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Rekonstruktionen interkultureller Kompetenz

Ein Beitrag zur Theoriebildung

von Nadine Stahlberg (Autor:in)
©2016 Dissertation 434 Seiten

Zusammenfassung

Interkulturelle Kompetenz ist anerkanntermaßen ein komplexes Konstrukt. Dies führt zu Schwierigkeiten in der Theoriebildung. Es existieren zwar einige Modelle, die versuchen, das Konstrukt abzubilden; diese basieren aber zumeist allein auf theoretischen Überlegungen. Versuche der empirischen Untermauerung finden sich nur unzureichend. Empirische Verfahren zur Erfassung interkultureller Kompetenz wiederum sind zum Teil problematisch, da sie – oftmals quantitativ ausgerichtet – wesentliche Gütekriterien nicht erfüllen. Die Untersuchung reagiert auf beide Desiderata: In Abgrenzung zu den gängigen quantitativen Verfahren rekonstruiert sie die interkulturelle Kompetenz von internationalen Studierenden auf der Grundlage von qualitativen Interviews. Die Studie erprobt hiermit einen neuen Ansatz für die Beschreibung interkultureller Kompetenz. Grundlage der Rekonstruktionen ist ein eigenes Modell, das, wie die Autorin anhand vieler Beispiele belegt, in all seinen Komponenten empirisch abgesichert ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Danksagung
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Hintergrund und Problemstellung
  • 1.1 Zielsetzung, Fragestellung und Design der Studie
  • 1.1 Aufbau der Arbeit
  • Teil I: Theorie
  • 2. Theoretische Grundlagen
  • 2.1 Kulturverständnis
  • 2.1.1 Zur aktuellen Diskussion des Kulturbegriffs
  • 2.1.2 Schlussfolgerungen für das eigene Kulturverständnis
  • 2.2 Interkulturelle Kommunikation und Interaktion
  • 2.2.1 Kommunikation und Kultur
  • 2.2.2 Interkulturelle Kommunikations- und Interaktionssituationen
  • 2.2.3 Der „Dritte Raum“ als Kulturkonzept der interkulturellen Kommunikation
  • 2.2.4 Zusammenfassung der Kernpunkte
  • 2.3 Kompetenzverständnis
  • 2.3.1 Zur aktuellen Diskussion des Kompetenzbegriffs
  • 2.3.2 Terminologische Abgrenzung
  • 2.3.3 Schlussfolgerungen für das eigene Kompetenzverständnis
  • 3. Definitionen und Konzepte der interkulturellen Kompetenz
  • 3.1 Begriff und Begriffsbestimmung
  • 3.1.1 Der Begriff der interkulturellen Kompetenz
  • 3.1.2 Definition des Begriffs der interkulturellen Kompetenz
  • 3.2 Modelle der interkulturellen Kompetenz
  • 3.2.1 Interkulturelle Kompetenz als multidimensionales Konstrukt
  • 3.2.2 Forschung zur interkulturellen Kompetenz seit den 1990er Jahren
  • 4. Entwicklung eines theoretischen Modellansatzes interkultureller Kompetenz
  • 4.1 Strukturelle Überlegungen zur Beschreibung interkultureller Kompetenz
  • 4.1.1 Zu den Dimensionen interkultureller Kompetenz
  • 4.1.2 Zur Generik und Spezifik interkultureller Kompetenz
  • 4.1.3 Zu den konzeptionellen Anforderungen an das Konstrukt interkulturelle Kompetenz
  • 4.2 Diskussion der in der Forschung vorgeschlagenen Kategorien
  • 4.2.1 Die affektive Dimension
  • 4.2.2 Die perzeptive Dimension
  • 4.2.3 Die kognitive Dimension
  • 4.2.4 Die pragmatisch-kommunikative Dimension
  • 4.2.5 Die reflexive Dimension
  • 4.2.6 Zusammenhänge und Wechselverhältnisse
  • 4.3 Zusammenfassung
  • 5. Erfassung vs. Rekonstruktion interkultureller Kompetenz
  • 5.1 Forschungsüberblick zur Erfassung und Rekonstruktion interkultureller Kompetenz
  • 5.1.1 Verfahren zur Erfassung: Probleme, Herausforderungen, Kritik
  • 5.1.2 Qualitative Rekonstruktion interkultureller Kompetenz
  • 5.2 Fazit für die eigene Studie: Ein Plädoyer für die qualitative Rekonstruktion
  • Teil II: Methodik
  • 6. Methodik der Datenerhebung und -auswertung
  • 6.1 Das qualitative Interview als offene und ganzheitliche Forschungsmethode
  • 6.2 Gütekriterien
  • 6.2.1 Gewährleistung der Validität in der vorliegenden Untersuchung
  • 6.2.2 Transferabilität statt Generalisierbarkeit
