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Kinder- und Jugendliteraturforschung- 2014/2015

Mit einer Gesamtbibliografie der Veröffentlichungen des Jahres 2014

von Bernd Dolle-Weinkauff (Band-Herausgeber:in) Hans-Heino Ewers-Uhlmann (Band-Herausgeber:in) Carola Pohlmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Dissertation 295 Seiten

Zusammenfassung

Die einundzwanzigste Folge des Jahrbuchs bietet Beiträge von Florian Krobb zur exotischen Abenteuerliteratur und von Bernd Dolle-Weinkauff zum Kriegsbilderbuch während des wilhelminischen Kaiserreichs sowie von Peter Neumann über seine Kindheits- und Jugendlektüren während der Zeit des «III. Reichs». Hans-Heino Ewers befasst sich mit dem Verhältnis Michael Endes zur deutschen Romantik und die Kairoer Germanistin Nermine El Sharkawy untersucht die interkulturell ausgerichtete Literatur junger muslimischer Autorinnen. Reinbert Tabbert dokumentiert den Prozess der Entstehung eines Bilderbuchs von Binette Schroeder, und Gudrun Marci-Boehncke untersucht die Perspektiven der Kinder- und Jugendliteratur in der modernen digitalen Welt.
Die 21. Folge schließt das Jahrbuch bei Peter Lang ab.

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Die erste Folge dieses Jahrbuchs erschien 1995, wobei im Titel das Vorjahr 1994 genannt wurde, bei dem es sich um das Berichtsjahr der Bibliographie handelte. Die Nennung des jeweiligen Vorjahrs wurde beibehalten. Übernommen wurde die für Forschungsjahrbücher klassische Einteilung in Berichte, Beiträge, Forschungsberichte, Rezensionen und Bibliographie (der Forschungsliteratur), die sich bis zu dieser Folge gehalten hat, ergänzt lediglich durch die Rubrik Miszellen (ab der 12. Folge). Zu den anfänglichen Herausgebern zählten Hans-Heino Ewers, Ulrich Nassen, Karin Richter und Rüdiger Steinlein, ab der siebten Folge 2000/2001 trat Carola Pohlmann hinzu. Die fünfte Folge war dem Werk Erich Kästners anlässlich dessen 100. Geburtstags gewidmet. Ab der siebten Folge erschienen das Frankfurter Institut für Jugendbuchforschung und die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin als Herausgeber, wobei Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heino Ewers und Carola Pohlmann als Verantwortliche zeichneten. Ab der 20. Folge 2013/2014 fungierten diese als Herausgeber. Durchgehend erschien das Jahrbuch „in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz wie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung“.

Verlegerisch wurde das Jahrbuch in den ersten neun Jahren seines Erscheinens von der Metzlerischen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart betreut. Der Verlag hatte sich ab den 1970er, verstärkt ab dem 1980er Jahren, zu einem der führenden Publikationsorgane der neueren deutschen Kinder- und Jugendliteraturforschung entwickelt und eine Reihe wichtiger Bibliographien und Handbücher herausgebracht. Ab der zehnten Folge erschien das Jahrbuch im Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main, wo ab 1998 die Reihe „Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien“ geführt wurde, die es mittlerweile auf über 100 Titel gebracht hat.

Von der ersten Folge an zeichnete Karin Laubrecht, Mitarbeiterin der Bibliothek des Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt, verantwortlich für die Forschungsbibliographie. Deren Engagement verdankt der Forschungszweig eine bibliographische Berichterstattung von einmaliger Dichte und Aktualität. Grob geschätzt dürften in den bisherigen 21 Folgen – Mehrfachnennungen eingeschlossen – ca. 34.000 selbständige und unselbständige Titel verzeichnet worden sein. Für die ersten vier Folgen gehörte Gina Weinkauff der Redaktion an, die danach durchgehend in den Händen von Bernd Dolle-Weinkauff lag. Von der fünften bis zur achten Folge war Ulrich Nassen für den Rezensionsteil verantwortlich, der mit der neunten Folge von 2002/2003 von Carola Pohlmann übernommen wurde. Das Layout der letzten vier Folgen wurde von Anke Harms, M.A., bewerkstelligt.

