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Interkulturelles Labor

Luxemburg im Spannungsfeld von Integration und Diversifikation

von Eva Wiegmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 226 Seiten

Zusammenfassung

Mobilität und Migration rücken Interkulturalität in den Fokus öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Der Band geht der Frage nach, inwiefern das Land Luxemburg aufgrund seiner kulturellen, sozialen und sprachlichen Besonderheiten ein Labor für interkulturelle Herausforderungen und Entwicklungen, speziell auf europäischer Ebene, allgemeiner auch für gesellschaftliche Prozesse im Spannungsfeld von Integration und Diversifikation ist. Dabei beschränkt sich das Buch nicht auf die nationale Perspektive, sondern sucht darüber hinaus der Vielschichtigkeit interkultureller Prozesse unter Berücksichtigung unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Perspektiven sowie methodischer und theoretischer Zugriffe Rechnung zu tragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zum Geleit
  • Vorwort: Interkulturelles Labor Luxemburg?
  • I. Luxemburg zwischen Regionalität und Internationalität
  • Internationales und lokales Theater in Luxemburg: Zwischen Koproduktion und regionaler Ausrichtung
  • Heiratspolitik im Zeitalter des Postnationalen: Die Hochzeit des Erbgroßherzogs Guillaume als Medienereignis, gelesen als Selbstbeschreibung Luxemburgs
  • Satirische Verortung Luxemburgs in Europa und der Welt: Guy Rewenigs Glossen über ein „unwiderstehliches Land“
  • II. Migrationsraum Luxemburg: Diskursanalytische Untersuchungen
  • Alphabetisierung auf Deutsch? Probleme und Herausforderungen im heterogenen luxemburgischen Grundschulklassenzimmer
  • Eine explorative Untersuchung zum luxemburgischen Kollektivsymbol-System am Beispiel des Migrationsdiskurses im Luxemburger Wort (1990 bis 2010)
  • III. Über die Grenzen Luxemburgs hinaus: Reisen als interkulturelles Phänomen
  • Von Luxemburg und Wolkenstein: Identitätskonstruktionen im Umkreis der Luxemburger Dynastie
  • Welterfahrung, Gotteserfahrung, Selbsterfahrung: Zum Motiv des Reisens in der deutschen Literatur des Mittelalters
  • Von der Nutzbarkeit fremder Reisen: Überlegungen über Aspekte kulturalisierenden Schreibens
  • IV. Interkulturalität – Postkolonialität – Experimentalität
  • Luxemburg postkolonial? Zur Leistung einer postkolonialen Perspektive im Horizont der Interkulturalitätsforschung
  • Kultur als interkulturelle Herausforderung
  • Autorenverzeichnis

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Dieter Heimböckel

Zum Geleit

Am 16. und 17. Oktober 2013 veranstaltete das „Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität“ der Universität Luxemburg in Kooperation mit der Villa Vigoni in deren Räumlichkeiten ein Kolloquium, aus dem der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist. Es orientierte sich dabei an den Voraussetzungen und Erfordernissen, die das Land Luxemburg aufgrund seiner gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen und sprachlichen Besonderheiten an der geopolitischen und sprachlich-kulturellen Schnittstelle zwischen West- und Mitteleuropa einerseits und Germania und Romania andererseits mit sich bringt. Angesichts dieser Besonderheiten widmete sich das Kolloquium der Frage, ob und inwieweit Luxemburg eine interkulturelle Laborsituation für Herausforderungen und Entwicklungen zukommt, die speziell für die europäische Ebene, aber darüber hinaus auch allgemein für gesellschaftliche Prozesse von Bedeutung sind, die im Spannungsfeld von Integration und Diversifikation stehen. Insofern sich die Villa Vigoni als Zentrum für Europäische Exzellenz zum Ziel gesetzt hat, insbesondere solche Themen zu erörtern, die sich im Kontext von nationaler Identitätsbildung, europäischer Integration und globaler Vernetzung bewegen, verstand sich die Veranstaltung auch als ein Beitrag zur Ausweitung und Vertiefung dieser Diskussion. Dabei sollte dieses Kolloquium zugleich den Auftakt für eine nachhaltige Kooperation zwischen der Universität Luxemburg und der Villa Vigoni bilden.