  • 6.3 Bedingungen der Interviewsituation
  • 6.3.1 Das Interview als interkulturelle Kommunikationssituation
  • 6.3.2 Reisemetapher – Forschen als Reise
  • 6.3.3 Subjektivität der Forscherin
  • 6.4 Die Form des Interviews
  • 6.5 Der Interviewleitfaden: Vorannahmen und Aufbau
  • 6.5.1 Das leitfadenorientierte Interview
  • 6.5.2 Der Leitfaden
  • 6.5.3 Situationstypen
  • 6.6 Rahmenbedingungen der Datenerhebung
  • 6.6.1 Das Datenkorpus
  • 6.6.2 Probeinterviews
  • 6.7 Das Transkriptionssystem
  • 6.8 Datenerhebung der Lehrenden
  • 6.8.1 Teilnehmende Beobachtung
  • 6.8.2 Strukturierte Leifadeninterviews
  • 6.9 Methodik der Auswertung
  • 6.9.1 Qualitative Inhaltsanalyse – induktive und deduktive Auswertung zur Ausdifferenzierung eines Kategoriensystems
  • 6.9.2 Entwicklung des Kategoriensystems als fortlaufender Überarbeitungsprozess
  • 6.9.3 Begründung der exemplarischen Analyse und des Vorgehens
  • 6.9.4 Gütekriterien der Auswertung
  • Teil III: Datenauswertung
  • 7. Induktive und deduktive Kategorienanalyse: Bestandteile der interkulturellen Kompetenz internationaler Studierender
  • 7.1 Die affektive Dimension
  • 7.1.1 Respekt und Akzeptanz (respektierende-akzeptierende Einstellung)
  • 7.1.2 Ethnorelative Einstellung
  • 7.1.3 Offene Grundhaltung
  • 7.1.4 Interesse, Neugier, Interkulturelle Lernbereitschaft
  • 7.1.5 Positive Einstellung
  • 7.1.6 Veränderungs- und Annäherungsbereitschaft
  • 7.1.7 Ambiguitätstoleranz
  • 7.1.8 Emotionale Stabilität
  • 7.1.9 Selbstvertrauen und positives Selbstbild
  • 7.2 Die perzeptive Dimension
  • 7.2.1 Wahrnehmung kultureller Differenzen
  • 7.2.2 Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten
  • 7.2.3 Differenzierte Wahrnehmung
  • 7.3 Die kognitive Dimension
  • 7.3.1 Kulturspezifisches Wissen und Verständnis
  • 7.3.2 Kulturtheoretische Kompetenz
  • 7.3.3 Eigene Positionierung
  • 7.4 Die pragmatisch-kommunikative Dimension
  • 7.4.1 Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit
  • 7.4.2 Beziehungskompetenz
  • 7.4.3 Fähigkeit zur Bedeutungsaushandlung
  • 7.4.4 Konflikt- und Problemlösefähigkeit
  • 7.4.5 Synergiefähigkeit
  • 7.4.6 Effektiver Umgang mit Stereotypen
  • 7.4.7 Flexibilität
  • 7.4.8 Umsetzung von Wissenserwerbs- und Wissenserweiterungsstrategien
  • 7.4.9 Angemessenes Verhalten und Transfer
  • 7.4.10 Empathie und Perspektivenwechsel
  • 7.5 Die reflexive Dimension
  • 7.5.1 Reflektierte Auseinandersetzung mit dem Selbst und der eigenen Kultur
  • 7.5.2 Reflektierte Auseinandersetzung mit dem Anderen
  • 7.6 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 8. Beispielhafte Rekonstruktion der interkulturellen Kompetenz einer internationalen Studierenden
  • 8.1 Selbstwahrnehmung
  • 8.1.1 Affektive Dimension
  • 8.1.2 Perzeptive Dimension
  • 8.1.3 Kognitive Dimension
  • 8.1.4 Pragmatisch-kommunikative Dimension
  • 8.1.5 Reflexive Dimension
  • 8.1.6 Fazit der Rekonstruktion anhand selbstwahrnehmungsbasierter Daten
  • 8.2 Fremdwahrnehmung
  • 8.2.1 Affektive Dimension
  • 8.2.2 Kognitive Dimension
  • 8.2.3 Pragmatisch-kommunikative Dimension
  • 8.2.4 Reflexive Dimension
  • 8.2.5 Perzeptive Dimension
  • 8.2.6 Fazit der Fremdwahrnehmung
  • 8.3 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
  • 9. Schluss
  • 9.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 9.1.1 Ergebnisse zur ersten Zielsetzung
  • 9.1.2 Ergebnisse zur zweiten Zielsetzung
  • 9.2 Kritische Reflexion der Untersuchung
  • 9.2.1 Reflexion der Ergebnisse
  • 9.2.2 Methodische Reflexion
  • 9.2 Ausblick
  • 9.3.1 Anknüpfungspunkte für die Forschung
  • 9.3.2 Didaktisch-konzeptioneller Wert der Ergebnisse
  • Literatur
  • Anhang
  • Definitorische Übersicht
  • Fragebogen (interkulturelles Profil)
  • Leitfaden für die Interviews mit den Studierenden
  • Leitfaden für die Interviews mit den Lehrenden