Die bisher erschienenen 21 Folgen enthalten insgesamt 68 Berichte über Tagungen, Ausstellungen und sonstige Ereignisse. Die Zahl der wissenschaftlichen Beiträge beläuft sich auf 130, von denen 23 von ausländischen Forscherinnen und Forschern stammen. Die Vergabe von Forschungsberichten erwies sich als schwierig; deren Gesamtzahl beläuft sich auf 18, wobei in den letzten 12 Folgen nur drei Forschungsberichte enthalten sind. Miszellen sind nur in den letzten neun Folgen anzutreffen; deren Zahl beläuft sich auf 21, wobei ein Drittel von ausländischen Beiträgerinnen und Beiträgern herrührt. Die Zahl von 30 nicht aus Deutschland, Österreich und der ← 7 | 8 → Schweiz stammenden Verfasserinnen und Verfassern ist eine Folge der internationalen Verflechtung der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Einen beachtlichen Umfang haben die Rezensionsteile angenommen, die zwischen 17 (1. Folge) und 45 (12. Folge), im Durchschnitt 33 Besprechungen pro Folge enthielten. Die Gesamtzahl der abgedruckten Rezensionen beläuft sich – unter Einschluss der Kurzrezensionen – auf 683, so dass etwa gut 700 Titel besprochen sein dürften. Damit erweist sich das Jahrbuch mit seinen bislang erschienenen 21 Folgen als eine beeindruckende Dokumentation der Kinder- und Jugendliteraturforschung zweier Jahrzehnte (1994 bis 2014).

Ein wissenschaftliches Jahrbuch dieser Form und diesen Umfangs kann vollumfänglich nicht von kleinen wissenschaftlichen Gesellschaften getragen und finanziert werden. Es bedarf hierzu wissenschaftlicher bzw. bibliothekarischer Einrichtungen, die über die nötige Ausstattung verfügen. Das Frankfurter Institut für Jugendbuchforschung wie die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Berliner Staatsbibliothek haben bislang die Herausgabe dieses Jahrbuchs als eine ihrer vornehmlichen Aufgaben angesehen und erhebliche Personal- und Sachmittel darin investiert. Diese lassen sich im Nachhinein nur schwer beziffern, doch dürften sie die durch die Forschungsgesellschaften erfolgte Förderung um ein Mehrfaches übersteigen. Dennoch ist die Zusammenarbeit mit den Forschungsgesellschaften eine entscheidende Voraussetzung für die Publikation des Jahrbuchs gewesen, garantiert sie doch einen gesichteten basalen Absatz, was verlagsseitig eingefordert wird. Unser Jahrbuch hat jedoch im Laufe seines Erscheinens einen darüber hinausgehenden stabilen Absatz gewonnen und darf deshalb als vergleichsweise gut eingeführt gelten.

Der Forschungszweig der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft erlebt gegenwärtig einen Generationenwechsel, von dem auch die bisherigen Herausgeber betroffen sind. Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heino Ewers und Carola Pohlmann haben deshalb beschlossen, ihre Herausgeberschaft mit dieser Folge zu beenden, um deren Übernahme durch die nachfolgende Generation zu ermöglichen. Sie wünschen sich eine – wie immer auch modifizierte – Fortsetzung dieses, wie sie meinen, durchaus erfolgreichen Projekts; sie sind der Auffassung, dass der Forschungsbereich auch in Zukunft dieser traditionellen Form der Außendarstellung bedarf, um in wissenschaftlichen Horizont sichtbar zu bleiben, was durch einen Netzauftritt allein nicht gewährleistet ist, so unbestritten dessen Notwendigkeit auch sein mag.