Die Kooperation ist inzwischen durch weitere Begegnungen und Absprachen gefestigt, sodass der Sammelband diese Entwicklung gewissermaßen auch publizistisch dokumentiert. Aber damit ist nur eine seiner Bestimmungen formuliert. Des Weiteren bekundet sich in ihm das am Standort Luxemburg im Allgemeinen und in der Luxemburger Germanistik im Besonderen insgesamt stark ausgeprägte Interesse an Fragen der Interkulturalität – und das heißt: an einem zentralen Additiv und hoch differenzierten Forschungsfeld, in dem Formen und Prinzipien der Kulturentwicklung und Differenzkonstruktion untersucht werden und das zugleich die Mannigfaltigkeit interkultureller Begegnungs- und Konfliktsituationen in der gesellschaftlichen Praxis (in wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen, in Kulturinstitutionen und kulturellen Manifestationen, in Ausbildungsstätten und am Arbeitsplatz etc.) widerspiegelt. Dabei ist davon auszugehen, dass infolge von Mobilität und Migration, gesellschaftlicher Diversifizierung ← 7 | 8 → und Transformation eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erforderlich ist, die jenseits nationaler und disziplinärer Grenzen geführt werden muss. Die gesellschaftliche Vielfalt und räumlichen wie auch politischen und sozialen Verschiebungen lassen es nicht mehr zu, dass man ihnen mit monokausalen bzw. fachspezifischen Erklärungsmustern begegnet. Die Interkulturalitätsforschung in Luxemburg zielt auf eine fakultätsübergreifende Erforschung und Beschreibung interkultureller Phänomene und ist insofern darauf ausgerichtet, das bislang noch zu wenig eingelöste Desiderat einer interdisziplinären Forschungszusammenarbeit umzusetzen.1 Andererseits geht es ihr darum, ihre Expertise für eine sozial und kulturell hochgradig differenzierte Gesellschaft wie diejenige in Luxemburg gerade in solchen Bereichen zur Verfügung zu stellen, in denen interkulturelles Wissen und interkulturelle Kompetenz gefragt sind.

Wenn von interkulturellem Wissen die Rede ist, so sind damit freilich keine ein für allemal verbindlichen Einsichten und Erkenntnisse verknüpft. Denn das interkulturelle Denken ist in dem hier vorgestellten Rahmen als unabgeschlossen und prozessual zu begreifen. Vom „(un)vollendete[n] Projekt“ der Interkulturalität war schon andernorts die Rede,2 von seiner Unabgeschlossenheit mithin und insofern auch davon, dass nicht absehbar ist, was konkret aus ihm folgt. Interkulturalität ist daher weder ein Projekt mit vorbestimmten Zielen noch eines, das sich unter einer Definition subsumieren ließe. Das ist ihr zuweilen als Schwäche ausgelegt worden, insofern es der Beliebigkeit in begrifflicher und analytischer Hinsicht Tür und Tor geöffnet habe und solchermaßen ihrer Mutation zu einer Leerformel Vorschub geleistet worden sei. Aber das Potential der Interkulturalität wird nicht dadurch begründet, dass es auf ein fixes applizierbares Konzept heruntergebrochen wird und/oder durch den inzwischen ad nauseam wiederholten Vergleich mit konkurrierenden Konzepten (wie dem der Transkulturalität) seine Brauchbarkeit (oder Überholtheit) unter Beweis stellt. Das Potential muss sich vielmehr in der je konkreten Anwendung erweisen, mit der zugleich auch Rechenschaft über das Vorgehen und die methodisch-konzeptionelle Ausrichtung nachprüfbar abgelegt wird. Das mag sich nach einer wissenschaftlichen Binsenweisheit anhören – und um eine solche handelt es sich am Ende wohl auch –, aber damit wird unter anderem auch in Rechnung gestellt, was Interkulturalität nicht ist: Sie ist keine spezifische Anleitung zur Analyse, mit der man Texte oder ← 8 | 9 → empirische Sachverhalte einer Untersuchung unterziehen könnte. Sie ist vielmehr eine übergeordnete Methode zur Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen, mit der gewohnte Selbstverständlichkeiten und Sehgewohnheiten hinterfragt werden und die ihre theoretischen und analytischen Ressourcen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsrichtungen wie beispielsweise aus der Ethnologie und Kulturanthropologie, den Postcolonial und Gender Studies, der Imagologie und Xenologie, dem New Historicism und der Histoire croisée oder aus der Diaspora- und Migrationsforschung erschließt.

