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Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten: Eine empirische Analyse mit Praxiskommentaren

Christel Salewski, Stefan Stürmer, Jörn Meyer und Anne-Kathrin Meyer

von Anette Rohmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Andere 136 Seiten

Zusammenfassung

Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, anhand einer repräsentativen Stichprobe festzustellen, ob und inwieweit familienrechtspsychologische Gutachten wissenschaftlichen Mindestanforderungen genügen. Zudem wird die Art und Qualität der Erfassung von Bindung analysiert. Die Stichprobe umfasst 116 Gutachten, die aus Vollerhebungen an vier Amtsgerichten stammen. Die Untersuchung zeigt, dass nur eine Minderheit der Gutachten zentrale fachliche Standards erfüllt. Ebenso wird in der überwiegenden Zahl der Gutachten nicht nachvollziehbar beschrieben, welches theoretische Konzept von Bindung der entsprechenden Diagnostik zugrunde liegt und wie Interpretationen zur Bindung der Kinder psychologisch-wissenschaftlich begründet werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Problemstellung
  • 1.2 Die vorliegende Publikation
  • 2 Theoretischer und praktischer Hintergrund
  • 2.1 Rechtsgrundlagen
  • 2.1.1 Begriffsdefinitionen: Familie, Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Umgang, Sorge
  • 2.1.2 Gesetzliche Regelungen zum Verfahren in Familiensachen
  • 2.1.3 Veränderungen der gesetzlichen Regelungen bei Familiensachen
  • 2.2 Rechtsvorschriften und berufsständische Richtlinien für die Erstellung psychologischer Gutachten
  • 2.2.1 Rechtsvorschriften
  • 2.2.2 Ethische Richtlinien der DGPs und des BDP
  • 2.2.3 Föderative Richtlinien für die Erstellung von Gutachten
  • 2.2.4 Weitere Entwicklungen
  • 2.2.5 Qualitätssicherungsmaßnahmen durch psychologische Fachverbände
  • 2.3 Psychodiagnostische Grundlagen
  • 2.3.1 Der diagnostische Prozess
  • 2.3.2 Gutachten und der diagnostische Prozess
  • 2.3.3 Bestandteile psychologischer Gutachten
  • 2.4 Familienrechtspsychologische Gutachten in der Kritik
  • 2.4.1 Presseberichte
  • 2.4.2 Empirische Untersuchungen zur Gutachtenqualität
  • 3 Die Hagener Gutachtenstudie
  • 3.1 Ziele
  • 3.1.1 Ziel 1: Kriteriengeleitete Analyse des in den Gutachten dokumentierten methodischen Vorgehens
  • 3.1.2 Ziel 2: Kriteriengeleitete Analyse der Bindungsdiagnostik
  • 3.2 Methodik und Stichprobenbeschreibung
  • 3.2.1 Gutachtengewinnung, Datenschutz und Repräsentativität
  • 3.2.2 Gutachtenstichprobe
  • 3.2.3 Sachverständige
  • 4 Ergebnisse
  • 4.1 Kriteriengeleitete Analyse des in den Gutachten dokumentierten methodischen Vorgehens
  • 4.1.1 Herleitung psychologischer Fragen
  • 4.1.2 Begründung der Auswahl der Datenerhebungsverfahren
  • 4.1.3 Psychometrische Qualität der Datenerhebungsverfahren
  • 4.1.4 Methodenkritische Interpretation von Ergebnissen
  • 4.1.5 Globalrating der wissenschaftlichen Fundierung
  • 4.1.6 Zusätzliche Analysen: Qualifikationsmerkmale des Sachverständigen
  • 4.1.7 Fazit: Qualität des (dokumentierten) diagnostischen Prozesses
  • 4.2 Diagnostik der Bindung des Kindes an primäre Bezugspersonen
  • 4.2.1 Methodisches Vorgehen
  • 4.2.2 Ergebnisse zur Bindungsdiagnostik
  • 4.2.3 Fazit: Qualität der Bindungsdiagnostik
  • 5 Diskussion
  • 5.1 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • 5.2 Potenzielle Einschränkungen
  • 5.2.1 Angemessenheit der verwendeten Prüfkriterien
  • 5.2.2 Generalisierbarkeit der Ergebnisse
  • 5.3 Rezeption
  • 5.4 Implikationen
  • 6 Praxiskommentare
  • 6.1 Praxiskommentar aus sachverständiger Sicht von Dr. Anne Huber und Jörg Paschke
  • 6.2 Praxiskommentar aus richterlicher Sicht von VRiOLG Joachim Lüblinghoff
  • 6.3 Praxiskommentar aus anwaltlicher Sicht von RA’in Birgit von Stietencron
  • 6.4 Praxiskommentar aus forensisch-wissenschaftlicher Sicht von Prof. Dr. Jérôme Endrass
  • 7 Schlusswort
  • Literatur