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Abbildungsverzeichnis

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Tabellenverzeichnis

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Danksagung

Mein Dank gilt all jenen, die mich bei der Fertigstellung meiner Dissertation, die hier in gekürzter Version erscheint, unterstützt haben – sowohl durch Anregungen, Ratschläge und Kritik als auch durch motivierende Worte und aufmunternden Beistand. Folgende Personen möchte ich besonders hervorheben:

Frau Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne danke ich für die Übernahme der Erstbegutachtung meiner Dissertation – insbesondere dafür, dass sie trotz ihres Wechsels in die Vizepräsidentschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und ihrer zahlreichen neuen Aufgaben und Verpflichtungen weiterhin meine Arbeit betreut hat. Weiterhin gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Birgit Schädlich als Zweitgutachterin für ihr stets offenes Ohr für mein Thema und ihre sehr wertvollen Ratschläge und motivierende Unterstützung.

Für zahlreiche fruchtbare Treffen danke ich meinen ehemaligen Mitdoktorandinnen und -doktoranden der Interkulturellen Germanistik. Der rege Austausch sowie das interessierte und auch kritische Nachfragen haben mich stets zum Weiterdenken angeregt. Insbesondere danke ich Julia Schmidt und Yassir El Jamouhi für unzählige individuelle Diskussionen, die mich vielfach zu kreativen Ideen und Lösungsansätzen inspirierten. Euer beständiges Interesse an der Fertigstellung meiner Dissertation hat mir insbesondere in kritischen Schaffensphasen neuen Antrieb gegeben. Danke für eure Freundschaft und euren wertvollen, unterstützenden Beistand.

Des Weiteren danke ich Dr. Melanie Brinkschulte als ehemaliger Kollegin für ihr konstruktives Feedback. Gern erinnere ich mich an unsere Gespräche zurück, die mir bei der Herausforderung halfen, den Überblick über komplexe Zielsetzungen und riesige Datenmengen nicht zu verlieren.

Außerordentlicher Dank für die stetige mentale Unterstützung gilt außerdem meinem Lebensgefährten Jan. Er hat sich immer mit mir über das Voranschreiten der Arbeit gefreut und mich genauso in jenen Phasen unterstützt, in denen ich über Probleme grübelte und mit unzufriedenen Ergebnissen haderte. Dies hat maßgeblich zu meiner Motivation und damit zur Fertigstellung meiner Dissertation beigetragen.

Genauso geprägt hat diese Dissertation der große Optimismus meiner Schwester Nathalie, die in vollster Überzeugung darauf vertraute, dass in absehbarer Zeit ein sinnvoller Beitrag für die wissenschaftliche Forschungsdiskussion erscheinen wird. Danke für den Motivationsanschub und Vertrauensvorschub. ← 15 | 16 →

In besonderem Maße möchte ich schließlich meinen Eltern danken, die mir im Leben so viel ermöglicht haben, mich stets meinen Weg haben gehen lassen und mich in meinen Entscheidungen immer unterstützt haben.