Der Sammelband liefert zu dieser Vielfalt der Interkulturalitätsforschung weitreichendes Anschauungsmaterial. Und das gilt sowohl für die fachliche und thematische als auch für die methodische und zeitliche Ausrichtung. In fachlicher Hinsicht repräsentieren die Beiträge alle Teilbereiche der Germanistik, d. h. nicht nur die Sprach- und neuere deutsche Literaturwissenschaft, die sich bislang vorzugsweise mit interkulturellen Fragen beschäftigt haben, sondern auch die Mediävistik, von der erst in jüngster Zeit Impulse für „eine explizite und reflektierte Nutzbarmachung“ der Interkulturalitätsforschung ausgehen.3 Thematisch werden neben solchen Arbeiten, die dem fachlichen Kernbestand zuzurechnen sind, Beiträge aus den Bereichen der Theater- und Medienwissenschaft sowie der Mehrsprachigkeits- und Migrationsforschung vorgestellt. Theoretisch changiert das Spektrum zwischen hermeneutischen, diskursanalytischen und postkolonialen Lektüren, während sich das Untersuchungsfeld zeitlich auf die Synchronie ebenso wie auf die Diachronie erstreckt. Dabei verdeutlicht die Weitläufigkeit und Spannbreite der Untersuchungen insgesamt noch einmal die Fülle der Anschlussmöglichkeiten im Feld der Interkulturalität, obwohl sie, wie in diesem Fall, im Bezugsrahmen einer alles andere als unspezifischen Fragestellung steht. Eine abschließende Antwort darauf, ob es sich bei Luxemburg um ein interkulturelles Labor handelt, liefert der Sammelband wohl nicht. Das hätte auch im Widerspruch zu dem bereits angesprochenen Projekt-Gedanken der Interkulturalität gestanden. Insofern zeigt sich auch in den Beiträgen, dass wir es diesbezüglich mit einem Experimentierfeld zu tun haben, das Aussagen nicht nur über das Projekt der Interkulturalität liefert, sondern auch über ihre Möglichkeiten und Grenzen, über Potentiale und Beschränkungen, darüber aber vor allem, ob und inwieweit die notwendige Voraussetzung interkulturellen Agierens, die Bereitschaft, sich einzulassen und damit aus den wissenschaftlichen und kulturellen Konditionierungen des bzw. unseres Denkens-wie-üblich herauszutreten, gegeben sind. Darin erweist sich aus meiner Sicht und in einem übergeordneten ← 9 | 10 → Sinn die Laborsituation für Luxemburg, allerdings nicht so, dass, wie aus einem Tierversuch, Nutzen für die Marktetablierung eines pharmazeutischen Produkts gewonnen werden sollte. Auch geht das Projekt der Interkulturalität nicht in der Luxemburger Interkulturalitätsforschung auf. Wenn sie einen Beitrag dazu leistet, es zu fördern und in Bewegung zu halten, ist bereits viel getan.

Literaturangaben

HEIMBÖCKEL, DIETER u. a. (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, München 2010.

TROPPER, ELISABETH: Interkulturalität als disziplinübergreifendes Konzept. Ansätze – Anwendungen – Desiderata. Internationaler Workshop der Key Area Multilingualism and Intercultural Studies (MIS) an der Universität Luxemburg am 5. November 2014. Ein Workshopbericht, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, 1 (2015), S. 181–185.