Die Herausgeber danken allen, die – sei es als Beiträger, Rezensenten, Redakteure, Korrekturleser oder Layouter – zum Erfolg des Jahrbuchs beigetragen haben. Ihr Dank gilt insbesondere den Teams in Berlin und Frankfurt, die unter Einsatz ungezählter Arbeitsstunden für das rechtzeitige Erscheinen einer jeden Folge und dessen anschließende Versendung an die Mitglieder der beteiligten Forschungsgesellschaften gesorgt haben.

Bernd Dolle-Weinkauff (Frankfurt/M.), Hans-Heino Ewers (Frankfurt/M.), Carola Pohlmann (Berlin) ← 8 | 9 →

Beiträge

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Florian Krobb (Maynooth / Irland)

„… ein Vorbild deutscher Tüchtigkeit, deutscher Gewissenhaftigkeit und deutscher Treue“. Die Gestalt des Emin Pascha in jugendliterarischen Texten um 1890

Around 1890, a flood of publications appeared on the German book market that were devoted to the fate of Eduard Schnitzer (1840–1892) who, under the assumed name of Emin Pasha, had served as Egyptian governor of the Sudanese province of Hatt-el-Estiva (Equatoria) since 1878 and had been isolated from any communication with the outside world after the Mahdist uprising (culminating in the capture of Khartoum in January 1885). The article analyses four exemplary books for young readers in which Emin’s activities as scientist and explorer, his heroism in the face of adversity, his successes in combating slavery, his benevolent rule and effective administration, and his role as antagonist to other colonial powers’ desires to annex the province are presented (partly in fictionalised form) with the aim of instilling in a new generation of Germans a sense of colonial mission an providing them with a model for their own attitude towards colonial space.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fand der sprichwörtliche Wettlauf um einen Platz an der Sonne hauptsächlich in Afrika statt.1 Afrika, besonders das innere Afrika der Superlative, das tiefste, heißeste, dunkelste Afrika erregte auch das meiste forscherische und wissenschaftliche Interesse, da hier Erkenntnisse aus allen möglichen wissenschaftlichen Disziplinen erwartet wurden. Eine Führungsrolle fiel der Geographie zu, die mit der Beschreibung der natürlichen Verhältnisse und der Anlage von Karten überhaupt erst die Wege öffnete, die zu botanischen, zoologischen, geo- und mineralogischen, ethnographischen, anthropologischen und anderen Entdeckungen führen sollten.

Nach historischen Stoffen und der von James Fenimore Cooper, den deutschen Amerika-Schriftstellern Sealsfield, Gerstäcker, Möllhausen und anderen popularisierten und von Karl May dann zu prägnantester Ausprägung gebrachten Wildwestthematik rangierten afrikanische Abenteuer quantitativ wohl nur an dritter Stelle der deutschen Jugendbuchproduktion zwischen etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Verlust des deutschen Kolonialreiches am Ende des 1. Weltkrieges.2 Dass Afrika „eigentlich immer ein Stiefkind der Jugendliteratur“ (Pleticha 1985, 19) gewesen sei, kann für die Zeit des Wilhelminischen Reiches jedoch nicht bestätigt werden. Auch noch danach, oder gerade danach,3 behauptet sich das Jugendbuch mit afrikanischem ← 11 | 12 → Schauplatz nicht nur in der revisionistischen Kolonialpropaganda der Weimarer Zeit, im Zusammenhang der nostalgischen Beschwörung verlorener Größe und als Instrument der Vorbereitung der deutschen Jugend auf zukünftige Taten; gerade jetzt, nachdem das Territorium kein tatsächlicher eigener Besitz mehr ist, wird es recht eigentlich zum Wunsch-, Projektions- und Phantasieraum ausgestaltet (vgl. Springman 2012).4 In diesem Prozess knüpfte die Jugendliteratur nach 1918 allerdings an eine zu diesem Zeitpunkt bereits Jahrzehnte lange Tradition an.

