auch die Rechtsprechung des EuGH, der mit seinem Urteil in der Rechtssache „Test-Achats“10, in dem er die unterschiedliche Berechnung von Prämien und Leistungen für mit den europarechtlichen Vorgaben unvereinbar erklärte, den Anstoß zur Ausarbeitung des vorliegenden Werkes gab. Die Arbeit beschäftigt sich daher mit der Berücksichtigung des Alters von Versicherungsnehmern bei der Berechnung von Prämien und Leistungen in ausgewählten Privatversicherungen und deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Hierbei nimmt sowohl das erwähnte Urteil des EuGH als auch die GRCh eine hervorgehobene Stellung ein. Die GRCh ist seit dem Vertrag von Lissabon europäisches Primärrecht und muss daher zwingend bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien beachtet werden. In diesem Zusammenhang widmet sich die Arbeit ← 25 | 26 → insbesondere der Frage, ob die vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene überschießende Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien im Hinblick auf das Merkmal Alter bei privaten Versicherungsverträgen tatsächlich dazu führt, dass der überschießende Teil des AGG nicht am europäischen Recht zu messen ist. Diese These wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur wohl mehrheitlich angenommen.11


1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) v. 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Art. 8 SEPA-Begleitgesetz v. 3. April 2013 (BGBl. I S. 610).

2 Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG) v. 1. April 2015 (BGBl. I S. 434), in Kraft getreten am 01.01.2016, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.11.2015 (BGBl. I S. 2029).

3 Vgl. Thüsing, in: MüKo – AGG, 7. Aufl. 2015, § 19 Rn. 48.

4 Vgl. § 1 AGG.

5 Als Beispiel kann genannt werden, dass in Deutschland im Jahre 1918 das Wahlrecht für Frauen gesetzlich vorgeschrieben wurde.

6 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) v. 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG (Art. 91b) v. 23. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2438).

7 Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke – GG, 13. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 4.

8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) v. 12. Dezember 2007 (ABl. Nr. C 303 S. 1).

9 Zum einen gilt es sowohl für das Arbeitsrecht als auch in ausgewählten Bereichen des allgemeinen Zivilrechts; zum anderen betrifft es die bereits oben genannten sechs Diskriminierungsmerkmale.

10 EuGH, Urteil v. 01.03.2011 – Rs. C-236/09; Slg. 2011, I-773 ff., (Association belge des Consommateurs Test Achats ASBL, Yann van Vugt, Charles Basselier/ Conseil des ministres; nachfolgend kurz: Test-Achats).

11 Vgl. Däubler, in: Däubler/Bertzbach – AGG-Hk., 2. Aufl. 2008, Einleitung Rn. 84; Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549. Diese Autoren streifen jedoch nur die Thematik der Vereinbarkeit der überschießenden Umsetzung mit europäischem Recht. Bei ihnen geht es vielmehr um Frage der einheitlichen Auslegung des AGG, d.h. einer insgesamt europarechtlichen Auslegung des Gesetzes, die sie ablehnen.

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§ 2 Das Diskriminierungsmerkmal Alter

A. Vorbemerkung

Das Diskriminierungsmerkmal Alter spielt im Gegensatz zu anderen Diskriminierungsmerkmalen wie die Rasse bzw. ethnische Herkunft12 oder das Geschlecht bislang eine untergeordnete Rolle. Dies dürfte vornehmlich an der Tatsache liegen, dass das Diskriminierungsmerkmal Alter erst in der jüngeren Vergangenheit mit Gleichheitsaspekten in Verbindung gebracht wurde.13 Fredman gibt als Grund für die nachrangige Bedeutung an, dass es an einer klaren Grenzziehung von Personen, die sich auf dieses Diskriminierungsmerkmal berufen können, und anderen, die sich im konkreten Falle nicht auf das Merkmal14 berufen können, fehle.15 Diese These erscheint nach der Auffassung des Verfassers nicht hinreichend einleuchtend, da sich jeder Mensch unabhängig von seinem Alter auf das Merkmal berufen kann. Denn das Diskriminierungsmerkmal Alter erfasst seinem Wortlaut zufolge jede Altersstufe, sodass jedes Lebensalter geschützt wird. Auch ist nicht entscheidend, ob die Vergleichsperson, die vermeintlich bevorzugt wird, ein Jahr oder 50 Jahre älter ist als diejenige Person, die sich auf eine Benachteiligung aufgrund des Alters beruft. Auch im erstgenannten Fall liegt eine Benachteiligung aufgrund des Alters vor. Vielmehr dürften die Gründe für die untergeordnete Stellung des Merkmals Alter vielfältig sein. Zum einen machen sich Menschen in ihrer Kindheit und Jugend in aller Regel keine Gedanken über das Thema Diskriminierung. Sie sind somit nicht in der gleichen Art und Weise in der Lage ihre Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten wie erwachsene Personen. Zum anderen sind ältere Menschen meist nicht bereit, die Interessen der Jüngeren zu vertreten, da die gleiche Art von Benachteiligung bereits in ihrer Kindheit bzw. Jugend gegeben war und sie damit selbst von der gleichen Benachteiligung betroffen waren. Diese Gleichgültigkeit im Hinblick auf Benachteiligungen aufgrund des Alters dürfte primär darin liegen, dass die große Mehrheit von Menschen bei ← 27 | 28 → natürlichem Fortgang mehrere Altersstufen durchläuft und diese Tatsache stets im Hinterkopf behält. Eine Diskriminierung im jungen Alter wird oftmals als nicht besonders benachteiligend empfunden oder angesehen, da man davon ausgeht, dass einem selbst zukünftig, gerade diese Diskriminierung zugutekommt, sobald man eine fortgeschrittene Altersstufe erreicht. Ähnliche Überlegungen lassen sich problemlos auf die entgegengesetzte Konstellation übertragen. Insbesondere diese Erwägungen zeigen in anschaulicher Weise den Unterschied zu den Diskriminierungsmerkmalen Rasse/ ethnische Herkunft und Geschlecht auf. Diese Merkmale zeichnen sich grundsätzlich durch ihre lebenslange Beständigkeit aus. Insofern kann durchaus vertreten werden, dass die stigmatisierende Wirkung des Diskriminierungsmerkmals Alter geringer ist als bei anderen Merkmalen.16