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1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 169.833 Ehen geschieden, 136.064 minderjährige Kinder waren von der daraus resultierenden Veränderung der familiären Konstellation betroffen (Statistisches Bundesamt, 2014a). In vielen Fällen führt eine Scheidung zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern darüber, wie die Sorge, der Aufenthalt und der Umgang für die gemeinsamen Kinder geregelt werden sollen. In anderen Fällen kommt es zwischen Eltern und Jugendämtern zu Auseinandersetzungen vor dem Familiengericht. Die Jugendämter in Deutschland haben allein im Jahr 2013 42.123 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, da sie sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation befanden (Statistisches Bundesamt, 2014b). Familiengerichte haben auf Antrag des Jugendamts nachfolgend nicht selten zu klären, ob zum Schutz des Kindes dauerhafte Einschränkungen der Elternrechte anzuordnen sind. Vor allem in strittigen Fällen beauftragen Familiengerichte psychologische Sachverständige, die die gerichtlichen Entscheidungen durch die Erstellung eines Gutachtens unterstützen sollen. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz geht in seinem am 01.06.2015 veröffentlichten Referentenentwurf davon aus, dass in FamFG-Verfahren in Deutschland jährlich insgesamt bis zu 270.000 familienrechtspsychologische Gutachten eingeholt werden (BMJV, 2015a).

Familienrechtspsychologische Gutachten liefern an vielen Familiengerichten einen unverzichtbaren Beitrag zur Entscheidungsfindung. Seit ihrer Etablierung in der Rechtspraxis sind familienrechtspsychologische Gutachten allerdings immer wieder Gegenstand kontroverser Bewertungen. Begutachtete Eltern und ihre Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte kritisieren den Begutachtungsprozess und die resultierenden Empfehlungen, Richterinnen und Richter und andere professionelle Verfahrensbeteiligte äußern Zweifel an der Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Gutachten, und auch bei Personen, die nicht direkt in familienrechtspsychologische Begutachtungen involviert sind, gibt es ein öffentliches Interesse an der Thematik, wie zahlreiche Medienberichte belegen (siehe z. B. FAZ, 12.11.2012; PANORAMA, 31.10.2013; PANORAMA 14.08.2014; SZ, 14.02.2012; WDR, 13.10.2014; ZDFzoom, 26.10.2011; 3sat Wissenschaftsdoku, 16.4.2015). Nicht zuletzt existiert ein regelrechter Markt für methodenkritische Stellungnahmen zu familienrechtspsychologischen Gutachten, in welchem psychologische Sachverständige die Qualität und Stichhaltigkeit der Gutachten von Kolleginnen und Kollegen im Nachhinein bewerten und Aussagen über deren ← 9 | 10 → Verwertbarkeit treffen. Die Motivationslagen der Gruppen, die Kritik an der Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten äußern, sind sicherlich sehr unterschiedlich. Trotzdem scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass eine intensivere Befassung mit den Qualitätsstandards dieser Gutachten erforderlich ist.