Im Feld der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die ‚reifere Jugend‘ und besonders deren männliche Vertreter produzierten Bücher verwischt sich die Unterscheidung von Sachtext und Fiktion. Veröffentlichungen zu wirklichen Pionieren der Forschung und tatsächlichen Entdeckungsfahrten stellen besonders in Aufbereitungen für eine junge Leserschaft deren abenteuerliche Leistungen, Erfindungsreichtum und Geschick, ihr Bestehen von Gefahren usw. in den Vordergrund.5 Fiktionale Abenteuergeschichten bedienen sich reichhaltig aus faktischen Reiseberichten vor allem was landes- und naturkundliches Hintergrundwissen, was Informationen zu indigenen Bedingungen, Einwohnern, Ausrüstung und Itinerarien, aber auch was die Plausibilität von bestimmten Geschehnissen und Konstellationen angeht. Afrikanische Jugendbücher sind Teil eines weitreichenden Diskurses über den Ausgriff ins räumlich Ferne, der diskursiven Aneignung der außereuropäischen Welt sowie der Definition der eigenen, der deutschen Rolle in kolonialem Terrain.6

Die Aufteilung Afrikas auf der Berliner Kongokonferenz von 1884–85, die dem Deutschen Reich die Hoheit über die Protektorate Kamerun, Togo, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika sicherte, stellt zwar einen wichtigen Wendepunkt in der europäischen Kolonialgeschichte dar, nicht aber in gleichem Maße in der Diskurs- und Literaturgeschichte über Afrika. Der Unterschied zum Davor ist, dass nun das annektierte Territorium als ‚eigenes‘ betrachtet und als nationales Handlungsfeld ausgemessen wurde, will heißen, dass sich ab jetzt die Kolonialmacht Deutschland und nicht mehr nur die Gruppe verdienter individueller Forscher, Abenteurer und Missionare über sich selbst und ihre Rolle im kolonialen Raum verständigte und die Jugend in diesem neuen Selbstverständnis angemessene Einstellungen und (potentielle) Verhaltensweisen einweisen wollte. Der Niederschlag dieses Bewusstseinswandels in der Literatur ist allerdings ein gradueller. Erst ganz am Ende der 1880er Jahre bildet sich eine Kolonialliteratur im eigentlichen Sinne heraus; also eine belletristische Literatur, die im kolonialen Raum, meist in eigenen deutschen Protektoraten angesiedelt und von Autoren mit einschlägiger eigener Erfahrung verfasst war.

Als Pionierin dieses Genres darf Frieda von Bülow (1857–1909) gelten, die von 1889 an in schneller Folge in Deutsch-Ostafrika spielende Romane und Erzählungen herausbrachte. (Vgl. Warmbold 1989) Bis zur Mitte der 1890er Jahre bildete sich auch in Deutschlands Metropolen eine voll ausgeprägte Kolonialkultur heraus. Als deren ← 12 | 13 → Kennzeichen nennt Dirk Göttsche die Ausbildung von Ethnologie und Anthropologie als Kolonialwissenschaften; die Entstehung der Tropenmedizin als eigenständige Disziplin; die Gründung von Instituten für die Lehre der Sprachen der kolonialen Untertanen; Kolonialausstellungen, Völkerschauen und anderen öffentliche Schaustellungen von ‚exotischen‘ Menschen; die Verarbeitung ‚exotischer‘ Motive in der Werbung und den bildenden Künsten; schließlich wiederholte Parlamentsdebatten über die Belange der Protektorate (Göttsche 2013, 48 f.). Zu einer derartigen imperialen Kultur gehörte gewiss die Aufklärung der Jugend über Deutschlands Rolle in der Welt und deren Erziehung zu kolonialem Einsatz und Enthusiasmus.