Ein großer Dank gebührt außerdem den Studierenden und Lehrenden, die sich dazu bereit erklärt haben, an einem Interview mit mir teilzunehmen.

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1. Einleitung

1.1 Hintergrund und Problemstellung

Die Internationalisierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen wird immer wichtiger. Der Blick über kulturelle und nationale Grenzen hinaus begünstigt die Entwicklung von Forschung und universitärer Bildung, denn er ermöglicht internationale Forschungsprojekte, sprach- und kulturübergreifende Bildungsangebote, Kooperationen und Austausch. Der internationale Austausch führt an vielen deutschen Universitäten zu einer zunehmend internationalen Studierendenschaft. Weltweite Kooperationsvereinbarungen und -programme zwischen den Universitäten sowie zahlreiche Förderprogramme, Stipendien und Austauschprogramme, z. B. des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, unterstützen den globalen wissenschaftlichen Austausch und die Studierendenmobilität. Auch als dauerhafter Studienstandort, um ein vollständiges Studium, einen Masterabschluss oder ein Aufbaustudium (z. B. den Legum Magister LLM) zu absolvieren, gewinnt Deutschland zunehmend an Attraktivität. Im Jahr 2011, dem Jahr der Datenerhebung für die vorliegende Untersuchung, waren insgesamt 11,4 % Studierende anderer Nationalitäten an deutschen Hochschulen eingeschrieben, davon 8,3 % Bildungsausländer sowie 3,1 % Bildungsinländer.1 Insbesondere die Zahl der ausländischen Studienanfänger (Bildungsausländer) erreichte mit über 66.400 und einer Steigerung um 9 % zum Vorjahr einen neuen Höchststand (vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst 2012). Im Wintersemester 2013/2014 stieg die Zahl ausländischer Studierender in Deutschland erstmals auf über 300.000 an, die Zahl ausländischer Studienanfänger erstmals auf über 100.000 (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). Da die Zahlen stetig zunehmen, sieht die derzeitige Präsidentin vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), Prof. Margret Wintermantel, die Umsetzung der vom DAAD formulierten Strategie 2020, nämlich das Ziel, bis 2020 die Zahl ausländischer Studierender auf 350.000 zu steigern, auf einem guten Weg. Dieses Ziel ist gleichzeitig in der Internationalisierungsstrategie der Wissenschaftsminister ← 17 | 18 → von Bund und Ländern sowie im Koalitionsvertrag verankert (vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst 2014).

Auch die Georg-August-Universität Göttingen verzeichnet einen großen Zulauf an internationalen Studierenden und Promovierenden2, für die interkulturelle Begegnungen und Konstellationen zum Studienalltag gehören. Im Wintersemester 2013/14 waren 12,2 % ausländische Studierende gemessen an der Gesamtzahl der Studierenden an der Universität Göttingen eingeschrieben (davon 10,5 % Bildungsausländer und 1,7 % Bildungsinländer), im Jahr der Untersuchung 2011 waren es 11,2 % (9,6 % Bildungsausländer und 1,6 % Bildungsinländer) (vgl. Georg-August-Universität Stabsstelle Controlling 2014). Der zunehmende Anteil anderer Nationalitäten und Kulturen führt zu einem verstärkten Interesse daran, die Art und Weise, wie internationale Studierende mit dem Studienalltag in einer neuen (kulturellen) Umgebung sowie mit anderen internationalen Studierenden umgehen, näher zu betrachten. Der internationale Austausch bedeutet für die Studierenden, Wege zu finden, sich in der Begegnung mit anderen Denk- und Verhaltensweisen und anderen Wertvorstellungen zurechtzufinden,

Die Fähigkeit, sich über kulturelle Grenzen hinweg zu verständigen und interkulturelle Begegnungssituationen so zu gestalten, dass ein sinnvolles Zusammenleben und -arbeiten möglich ist, wird damit zu einer wichtigen Qualifikation. Die Erforschung dieser Fähigkeit, hier als interkulturelle Kompetenz bezeichnet, ist zu einem zentralen Forschungsgegenstand geworden, der aus den verschiedensten Disziplinen beleuchtet wird. Für die internationale Hochschulentwicklung wird interkulturelle Kompetenz „als wichtiger und zukunftsweisender Beitrag“ (Schumann 2012: 28) betrachtet.