Nachfolgend soll zunächst das Diskriminierungsmerkmal Alter ausschließlich dahingehend beleuchtet werden, inwiefern das europäische und nationale Recht Regelungen zum Merkmal Alter enthalten, die auch das deutsche allgemeine Zivilrecht beeinflussen können. Das Arbeitsrecht als Teil des Zivilrechts soll grundsätzlich nicht näher betrachtet werden. Jedoch spielt gerade im Bereich des Arbeitsrechts das Merkmal Alter eine große praktische Rolle, sodass auf die jüngere Rechtsprechung im Hinblick auf dieses Merkmal nicht gänzlich verzichtet werden kann.

B. Das Diskriminierungsmerkmal Alter im Europarecht

I. Die politische Dimension

Wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, hat das Europarecht das personenbezogene Diskriminierungsmerkmal Alter weitgehend in seine Merkmalskataloge aufgenommen. Für die Aufnahme dürften mehrere Gründe anzuführen sein. Als ein Grund wird der generelle demografische Wandel in Europa angesehen.17 Das Durchschnittsalter der Einwohner der Europäischen Union wird in den kommenden Jahrzehnten stark steigen. Im Jahre 2009 betrug das durchschnittliche Lebensalter in der EU noch 40,6 Jahre; es wird jedoch Hochrechnungen zufolge bis zum Jahre 2060 auf 47,9 Jahre steigen.18 Der Bevölkerungsanteil der ← 28 | 29 → über 65-jährigen lag im Jahre 2010 bei ca. 17,4 % und wird im Jahre 2050 auf ca. 28,8 % steigen.19 Ältere Personen rücken bereits aufgrund dieser demografischen Erkenntnisse immer weiter in den Fokus der Politik. Die Bedeutung der alternden Bevölkerung ist insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nicht zu verkennen. Ihre Arbeitskraft wird in Zukunft ein wichtiger Faktor im Hinblick auf den Erhalt der derzeitigen Wirtschaftsleistung Europas sein. Damit sind ältere Arbeitnehmer auch einem besonderen Diskriminierungsrisiko ausgesetzt. Zum einen werden sie oftmals in Auswahlverfahren und Weiterbildungsveranstaltungen benachteiligt20, zum anderen haben sie größere Schwierigkeiten wieder in den Arbeitsmarkt zu gelangen, wenn sie zuvor aus selbigem ausgeschieden waren.21 Vorstehende Erwägungen zeigen, warum das Diskriminierungsmerkmal Alter zuerst im Bereich des Arbeitsrechts als relevant betrachtet wurde. Jedoch scheint sich zusehends die Ansicht durchzusetzen, dass das Merkmal auch im allgemeinen Zivilrecht und sogar im Verfassungsrecht neben den bereits kodifizierten Diskriminierungsmerkmalen wie die Rasse/ ethnische Herkunft oder das Geschlecht zu implementieren ist. Dies zeigen gerade die in jüngerer Zeit in Kodifikationen erlassenen Merkmalskataloge.

II. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Details

Seiten
250
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653067750
ISBN (ePUB)
9783653957808
ISBN (MOBI)
9783653957792
ISBN (Paperback)
9783631674932
DOI
10.3726/978-3-653-06775-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
§ 20 Abs. 2 Satz 2 AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Diskriminierungsmerkmal Unisex-Urteil
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 250 S.

Biographische Angaben

Joachim Frhr. von Wrangel (Autor:in)

Joachim Frhr. von Wrangel studierte Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück. Er war in internationalen Rechtsanwaltskanzleien in Frankfurt am Main, Düsseldorf und Köln tätig und steht im Justizdienst des Landes Niedersachsen.

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Titel: Altersdiskriminierung im Versicherungsprivatrecht?
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