Auch in der Jugendliteratur lässt sich eine graduelle Entwicklung beobachten: Diese geht von einer Teilhabe an einem allgemeineuropäischen Afrikadiskurs, in dem die Begegnungen mit dem Unbekannten und potentiell Gefährlichen den Abenteuerimpetus liefern und das mutige und selbstaufopfernde Verschieben der Wissensgrenzen, die Selbstbehauptung und Bewährung den Stoff der Didaxe und Vorbildlichkeit bilden,7 hinüber zu Abenteuern, die deutsche kolonialistische Herrschaftsansprüche geltend machen, und Helden, die deutsche Präsenz und deutsches Selbstverständnis als Ordnungsmacht in Übersee verkörpern. Natürlich kommen auch schon im vorkolonialen Abenteuerroman Aspekte der deutschen Berufung zur Herrschaft über Afrika zu Sprache, werden spezifische deutsche Tugenden als zur Führung und Hebung des rückständigen Kontinents besonders geeignet gepriesen, wird ein spezielles Verhältnis deutscher Forscher und Eroberer zum Afrikanisch-Indigenen postuliert (vgl. Krobb 2014b), doch avisieren diese Texte ‚Afrika‘ allgemein als Terrain des Tätigwerdens und noch nicht als ein zu unterwerfendes Herrschaftsgebiet.

Es lassen sich in der Afrika gewidmeten Jugend- und Abenteuerliteratur des hier anvisierten Zeitraums einige dominante Stoffkreise herausarbeiten, die sich im einzelnen Werk oft überschneiden und überlagern. Die Errungenschaften von Forschern und Entdeckern gelten besonders in jugendliterarischen Nacherzählungen als anregender Lesestoff. Fiktive Geschichten konstruieren Handlungen oft um die Auseinandersetzungen zwischen schwarzen indigenen Bevölkerungen, arabischen oder ‚nubischen‘ moslemischen Sklavenhändlern und europäischen Reisenden oder Siedlern, die sich natürlich dem Schutz der Sklavereiopfer verschreiben. Der Mahdi-Aufstand im Sudan, der sich in den frühen 1880er Jahren gezielt gegen die Versuche der ägyptischen Regierung und ihres britischen Statthalters Charles Gordon wandte, das Sklavereiunwesen in dieser südlichsten Provinz des Vizekönigreichs zu unterdrücken, zog das Interesse der gesamten Weltöffentlichkeit auf sich und rückte die Frage der afrikanischen Sklaverei stärker als zuvor in die europäische Öffentlichkeit. Auch die Popularität von Stoffen aus dem Burenkrieg erhellt, wie die Kinder- und Jugendliteratur aktuelle politische Anlässe und kollektive Vorlieben in der Gesamtbevölkerung aufgreift.8 Gleiches gilt für die Aufmerksamkeit, die Emin Pascha weltweit auf sich zog. ← 13 | 14 →

Das deutsche Interesse an dem Schicksal des Arztes Eduard Schnitzer (1840–1892), der unter seinem angenommenen arabischen Namen und osmanischen Titel Berühmtheit erlangte, ist aufs Engste verquickt mit dem Interesse an dem sogenannten Mahdi-Aufstand. Seit dem Fall von Khartoum im Januar 1885 galt Emin als von der Außenwelt abgeschnitten. Die (vom Bruder Wilhelm Junkers, eines anderen im Sudan feststeckenden deutschen Reisenden, finanzierte) Expedition Gustav Adolf Fischers vom Osten und der Zug Oskar Lenz’ vom Westen her (beide 1885–1886) vermochten es nicht, über die Region der großen afrikanischen Inlandseen in Emins Provinz zu gelangen (so dass die Befürchtung wuchs, dass in umgekehrter Richtung auch für Emin ein Durchkommen unmöglich war). Erst durch die erfolgreiche Ausreise seines Freundes Wilhelm Junker aus dem Sudan 1886 gelangten verlässliche Nachrichten über die Bedingungen nach Europa, unter denen der deutsche Gouverneur auf seinem Posten aushielt.9 Die Sorge um das Schicksal Emins sowie die Begehrlichkeit auf die Landstriche, die er nur noch nominell im Auftrag des ägyptischen Khedive hielt, die aber als de facto herrenlos angesehen wurden, wuchs und kulminierte in den Expeditionen von Carl Peters und Henry Morton Stanley, von denen allerdings nur Stanley erfolgreich war und Emin tatsächlich erreichte. Dass Carl Peters Unternehmung ergebnislos verlief, wurde Schikanen der Engländer angelastet, die eine Ausweitung des deutschen Einflussbereiches nördlich und westlich des Victoria-Sees verhindern wollten.