Der Begriff interkulturelle Kompetenz an sich ist in der Forschung allerdings umstritten. Zunehmend wird in den letzten Jahren dafür plädiert, ihn durch den Begriff der transkulturellen Kompetenz abzulösen, da dieser den gesellschaftlichen Strukturen und einem durchlässigen Kulturbegriff besser gerecht werde (u. a. Welsch 1995). In Anlehnung an einen umfangreichen Forschungsdiskurs wird hier am Begriff der interkulturellen Kompetenz festgehalten, der als übergeordneter Begriff verwendet wird und trans- und multikulturelle Entwicklungen inkludiert. Die Gründe für diese Entscheidung werden in Kapitel 2 erläutert. ← 18 | 19 →

Hinsichtlich der Thematik interkulturelle Kompetenz lässt sich insbesondere in den letzten beiden Dekaden auf eine intensive Forschung zurückblicken. Zahlreiche Disziplinen haben Beiträge zur Auseinandersetzung geliefert (vgl. Kap. 3). Zwar sind auf diese Weise bereits viele Vorschläge für mögliche Modellansätze zur interkulturellen Kompetenz in den Diskurs eingegangen, jedoch basieren sie zumeist auf theoretischen Überlegungen und sind anhand „intuitiver Plausibilitätskriterien und alltagsweltlicher Vorannahmen“ (Straub 2007: 42, Hervorhebung im Original) organisiert. Die Mehrheit der existierenden Modellansätze ist nicht empirisch belegt, und diejenigen, die doch empirisch abgeleitet sind, werden nur selten methodisch präzisiert und reflektiert (vgl. Straub 2007: 41f.). Bisher existieren diesbezüglich nur wenige Ausnahmen, wie bspw. das Developmental Model of Intercultural Sensitivity (DMIS) (Bennett 1993) sowie das Modell Byrams (1997), das kürzlich durch Eberhardt (2013) empirisch aufgearbeitet wurde. Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass es an empirisch belegten Modellen der interkulturellen Kompetenz fehlt.

Das enorme Interesse verschiedenster Disziplinen am Konstrukt interkulturelle Kompetenz führt zu einer großen Uneinheitlichkeit im Verständnis dessen, was interkulturelle Kompetenz ist und was sie beinhaltet (vgl. dazu Rathje 2006). Während einige Forscher dies zunächst bemängelten und nach einem noch ausstehenden Konsens suchten (u. a. Müller/Gelbrich 2001, Deardorff 2006), setzt sich bei anderen immer mehr die Ansicht durch, dass ein einheitliches Verständnis gar nicht erstrebenswert und erforderlich ist (u. a. Bolten 2011, Schondelmayer 2010, Straub 2007). Die Vielfalt an unterschiedlichen, disziplingebundenen Ansätzen wird eher als Bereicherung gesehen. Je nach Kontext und Vorhaben wird interkulturelle Kompetenz in einer bestimmten Weise verstanden, definiert und operationalisiert. Interkulturelle Kompetenz sollte daher stets als disziplingebunden und kontextspezifisch betrachtet werden. Hieraus leitet sich die Notwendigkeit ab, für den vorliegenden Kontext der internationalen Studierenden ein klares, spezifiziertes Konzept zu entwickeln und auszudifferenzieren.

In der Forschung wird interkulturelle Kompetenz gemeinhin als komplexes Konstrukt aus verschiedenen Dimensionen betrachtet, auch wenn die einzelnen Spezifizierungen der Dimensionen im Diskurs divergieren. Eine klassische Einteilung liefern sog. Drei-Komponenten-Modelle, welche die Dimensionen Wissen, Einstellungen und Handeln unterscheiden (u. a. Bolten 2006a, Gertsen 1990, Chen/Starosta 1996, Müller/Gelbrich 2001, Straub 2007, Straub et al. 2010, Stüdlein 1997). Den Dimensionen werden wiederum einzelne Teilkomponenten3 ← 19 | 20 → zugeordnet, die insgesamt das Konstrukt interkulturelle Kompetenz beschreiben (u. a. Bolten 2006a, Chen/Starosta 1996, Straub 2007, Straub et al. 2010). Eine solche Zuordnung von einzelnen Teilkomponenten zu übergeordneten Dimensionen findet auch in der vorliegenden Untersuchung statt. Hier wird allerdings anlehnend an erweiterte Konzepte der interkulturellen Kompetenz dafür argumentiert, dass die Dimensionen der gängigen Drei-Komponentenmodelle um eine perzeptive und eine reflexive Dimension erweitert werden müssen (u. a. Byram 1997, Casper-Hehne 2008a, Deardorff 2004, 2009, Fantini 2000, Fantini/Tirmizi 2006).