Familiengerichtliche Entscheidungen können gravierende Eingriffe in die Lebenswege von Kindern und Eltern beinhalten. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen für die Begutachteten und die Gesellschaft müssen Gutachten, die der Vorbereitung familiengerichtlicher Entscheidungen dienen, höchsten Qualitätsstandards entsprechen. Der Gesetzgeber hat zwar die allgemeinen Anforderungen für die Bestellung zum/r Sachverständigen in §§ 402–414 ZPO geregelt, die genauen Qualifikationsanforderungen an familiengerichtliche Sachverständige wurden bisher jedoch nur in Ausnahmefällen (z. B. bei freiheitsentziehenden Maßnahmen) verbindlich definiert. Ebenso wenig existieren aktuell rechtsverbindliche Qualitätskriterien für die Erstellung von psychologischen Gutachten in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Zwar liegen von der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen fachlich verbindliche Richtlinien für die Erstellung psychologischer Gutachten vor (Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen, 1994), und in der einschlägigen Gutachtenliteratur (z. B. Salzgeber, 2011; Westhoff & Kluck, 2008) werden diese Vorgaben expliziert. Die Befolgung dieser Richtlinien liegt mangels rechtlicher Vorgaben aber im Ermessen der einzelnen psychologischen Sachverständigen und sie ist dabei für das Familiengericht fachlich nur eingeschränkt nachvollziehbar. Die Einhaltung dieser Standards ist aber unabdingbar, um Verfahrensgerechtigkeit und damit die Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Familiengericht zu gewährleisten und materielle (z. B. Zweitgutachten) sowie ideelle (z. B. psychische Beeinträchtigungen) Folgekosten von nicht fachgerechten psychologischen Gutachten zu verhindern (Rohmann, 2008).

Für den deutschsprachigen Raum liegen trotz der hohen Relevanz des Themas für die Rechtspraxis kaum empirische Untersuchungen zur Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten vor. Tatsächlich gab es in den vergangenen 30 (!) Jahren nur vier Untersuchungen größerer Stichproben, die die Qualitätsstandards familienrechtspsychologischer Gutachten systematisch analysierten. Die Erste stammt aus den 1980er-Jahren von einer Projektgruppe an der Universität Freiburg, und wurde vom damaligen Bundesjustiz- und vom Bundesfamilienministerium finanziert; die Ergebnisse blieben allerdings unveröffentlicht (Werst & Hemminger, 1989). Eine zweite Studie wurde von der Arbeitsgruppe von Professor Westhoff an der Technischen Universität Dresden durchgeführt; die Ergebnisse finden sich in zwei als Bücher veröffentlichten Dissertationsarbeiten (Klüber, 1998; Terlinden-Arzt, 1998). Eine dritte Untersuchung wurde von ← 10 | 11 → Leitner in einer familienrechtspsychologischen Fachzeitschrift publiziert (Leitner, 2000). In allen drei früheren Untersuchungen wurden unabhängig voneinander gravierende Qualitätsmängel in einem erheblichen Teil der jeweils untersuchten Gutachten festgestellt. Dass auch von anderen Seiten Zweifel an der Qualität der Gutachten geäußert werden, geht im Übrigen ebenso aus neueren Befragungen von Verfahrensbeteiligten hervor (z. B. Dürr & Dürr-Aguilar, 2012).

Details

Seiten
136
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653066210
ISBN (ePUB)
9783653958744
ISBN (MOBI)
9783653958737
ISBN (Paperback)
9783631674567
DOI
10.3726/978-3-653-06621-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Familienrecht Sachverständige Berufsständische Richtlinien Empirische Untersuchung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 136 S., 4 Tab., 3 Graf.

Biographische Angaben

Anette Rohmann (Band-Herausgeber:in)

Stefan Stürmer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen im Bereich der Intergruppenforschung, der Forschung zu prosozialem Verhalten und im Bereich der familienrechtspsychologischen Diagnostik. Anette Rohmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Community Psychology an der FernUniversität in Hagen. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen in den Bereichen der Akkulturation, der Förderung interkultureller Kompetenzen, des Abbaus von Vorurteilen und der erfolgreichen Gestaltung des Theorie-Praxis Austauschs. Gemeinsam geben sie die Reihe «Beiträge zur Angewandten Psychologie» heraus.

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138 Seiten