Die gemeinsame Ausreise Emins und Stanleys nach langen Kontroversen 1888–89 und das gespannte Verhältnis zwischen dem Deutschen und dem Briten, die entsetzlichen Verluste an Menschenleben, die Stanleys Expedition forderte, Emins Sturz von einem Balkon während einer Willkommensfeier in Bagamojo im Dezember 1889 und dann seine Ermordung auf einer gemeinsam mit Franz Stuhlmann begonnenen neuen Reise ins Inland im Auftrag des Deutsch-Ostafrikanischen Reichskommissars Hermann von Wissmann im März 1892 bilden die letzten Etappen dieses epischen Stoffes, die zu Interpretation und Ausschmückung einluden. Seit etwa 1887 riss der Strom der Emin gewidmeten Publikationen nicht mehr ab; seinen Höhepunkt erreichte er um 1890–91 nach der Rückkehr Emins nach Deutsch-Ostafrika: Reden wurden gehalten und Bücher veröffentlicht10; Augenzeugen meldeten sich zu Wort, die Hauptbeteiligten gaben Berichte und Aufzeichnungen heraus11 – und Popularisierer sowie von politischen Interessen Geleitete bemächtigten sich seiner, um kommerzielles oder politisches Kapital aus seinem legendären Ruf zu schlagen. Der frühe Tod des Protagonisten und das Fehlen einer autoritativen eigenen Rechtfertigungsschrift erleichterten es, sich auf ihn als Kronzeugen für verschiedene kolonialpolitische Interessen zu berufen. Die Emin gewidmete Jugendliteratur ist in diesem Kontext angesiedelt und als Teil der Erhebung dieser Gestalt zu einer Ikone deutschen Auftretens auf dem afrikanischen Kontinent anzusehen.

In der Beschäftigung mit Emin Pascha überschnitten sich das Interesse am herausragenden, vorbildhaften Individuum und an zeitgeschichtlichen Ereignissen. Emin galt als einer der penibelsten, gründlichsten und umfassendsten Sammler von Pflanzenspezies und besonders von Vogelbälgen, als einer der profundesten Kenner ← 14 | 15 → der von ihm bereisten, teils sehr abgelegenen Landstriche, als Fachmann auch für ethnische und kulturelle Verhältnisse im Sudan. Emin galt weiterhin als vorbildlicher Verwaltungsbeamter, der alle Tugenden verkörperte, die sich besonders seine deutschen Landsleute als ihre eigenen Stärken im Umgang mit Afrika und den verschiedensten Gruppen der afrikanischen Bevölkerung zuschrieben. Man sah ihn als ‚Vater‘ seiner Provinz, als gerechten Regenten und umsichtigen Landesentwickler, als verständnisvollen Freund seiner Schutzbefohlenen. Und er galt als erfolgreicher Bekämpfer der Sklavenhändler, weil er das harte Vorgehen und die Radikalität seiner Vorgänger (besonders des Briten Samuel Baker) mied und stattdessen Verständnis für örtliche Sitten und Wirtschaftsformen aufbrachte, weil er durch Förderung von Landbau und Handwerk wirtschaftliche Alternativen entwickelte. Auf kulturellem, sozialem, verwaltungstechnischem Gebiet galt er als die wirkungsvollste Antithese zu Allem, was am wilden inneren Afrika als problematisch, verbesserungsbedürftig, fremd und abstoßend angesehen wurde. In Deutschland wuchs seine Reputation zu der des eigentlichen Widersachers der gefährlichen, unberechenbaren, fanatischen Mahdisten, wohingegen die Briten, die Schutzmacht Ägyptens, als militärische wie als moralische Versager geschmäht wurden.