SIEBURG, HEINZ: Plädoyer für eine interkulturelle Mediävistik, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2, 1 (2011), S. 11–26.


1 Dieser Zielsetzung folgt beispielsweise der 2014 gegründete universitäre Schwerpunktbereich „Multilingualism and Intercultural Studies“, der als multidisziplinärer Verbund organsiert ist (vgl. http://wwwde.uni.lu/recherche/priorites_de_recherche/multilingualism_and_intercultural_studies, 26.06.2015). Siehe hierzu auch: TROPPER, 2015.

2 HEIMBÖCKEL u. a., 2010.

3 SIEBURG, 2011, S. 11.

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Eva Wiegmann

Vorwort: Interkulturelles Labor Luxemburg?

Die Rede vom ‚Labor‘ ruft unweigerlich zunächst Assoziationen mit weißen Kitteln, komplizierten Apparaturen, chemischen Substanzen und Versuchstieren hervor. Diese paradigmatische Bildlichkeit scheint man zunächst schwerlich mit literatur- und kulturwissenschaftlichem Erkenntnissinteresse in Verbindung bringen zu können. Dennoch ist das Bedeutungsspektrum des Laborbegriffs nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränkt. Dieser findet vielmehr – spätestens seit Bruno Latours und Steve Woolgars Laboratory Life (1986) – auch vermehrt Anwendung im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich, wo zum einen experimentelle Verfahren im Hinblick auf die Generierung neuer theoretischer Konzepte im Vordergrund stehen, zum anderen aber auch eine Übertragung der Laborsituation auf spezifische Räume ein Rolle spielt.1 Letzteres hat jedoch nichts mit von wissenschaftlicher Seite konstruierten Versuchsanordnungen und abgeschotteten, nur autorisiertem Forschungspersonal zugänglichen Räumen zu tun, in denen spezifische Bedingungen nur simuliert werden. Vielmehr geht es um besondere real life-Konstellationen, die sich von anderen in der Regel dadurch unterscheiden, dass sie wie in einem Brennglas unterschiedliche soziokulturelle Faktoren bündeln, wodurch so etwas wie eine natürliche Laborsituation gegeben ist.2 Mit der Erforschung eines solchen Mikrokosmos ist dabei häufig nicht nur die Annahme verknüpft, dass sich hier grundlegendes Wissen über kulturelle, wirtschaftliche sowie soziale Strukturen und Entwicklungen gewinnen lässt. Im Fokus auf das Experimentelle wird vielmehr davon ausgegangen, dass in den spezifischen Räumen neue, auch auf andere Kontexte übertragbare Formen des Zusammenlebens generiert werden. In diesem Sinne spiegelt sich das Laborkonzept beispielsweise in den „unzähligen Urban Labs […], die sich […] dort ausbreiten, ← 11 | 12 → wo über die ungewissen und noch verhandelbaren Zukünfte des Städtischen samt ihrer sozialen Implikationen gerungen wird.“3

