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Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip im EU-Kartellbußgeldrecht

von Moritz Dästner (Autor:in)
©2016 Dissertation 256 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor beleuchtet die Geltung, Reichweite und Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips auf Tatbestandsebene des Kartellbußgeldrechts der EU. Er zeichnet die Entwicklung dieser quasi-strafrechtlichen Fundamentalgarantien nach, untersucht ihre Einhaltung in den Wettbewerbsvorschriften sowie durch die EU-Kommission und Unionsgerichte und zeigt Lösungswege auf. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV weder dem Wortlaut nach noch durch die Praxis hinreichend bestimmt sind. Verstöße gegen das Schuldprinzip identifiziert er hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Kapitel I. Einleitung
  • Kapitel II. Die Reichweite des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips im Unionsrecht
  • A. Vorfrage: Die Rechtsnatur des EU-Kartellbußgeldes
  • B. Der unionsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz
  • I. Quellen
  • II. Inhalt, Zweck und Umfang
  • 1) Bisherige Entwicklung als ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz
  • a) Tatbestandsbestimmtheit
  • b) Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalt
  • 2) Verankerung in der EU-Grundrechtecharta
  • 3) Einfluss der EMRK und des EGMR
  • III. Sonderproblem: Die Bestimmtheit bei Blankettstrafgesetzen
  • IV. Ergebnis
  • C. Das unionsrechtliche Schuldprinzip
  • I. Bisherige Entwicklung als ungeschriebener Rechtsgrundsatz
  • II. Verankerung in der EU-Grundrechtecharta und in der EMRK
  • III. Ergebnis
  • D. Fazit
  • Kapitel III. Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip auf Tatbestandsebene der Bußgeldnormen
  • A. Verstöße gegen Maßnahmen der Kommission
  • I. Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003
  • 1) Formelle Bestimmtheit
  • a) Die Verweisungstechnik
  • b) Die Abhängigkeit der Bußgeldhaftung von Anordnungen der Kommission
  • 2) Die materielle Bestimmtheit
  • II. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. b), c) VO 1/2003
  • 1) Formelle Bestimmtheit
  • a) Die Verweisungstechnik
  • b) Die Abhängigkeit der Bußgeldhaftung von Beschlüssen der Kommission
  • 2) Materielle Bestimmtheit
  • B. Die Wettbewerbsverstöße
  • I. Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes
  • 1) Die formelle Bestimmtheit der Verweisung in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a) VO 1/2003
  • 2) Die materiellrechtliche Bestimmtheit von Art. 101 Abs. 1 AEUV
  • a) Der funktionale Unternehmensbegriff
  • i) Die Konzeption
  • ii) Verstoß gegen den „Verordnungsvorbehalt“
  • iii) Ausformung des Unternehmensbegriffs durch die Praxis
  • a. Die Differenzierung zwischen materiellem und Verfahrensrecht sowie die Inkonsequenz bei der Anwendung
  • b. Der Begriff der wirtschaftlichen Einheit
  • c. Die Rechtsnachfolge
  • i. Die echte Rechtsnachfolge: funktionale und wirtschaftliche Kontinuität
  • ii. Die unechte Rechtsnachfolge
  • d. Das Auswahlermessen im Verhältnis Mutter/Tochter
  • e. Zusammenfassung
  • b) Die Unternehmensvereinigung
  • i) Die Rechtsfähigkeit
  • ii) Das Verhältnis von Verstößen von Unternehmensvereinigungen zu Handlungen ihrer Mitglieder
  • iii) Exkurs: Verstöße gegen das Analogieverbot
  • a. Vereinigungen von Unternehmensvereinigungen
  • b. Vereinbarungen zwischen Unternehmensvereinigungen
  • c) Der Taterfolg
  • i) Die Wettbewerbsbeschränkung
  • ii) Die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
  • iii) Die Marktabgrenzung
  • d) Exkurs: Das Tätermodell im Europäischen Kartellbußgeldrecht
  • e) Bezwecken/Bewirken
  • II. Probleme in Bezug auf das Schuldprinzip
  • 1) Der funktionale Unternehmensbegriff
  • a) Allgemeine Bedenken gegen den funktionalen Unternehmensbegriff in Bezug auf das Schuldprinzip
  • b) Die Differenzierung zwischen materiellem und Verfahrensrecht sowie die Inkonsequenz bei der Anwendung
  • c) Die tatsächliche Einflussnahme
  • d) Die Rechtsnachfolge
  • i) Die echte Rechtsnachfolge
  • ii) Die unechte Rechtsnachfolge
  • e) Das Auswahlermessen im Verhältnis Mutter/Tochter
  • f) Zusammenfassung
  • 2) Unternehmensvereinigungen
  • a) Die Adressierung der Entscheidung an die Unternehmensvereinigung selbst
  • b) Die Adressierung der Entscheidung an die Mitglieder
  • c) Die eigenständige Haftung von Mitgliedern für die „Beteiligung“ an Verstößen von Vereinigungen
  • d) Zusammenfassung und Lösungsansatz
  • 3) Exkurs: Zum Tätermodell im Europäischen Kartellbußgeldrecht
  • 4) Bezwecken/Bewirken
  • III. Lösungsansätze
  • 1) Konkretisierung des funktionalen Unternehmensbegriffs
  • 2) Weitergehender Ansatz für die Konzernzurechnung
  • a) Grundlage: Der juristische Unternehmensbegriff
  • b) Argumente gegen den gewählten Ansatz
  • c) Täterschaft und Teilnahme im bisherigen System
  • d) Die Systematisierung von Täterschaft und Teilnahme
  • e) Konsequenzen für die Rechtsnachfolge
  • f) Konsequenzen für die Ermessensproblematik
  • g) Ergänzung der VO 1/2003
  • h) Ergebnis
  • i) Fazit
  • Kapitel IV. Die Freistellungstatbestände des Art. 101 Abs. 3 AEUV und das Legalausnahmeprinzip
  • A. Systematische Grundlagen
  • B. Probleme in Bezug auf den Bestimmtheitsgrundsatz
  • I. Vorfrage: Die Bedeutung der Leitlinien und Gruppenfreistellungsverordnungen
  • II. Die tatbestandliche Bestimmtheit des Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • 1) Systematische Grundprobleme
  • a) Der relevante Markt
  • b) Einbeziehung der Ziele des Unionsrechts
  • c) Das Risiko falscher Prognosen
  • d) Die Gefahr der Änderung der Gegebenheiten
  • 2) Das erste Kriterium: Effizienzgewinne
  • a) Der Begriff des Effizienzgewinns
  • b) Die Identifikation der Vorteile
  • c) Die Höhe der Effizienzgewinne
  • 3) Das zweite Kriterium: Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn
  • a) Der Verbraucherbegriff
  • b) Die Beteiligung am entstehenden Gewinn
  • c) Die Angemessenheit der Verbraucherbeteiligung
  • d) Der Vergleich verschiedenartiger Vor- und Nachteile
  • 4) Das dritte Kriterium: Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung
  • a) Anknüpfungspunkt für die Unerlässlichkeitsprüfung
  • b) Bedeutung der Unerlässlichkeit
  • c) Erweiterung des Unerlässlichkeitskriteriums
  • d) Einschränkung des Unerlässlichkeitskriteriums
  • 5) Das vierte Kriterium: Keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren
  • a) Allgemeines
  • b) Verhältnis zu Art. 102 AEUV
  • c) Die Gesamtabwägung der Praxis
  • d) Die Auslegung des vierten Kriteriums in der Gesamtabwägung
  • 6) Zwischenfazit
  • C. Probleme in Bezug auf das Schuldprinzip
  • I. Die Anforderungen an die Unternehmen
  • 1) Allgemeines
  • 2) Das erste Kriterium: Effizienzgewinne
  • 3) Das zweite Kriterium: Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn
  • 4) Das dritte Kriterium: Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung
  • 5) Das vierte Kriterium: Keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren
  • II. Einordnung
  • 1) Zwischenfazit
  • 2) Irrtümer in der bisherigen Entscheidungspraxis
  • D. Exkurs: Entscheidungsspielräume der Kommission bei der Auslegung von Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • E. Lösungsansätze
  • I. Injustiziabilität von Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • II. Neugestaltung von Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • III. Zugeständnis eines Beurteilungsspielraums für Unternehmen
  • IV. Bußgeldverhängung nur in offensichtlichen Fällen
  • V. Beratungsschreiben in Grenzfällen
  • VI. Irrtumsregelung
  • 1) Einleitung
  • 2) Einordnung als Tatsachenirrtum
  • 3) Scharfe Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit
  • 4) Die Fahrlässigkeitsvoraussetzungen
  • 5) Kritik an der Irttumslösung
  • VII. Fazit
  • Kapitel V. Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