Entwicklungsgeschichtlich markieren die Emin Pascha gewidmeten Jugendschriften den Übergang vom Pioniergeist der Entdecker und Abenteurer zu einem zielgerichteten politisch und wirtschaftlich motivierten Eingreifen wie auch den Umschwung von einer gesamteuropäischen und eher forscherischen Perspektive auf Afrika zu einem imperialistischen Blick auf den Kontinent: Emin Pascha ist der erste deutsche Kolonialheld, dem eine deutlich andere Funktion im öffentlichen Bewusstsein und in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft als imperiale Kolonialmacht zukommt, beruhte doch zuvor der Ruhm von Afrikareisenden primär auf Forschungsleistungen, Entdeckungen und dem Bestehen von Gefahren wie auch das Schicksal von vermissten und verschollenen Reisenden mit einem quasi-sakralen Nimbus als Märtyrer der Wissenschaft umgeben wurde (vgl. Stüssel 2011, Krobb 2012). Emin Pascha partizipiert noch an diesem Nimbus, sein Ruf beruht teilweise auf der Tatsache, dass über seine genauen Umstände über Jahre hinweg keine verlässlichen Nachrichten zu erhalten waren, dass man in ihm ein weiteres Opfer Afrikas vermuten musste. Aber nun, ab Ende der 1880er Jahre, wird diese tragisch-heroische Unsicherheit unter nationale Vorzeichen gestellt, eingeordnet in ein nationales kollektives Selbstbild: „So bietet er den Seinen in der denkbar schwierigsten Lage ein Vorbild deutscher Tüchtigkeit, deutscher Gewissenhaftigkeit und deutscher Treue […].“ (Plehn 1895, 50) Emin wurde zum idealen deutschen Kolonialprotagonisten ausgerufen, seine Leistung als deutsche Leistung reklamiert, hatten seine eigentlichen Auftraggeber, die ägyptischen Vizekönige durch ihren britischen Generalstatthalter Gordon, ihn ja angeblich in einer aussichtslosen Lage allein gelassen. Großbritannien, seit 1882 de facto Kolonialmacht in Ägypten, wurde bezichtigt, seiner Verantwortung nicht gewachsen zu sein.

Dass sich mit dem Auffinden und der ‚Rettung‘ Emins Konflikte zwischen dem Deutschen und dem Engländer Henry Morton Stanley verbanden, weist auf die Eskalation der Begehrlichkeiten europäischer Mächte hin, die sich zu einem imperialistischen Muskelspiel auszuweiten begannen. In der Tat kulminierte die imperialistische Konfrontation zwischen europäischen Kolonialmächten mit der Faschoda-Krise von 1898 genau in der umkämpften, mit Emin assoziierten Region. Die verschiedenen europäischen Expeditionen zur Auffindung Emin Paschas können als Vorgeschmack ← 15 | 16 → auf spätere imperialistische Machtgebärden angesehen werden. Die Emin gewidmeten Jugendschriften trugen dazu bei, die Aufmerksamkeit der deutschen Bevölkerung auf solche afrikanisch-kolonialistischen Belange zu lenken, jungen deutschen Lesern ein Identifikationsangebot betreffs des Tätigwerdens im kolonialen Raum vorzustellen – zunächst allerdings noch verhalten, ohne Animositäten explizit werden zu lassen. Spätere Behandlungen wirken dann in eine veränderte, zunehmend von offen machtpolitischer Rivalität zwischen den europäischen Imperien geprägte historische Konstellation hinein.

Vier Beispiele mögen verdeutlichen, wie der Emin Pascha-Stoff zur Jugendlektüre bearbeitet wurde, welche Akzente die Verfasser setzten, welche literarischen Verfahren sie verwendeten und welche kolonialpolitischen, ideologischen und damit erzieherischen Ziele sie verfolgten.