Aufgrund seiner spezifischen kultur- und sprachensoziologischen Situation erscheint das multilinguale und multikulturelle Luxemburg geradezu prädestiniert, ein Laboratorium zu sein für die Erforschung kultureller Entwicklungen im Kontext von Mobilität und Migration, gesellschaftlicher Diversifizierung und Transformation. „Das Adjektiv ‚interkulturell‘ bezeichnet“ unter dieser Prämisse dann „einen Raum, in dem ein Austauschprozess stattfindet, durch den Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund miteinander in Kontakt treten.“4 Die Anwendung des Laborbegriffs bezieht sich im Falle Luxemburgs – anders als bei den oben genannten Urban Labs – jedoch nicht auf einen geschlossenen urbanen Raum. Sie beschränkt sich nicht auf die Hauptstadt, vielmehr rückt unter interkulturellen Gesichtspunkten vor allem das Regionale in den Fokus. Dabei finden sich die unterschiedlichen soziokulturellen Faktoren zwar insofern auf relativ kleinem Raum gebündelt, als das Großherzogtum nicht nur in der EU, sondern auch in der Welt zu den kleinsten Flächenstaaten gehört. Wesentlicher Bestandteil des interkulturellen Labormodells ist hier jedoch gerade auch das dezentralisierte Moment der Grenzüberschreitung, das den eng mit der Großregion vernetzen interkulturellen Begegnungsraum Luxemburg kennzeichnet. Dieser ist eben nicht ein rein urbaner melting pot, sondern antizipiert darüber hinaus auch paradigmatisch die Transzendierung nationalstaatlicher Grenzziehungen im Alltagsleben, wie sie u. U. im Kontext global-postnationaler Entwicklungstendenzen zu erwarten sind. Dass das Großherzogtum optimale Bedingungen für eine zukunftsorientierte Erforschung soziokultureller Veränderungsprozesse bietet, spiegelt sich an der Universität Luxemburg aktuell beispielsweise in dem interdisziplinären Forschungsschwerpunkt ‚Multilingualism and Intercultural Studies‘ (MIS).5 Aber auch schon das fächerübergreifende Großprojekt IDENT, das sich die Erforschung soziokultureller Identitäten und Identitätspolitiken in Luxemburg zur Aufgabe gesetzt hatte, basierte, wie aus der von der Forschungseinheit IPSE (Identités, Politiques, Sociétés, Espaces) herausgegebenen Publikation Doing Identity in Luxembourg hervorgeht, „auf der These, dass Luxemburg geradezu eine Laborsituation zur Untersuchung von Prozessen der Identitätskonstruktionen ← 12 | 13 → unter enttraditionalisierten Bedingungen bietet.“6 Dies ist aus geschichtlicher Sicht u. a. darauf zurückzuführen, dass das Großherzogtum Luxemburg nationalkulturell „als ‚verspätete Nation‘ gelten kann, wobei dieser Verzug durch eine offensive Europa-Orientierung und die frühzeitige Umstellung der politischen Semantik von Konfrontation auf Kooperation bislang erfolgreich kompensiert werden konnte.“7 Diese europäische Ausrichtung, die auch mit der historischen Vermittlerrolle zwischen Germania und Romania zusammenhängt, wird ergänzt durch die enge wirtschaftliche, kulturelle und soziale Vernetzung in der trilateralen Großregion Saar-Lor-Lux, zirkuläre Migrationsprozesse von Pendlern und einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Einwohnern mit nichtluxemburgischer Nationalität (45,9 %)8. Insofern lässt sich eine „bereits im Land selbst gegebene[ ] Interkulturalitätssituation“9 konstatieren, die verschiedene Aspekte auf einem relativ kleinen Raum bündelt, dessen analytische Betrachtung im Verbund mit den grenzüberschreitenden Bewegungs- und Kooperationsmustern in der Großregion zukunftsweisende Ergebnisse im Hinblick auf soziokulturelle Entwicklungen im Kontext europäischer und globaler Entgrenzungs- und Migrationsprozesse verspricht.