Die bisherige Forschung ist sich somit zwar einerseits darüber einig, dass interkulturelle Kompetenz sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt, jedoch klärt sie andererseits noch nicht ausreichend die Frage, wie die einzelnen Bestandteile zusammenhängen. Zwar wird davon ausgegangen, dass interkulturelle Kompetenz „nicht als Synthese, sondern als synergetisches Produkt des permanenten Wechselspiels der genannten Teilkompetenzen zu beschreiben“ (Bolten 2007b: 24) ist, jedoch bleibt unklar, wie dieses „Wechselspiel“ konkret aussieht. Die Erforschung, inwiefern die einzelnen Komponenten voneinander abhängen bzw. Voraussetzung füreinander sind, d. h. in welcher Beziehung sie zueinander stehen, stellt ein noch weitgehend ungeklärtes Forschungsdesiderat dar (vgl. auch Straub 2007: 42f.).

Ein anderes weitgehend ungelöstes Forschungsproblem ist die Frage nach der Erforschung konkreter individueller interkultureller Kompetenzen, d. h. die Frage, wie Kompetenzen von Individuen erhoben und beschrieben werden können. Der Forschungsdiskurs ist vor allem geprägt von Verfahren, die auf die Entwicklung von Stufen interkultureller Kompetenz ausgerichtet sind, was meist mit Problemen behaftet ist (vgl. Kap. 5). Solche Bewertungsverfahren vernachlässigen sowohl die Zusammenhänge und Wechselverhältnisse der Bestandteile interkultureller Kompetenz als auch die Tatsache, dass das Erfüllen aller Kriterien (Teilkompetenzen) nicht unbedingt erforderlich sein muss, um interkulturell handlungsfähig zu sein. Häufig wird allerdings hohe interkulturelle Kompetenz mit der Erfüllung möglichst einer Vielzahl der Teilkompetenzen gleichgesetzt, niedrige Kompetenz mit dem Nicht-Erfüllen von Teilkompetenzen. Da es in der Handlungswirklichkeit allerdings nicht nur darum gehen kann, möglichst alle Teilkompetenzen zu erfüllen und die größtmögliche Ausprägung einer bestimmten Teilkompetenz gar ← 20 | 21 → im Widerspruch mit der größtmöglichen Ausprägung einer anderen stehen kann (z. B. zu starke Veränderungs- und Anpassungsbereitschaft mit einer eigenen Positionierung vgl. Kap. 4.2.1.5 und 4.2.3.3), ist ein solches Vorgehen problematisch. Vielmehr ist stattdessen die Ausgestaltung der Teilkompetenzen genauer zu betrachten. Aus diesem Grund richtet sich die vorliegende Untersuchung auf die Erforschung interkultureller Kompetenz durch Rekonstruktion und Beschreibung, anstatt Bewertungen und Stufungen interkultureller Kompetenz vorzunehmen. Hierdurch wird der Einbezug von Zusammenhängen zwischen den Teilkompetenzen eher ermöglicht.

Zudem sehen sich bisher entwickelte Verfahren zur Erfassung und Bewertung weiterer Kritik ausgesetzt, wie u. a. hinsichtlich des zugrunde liegenden Kulturbegriffs, eines sozial erwünschten Antwortverhaltens oder der Beliebigkeit ausgewählter Teilkompetenzen, die das Konstrukt interkulturelle Kompetenz stellvertretend abbilden sollen. Aus diesem Grund besteht ein Forschungsdesiderat in der Erprobung bisher weniger eingesetzter Verfahren, die den Kritikpunkten entgegenwirken können. Das qualitative Interview wird hier aus Gründen, die in Kapitel 5 und 6 aus forschungsthematischer sowie methodologischer Sicht erläutert werden, als ein solches Verfahren betrachtet.