Karl May: Die Sklavenkarawane

Karl May ließ zwei seiner Werke in der Weltregion spielen, die im Bewusstsein zeitgenössischer Leser primär mit dem Auftreten des als Mahdi bekannten islamischen Propheten Mohammed Achmed und dem Ausharren des deutschen Statthalters in ägyptischen Diensten Eduard Schnitzer im Süden des Sudan verbunden war: die Mahdi-Trilogie (erstmals 1891–1893 in Deutscher Hausschatz; erste Buchausgabe 1896) und Die Sklavenkarawane (erstmals 1889–1890 in Der gute Kamerad; erste Buchausgabe 1893). Im Mahdi tritt der Prophet selbst auf als fanatischer Verbündeter der Sklavenjäger, die der Protagonist zusammen mit Repräsentanten des ägyptischen Staates verfolgt und zur Strecke bringt. Der moslemische Fakir hat in diesem Roman noch nicht die Machtposition erreicht und die Gefolgschaft um sich geschart, die ihn ab ca. 1884 zu einer ernsthaften Herausforderung der europäischen Ansprüche werden ließ.12 Kara ben Nemsi agiert in diesem Roman gleichsam stellvertretend für Emin Pascha, was besonders evident ist in seiner Kooperation, später auch in seinem Konflikt mit dem örtlichen, als Reis Effendina bezeichneten ägyptischen Polizeioffizier. Von letzterem unterscheidet er sich nicht nur durch Landeskenntnis, Umsicht und Effektivität, sondern auch, wie alle Helden bei Karl May, durch den Willen zu verzeihen und zu bekehren. Was den örtlichen Autoritäten nicht gelingt, schafft der Deutsche, dessen christliches Handeln noch dazu aus Gegnern Verbündete schmiedet. Im Rückblick von etwa einem Jahrzehnt imaginiert Karl May also wirkungsvolles Handeln im kolonialen Raum, eines, das dem brodelnden Konflikt vielleicht die Schärfe genommen hätte und das deswegen als Richtschnur gelten kann für eigenes Handeln in Gegenwart und Zukunft. Und er weist über seinen fiktiven Helden seinen Lesern und Landsleuten eine Rolle im kolonialen Raum zu,13 wie sie in der Wirklichkeit Emin verkörpert hatte (der in diesem Text allerdings nicht vorkommt).

In der Erzählung Die Sklavenkarawane wird Emin Pascha dagegen namentlich erwähnt – und zwar mehrmals und von unterschiedlichen Gewährsleuten. Der erste ← 16 | 17 → ist ein als Elefantenjäger identifizierter nubisch-arabischer Nobler, der im Verlauf der Handlung zu einem Alliierten der deutschen Reisenden im Kampf gegen die Sklavenjäger wird. Diese Gestalt baut May zu einem Sympathieträger auf, dessen kulturelle und religiöse Identität deswegen Respekt verdient, weil er ein Bildungsniveau erreicht hat, das es ihm ermöglicht, den Europäern fast auf Augenhöhe zu begegnen. Aber gerade deswegen ist seine Anerkennung der europäischen Überlegenheit umso überzeugender. Der folgende Dialog legt die Grundlage des Verhältnisses zwischen diesem Einheimischen und einem der deutschen Romanhelden:

Details

Seiten
295
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065039
ISBN (ePUB)
9783653958232
ISBN (MOBI)
9783653958225
ISBN (Hardcover)
9783631667965
DOI
10.3726/978-3-653-06503-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Deutsches Kaiserreich 1871-1918 Bilderbuch Kolonialliteratur Lektürebiographie Moslemische Migrantin Fantasy
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 295 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Bernd Dolle-Weinkauff (Band-Herausgeber:in) Hans-Heino Ewers-Uhlmann (Band-Herausgeber:in) Carola Pohlmann (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Kinder- und Jugendliteraturforschung- 2014/2015
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