Die Ansicht, das der „polyglotte[ ] Mikrokosmos ‚Luxemburg‘[…] als Modell“10 für kulturelle Entwicklungsprozesse gesehen werden kann, hat sich indes nicht nur in der Wissenschaft durchgesetzt. ‚Versuchslabor‘ oder ‚Reagenzglas‘ Europas sind längst Bestandteil des luxemburgischen Kollektivsymbol-Systems11 und damit Teil der nationalen Identitätskonstruktion und -politik. Dass das „Bild eines offenen und multikulturellen Landes“ sowie das „hybride Wesen Luxemburg“ allerdings „ein Topos“12 ist, mit dem sich durchaus nicht alle Teile der Bevölkerung identifizieren können, haben Marion Colas-Blaise, Silvie Freyermuth, Sonja Kmec, Gian Maria Tore und Christan Schulz in ihrer diskursanalytischen Studie Räume und Identitäten gezeigt. Ihre aus empirischen Umfragedaten erwachsenden Ergebnisse offenbaren ein zweigeteiltes Selbstbild, das zum einen das „eines offenen und toleranten Luxemburg“ im Sinne eines interkulturellen Modells darstellt, zum anderen aber das Bild einer (auch schichtspezifisch) gespaltenen Gesellschaft zeichnet, die in ‚Luxemburger‘ auf der einen und ‚europäische ← 13 | 14 → Beamte und internationale Investmentbanker‘ auf der anderen Seite zerfällt.13 Diese uneinheitliche Selbstwahrnehmung steht allerdings nicht im Widerspruch zum wissenschaftlichen Begriff des interkulturellen Labors, da Interkulturalität hier nicht automatisch gleichgesetzt wird mit der viel gepriesenen interkulturellen Kompetenz, sondern auch ein potentielles Scheitern des interkulturellen Dialogs und mögliche Konfliktpotentiale, die das Aufeinandertreffen unterschiedlicher ethnischer und nationaler Gruppierungen bergen kann, miteinbezogen werden müssen.14 Zudem dokumentiert das divergierende kulturelle Selbstbild die grundlegende Inhomogenität einer jeden Kultur,15 der ohnehin keine einheitliche, auf lebensweltlichen Erfahrungen beruhende Wahrnehmung entsprechen kann. Insofern bestätigt dieses gesellschaftliche Divergenzmuster letztlich eher den Modellcharakter Luxemburgs und dessen Eignung zum interkulturellen Labor, als dass es diesem widerspräche. Allerdings entfaltet der polyvalente Laborbegriff im Rahmen des autoimaginativen Kontextes noch eine andere Bedeutungsdimension, die sich weniger mit einem Ort der Erkenntnisgenerierung denn mit einem der Produktentwicklung16 verbindet. In der Verknüpfung mit dem ebenfalls nicht nur im wissenschaftlichen Kontext populären Interkulturalitätsbegriff wird der Topos vom ‚interkulturellen Labor‘ zum Bestandteil eines kulturpolitischen nation branding, das maßgeblich im Kontext des Kulturhauptstadtjahres 2007 entwickelt wurde, in dem es darauf ankam, auf kultureller Ebene an die sozioökonomischen Grenzüberschreitungsprozesse in der Großregion Saar-Lor-Lux anzuknüpfen. „‚The Greater Region, Laboratory of Europe‘ war das verbindende Leitmotiv von ‚Luxemburg 2007‘“17, wobei die „Position Luxemburgs“ in der symbolischen Selbstzuschreibung „als ‚Motor‘“18 interkultureller Entwicklungen mit europäischen Vorbildcharakter markiert wurde. Dieses Bild Luxemburgs, welches das Großherzogtum als weltoffenes und interkulturelles Land par excellence zu vermarkten sucht, ist aber auch gegenwärtig und losgelöst vom thematischen Bezug zum grenzübergreifenden Kulturhauptstadtjahr sehr präsent, wie in diesem Band Martin Dolls Analyse der medialen Inszenierung der Hochzeit ← 14 | 15 → des Erbherzogs Guillaume zeigt (Heiratspolitik im Zeitalter des Postnationalen. Die Hochzeit des Erbgroßherzogs Guillaume als Medienereignis, gelesen als Selbstbeschreibung Luxemburgs). Interkulturalität wird in diesem Bezugsrahmen im Wesentlichen auf eine Schlüsselkompetenz für den globalen Wettbewerb der Zukunft19 reduziert, also als Standortvorteil deklariert, den man sich letztlich aus nationalpolitischen Gründen auf die Fahnen schreibt. Ein solchermaßen verkürztes Verständnis von Interkulturalität als entscheidender wirtschaftspolitischer Qualifikation kann nicht die Grundlage interkultureller Forschungsperspektiven bilden. Der vorliegende Band strebt