Anhand dieses Überblicks über die Thematik interkulturelle Kompetenz lassen sich zusammenfassend folgende Forschungslücken und Probleme festhalten:

Es fehlt an empirisch belegten Modellansätzen.

Die Modellierung bzw. Ausdifferenzierung interkultureller Kompetenz erfordert die Berücksichtigung des spezifischen Kontextes.

Bisher erfolgt kaum eine empirische Erforschung und Darstellung von Zusammenhängen zwischen den Dimensionen und Teilkomponenten interkultureller Kompetenz.

Die Frage danach, wie individuelle interkulturelle Kompetenzen erforscht werden können, ist bisher kaum zufriedenstellend beantwortet. Bisherige Verfahren sind überwiegend bewertungsorientiert und müssen sich zudem meist diverser Kritik stellen.

Aus diesen Forschungsproblemen leiten sich Zielsetzung, Fragestellung sowie Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit ab, die das Kapitel 1.2 vorstellt.

Zwar soll mit der vorliegenden Untersuchung ein kontextspezifischer Ansatz herausgearbeitet werden, für einen Überblick über das Konzept ist jedoch zunächst eine fachübergreifende Herangehensweise erforderlich, um so eine Einbindung in den Gesamtdiskurs zu skizzieren. Einer kontextspezifischen Perspektive wird sich anschließend durch die empirische Ausdifferenzierung genähert. Darüber hinaus ist der Kontext ‚Auslandsstudium in Deutschland‘ an mehrere Disziplinen ← 21 | 22 → anschlussfähig. Im Vordergrund steht zwar der Hochschulkontext, gleichzeitig sind aber zum einen bedingt durch die Position als Schnittstelle zwischen Schule und Beruf, zum anderen aufgrund der Zielgruppe Deutsch als Fremdsprachenlernende auch weitere Blickrichtungen einzubeziehen. Sowohl der Diskurs in der interkulturellen Fremdsprachendidaktik (u. a. Antor 2006, Byram 1997, 2000, Fantini 2000, Göbel/Buchwald 2008, Hu/Byram 2009, Schulz/Tschirner 2008, Volkmann et al. 2002, Weidemann et al. 2010, Yang 2007) und Austauschforschung (u. a. Fantini/Tirmizi 2006, Thomas et al. 2007) als auch in der interkulturellen Bildungsforschung (u. a. Deardorff 2004, 2006, Leenen et al. 2002) und interkulturellen Pädagogik (u. a. Auernheimer 2006) sowie ferner in der interkulturellen Psychologie (u. a. Thomas 1991, 1993, 2003a, van der Zee/van Oudenhoven 2000) und in den Kommunikationswissenschaften (u. a. Chen/Starosta 1996) werden damit bedeutsam. Dass sich hier trotz der Zielgruppe internationale Studierende, die Deutsch als Fremdsprache lernen, nicht etwa nur auf den Kontext des Fremdsprachenunterrichts gestützt werden kann und soll, ist damit zu begründen, dass es hier nicht um die Vermittlung fremdsprachlicher Kenntnisse, es also nicht konkret um interkulturelle Kompetenz im Zusammenhang des Fremdsprachenunterrichts geht. Vielmehr steht der Studienalltag allgemein im Vordergrund, in dem – losgelöst vom Sprachunterricht – Interaktionen entstehen. Angesiedelt im weiterführenden Bildungsbereich lassen sich hier bereits ansatzweise Situationen wie im Arbeitsleben vorfinden, wie beispielsweise das Zusammenarbeiten in internationalen Gruppen oder im Umgang mit öffentlichen Behörden. Daher werden neben dem Hochschulkontext (u. a. Schumann 2012) bewusst Forschungsperspektiven aus Arbeit und Weiterbildung, d. h. Aspekte einer berufsbezogenen interkulturellen Kompetenz, in die Auseinandersetzung einbezogen (u. a. Leenen et al. 2002). Entsprechend erlangen auch wirtschaftliche Perspektiven Relevanz (u. a. Bolten 2001a, 2006a, Kühlmann 2004, Müller/Gelbrich 2001, Stüdlein 1997).