keine Reduktion von komplexen Dynamiken interkultureller Prozesse auf griffige Formeln an, sondern sucht deren Vielschichtigkeit mit der Berücksichtigung unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Perspektiven (literatur-/kultur-/medien-/sozialwissenschaftlich) sowie methodischer und theoretischer Zugriffe Rechnung zu tragen. Interkulturalität wird hier – wie der abschließende Beitrag der Forschungsgruppe INTERKULT programmatisch herausstellt – nicht als Produkt verstanden, auch nicht als Paradigma,20 sondern als dynamischer, experimenteller Prozess. Dabei muss – ebenso wie letztlich bei allen Versuchsanordnungen – grundsätzlich eben auch ein mögliches Misslingen des interkulturellen Dialogs und konfliktgeladene Problemkonstellationen, die sich aus einer Konfrontation unterschiedlicher ethnischer und nationaler Gruppierungen ergeben können, miteinbezogen werden.21 Die Inanspruchnahme eines Interkulturalitätsparadigmas für Luxemburg wird hier durchaus kritisch hinterfragt. Problematiken, die sich aus einer interkulturellen Konstellation ergeben können, werden nicht ausgeblendet, sondern klar benannt. So setzt sich beispielsweise der Beitrag von Fabienne Scheer Alphabetisierung auf Deutsch? Probleme und Herausforderungen im heterogenen luxemburgischen Grundschulklassenzimmer mit den besonderen Herausforderungen auseinander, vor die sich Lehrerinnen und Lehrer im multilingualen und multikulturellen Luxemburg gestellt sehen. Dass auch Machtaspekte und Hegemonialfragen nicht ausgeblendet werden dürfen, betont der postkoloniale Ansatz, den Julian Osthues (Luxemburg postkolonial? Zur Leistung einer postkolonialen Perspektive im Horizont der Interkulturalität) für aktuelle Interkulturalitätsdebatten in Luxemburg und darüber hinaus fruchtbar macht. Der Fokus der Beiträge liegt allerdings nicht ausschließlich auf Luxemburg, vielmehr werden auch über die nationalkulturelle Perspektive hinausgehend Anschlüsse an grenzüberschreitende Fragestellungen gesucht. ← 15 | 16 → Die thematische Bandbreite spiegelt dabei das analytische Anwendungsfeld des Interkulturalitätskonzepts wider, das sich nicht auf einen eindimensionalen Themenbereich reduzieren lässt.22 Mit der Ausweitung der Untersuchungsgegenstände lassen sich dabei auch „Erweiterungen verbinden, die den Prozesscharakter von Kultur und das kritische Potential der Interkulturalität deutlicher noch ins Bewusstsein heben.“23 Die Konzeption des Bandes gliedert sich in vier übergreifende Bereiche, wobei sich die Beiträge in den ersten beiden Abschnitten mit ihrem Fokus auf Luxemburg zwischen Regionalität und Internationalität bzw. den Migrationsraum Luxemburg eher klassischen Themenfeldern der Interkulturalitätsforschung widmen. Die zweite Hälfte des Bandes versucht diesen Rahmen zu erweitern und geht zum einen räumlich Über die Grenzen Luxemburgs hinaus, wenn es um Reisen als interkulturelles Phänomen geht, zum anderen geht es um theoretisch-methodische Akzentverschiebungen, die das kritische Potential der Interkulturalitätsforschung über postkoloniale Ansätze sowie über eine stärkere Betonung des experimentellen Charakters interkultureller Prozesse zu stärken suchen (Interkulturalität – Postkolonialität – Experimentalität).

Details

Seiten
226
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653067743
ISBN (ePUB)
9783653957822
ISBN (MOBI)
9783653957815
ISBN (Hardcover)
9783631674925
DOI
10.3726/978-3-653-06774-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Interkulturalität Identität Grenzregion Mobilität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 226 S.

Biographische Angaben

Eva Wiegmann (Band-Herausgeber:in)

Eva Wiegmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Sie wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf promoviert und war anschließend FNR und Marie-Curie-Actions Stipendiatin an der Universität Luxemburg.

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Titel: Interkulturelles Labor
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