1.2 Zielsetzung, Fragestellung und Design der Studie

Zielsetzung

Aus dem Bedarf, eine sich am Kontext orientierende Konzeption interkultureller Kompetenz zu präzisieren sowie ein empiriegeleitetes Konzept zu entwickeln, das auch Zusammenhänge zwischen den Bestandteilen konkretisiert, geht die erste Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung hervor. Entsprechend besteht diese darin, einen Ansatz zur Beschreibung interkultureller Kompetenz für den Kontext ‚Auslandsstudium internationaler Studierender in Deutschland‘ zu entwickeln, indem spezifische Teilkompetenzen als Bestandteile der interkulturellen Kompetenz ← 22 | 23 → auf Basis empirischer Daten rekonstruiert und kategorisiert werden. Bei der Entwicklung des Kategoriensystems sollen erste Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Dimensionen sowie den Teilkompetenzen herausgearbeitet werden, um dem Bedarf einer empirischen Absicherung diesbezüglicher theoretischer Annahmen zu entsprechen.

Das zweite Anliegen der Untersuchung leitet sich aus der bereits ebenfalls genannten, viel umstrittenen Thematik der Erforschung individueller interkultureller Kompetenz ab. Da bisherige Ansätze eher problematisch einzuschätzen sind, soll hier anhand der in der Forschung zur interkulturellen Kompetenz vergleichsweise weniger verwendeten Methode des qualitativen Interviews interkulturelle Kompetenz rekonstruiert werden. Dieses Anliegen wendet sich ab von Verfahren, die bewertungsorientiert vorgehen, und richtet sich auf eine Beschreibungsebene.

Im Sinne qualitativer Forschung soll hier demzufolge nicht untersucht werden, ob eine individuelle Person sich interkulturell kompetent verhält und welche ‚Kompetenzkriterien‘ sie erfüllt. Im Interesse steht vielmehr, was sie im interkulturellen Kontext wahrnimmt und reflektiert, wie sie handelt und welche kognitiven und affektiven Aspekte dabei eine Rolle spielen. Es geht um die Rekonstruktion von Kompetenzen und nicht um das Erfassen derselben. Von dem Begriff des Erfassens wird sich im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung distanziert. Wenn im Folgenden vom Erfassen gesprochen wird, dann nur in Bezugnahme auf die in der bestehenden Forschung verwendeten Begrifflichkeiten.

Die Rekonstruktion der interkulturellen Kompetenz wird anhand einer exemplarischen Analyse der Interviewdaten einer ausgewählten Studierenden durchgeführt. Eine zweite Datenerhebung – Interviews mit Lehrenden – prüft, inwiefern anhand der Methode des Interviews interkulturelle Kompetenz von Individuen rekonstruiert werden kann.

Leitende Fragestellungen für die Arbeit

Wie beschrieben gliedert sich die Zielsetzung der Arbeit in zwei Teile. Das Design der Untersuchung ist entsprechend der beiden Zielsetzungen angelegt und beinhaltet zwei Auswertungsteile, die jeweils durch spezifische, forschungsleitende Fragen begleitet werden.

Untersuchungs- und Auswertungsteil 1:

i. Was macht die Spezifik interkultureller Kompetenz von internationalen Studierenden aus?

Welche Komponenten der Forschungsdiskussion können in ihrem Nutzen für interkulturelle Situationen bestätigt werden? ← 23 | 24 →

Bilden die Komponenten des theoretischen Modellansatzes das Konstrukt interkulturelle Kompetenz umfassend ab oder legen die Daten eine Ausdifferenzierung der Komponenten nahe? Wenn ja, inwiefern?

Woran können die einzelnen Komponenten bei einer Person festgemacht werden? Wie äußern sie sich?

ii. Lassen sich Zusammenhänge zwischen den Komponenten erkennen? Verweisen die Daten auf bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse?

Details

Seiten
434
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653066906
ISBN (ePUB)
9783653957945
ISBN (MOBI)
9783653957938
ISBN (Hardcover)
9783631674796
DOI
10.3726/978-3-653-06690-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Fremdsprachenforschung Internationalisierung Interkulturelles Lernen Qualitative Interviews
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 434 S., 10 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Nadine Stahlberg (Autor:in)

Nadine Stahlberg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Lehre und Lernen (ZLL) an der Technischen Universität Hamburg sowie freiberufliche schreib- und hochschuldidaktische Trainerin.

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Titel: Rekonstruktionen interkultureller Kompetenz
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