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Kapitel I.  Einleitung

Das Kartellrecht nimmt innerhalb der Rechtsordnung der Europäischen Union eine herausgehobene Stellung ein. Schon der EGKS-Vertrag von 1951 enthielt wettbewerbliche Regelungen und seit der Gründung der EWG durch die Römischen Verträge von 1957 ist das Kartellrecht ein wichtiger Bestandteil der Europäischen Integration. Es dient der Durchsetzung und dem Erhalt eines – weitestgehend – freien Wettbewerbs und stellt damit eine Schlüsselposition bei der Verwirklichung des ersten und wichtigsten Ziels dar, welches der Idee der EWG zugrunde lag: der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes innerhalb Europas.

Die Vorschriften des Kartellrechts haben die zahlreichen geografischen Erweiterungen des vereinten Europas ebenso weitestgehend unverändert überdauert wie die Ausdehnung dessen Kompetenzen auf nahezu alle Rechtsgebiete. Erst im Jahr 2003 ist das Kartellverfahren einer grundlegenden Systemänderung unterzogen worden. Damit hat das Kartellrecht nicht zuletzt eine Art Vorbildfunktion eingenommen und die Ausgestaltung anderer Rechtsbereiche auf europäischer Ebene beeinflusst, sowohl in legislativer, als auch in judikativer Hinsicht.

Das Kartellrecht hat einen wichtigen Beitrag zur Systematisierung des fragmentarischen Unionsrechts1 durch den EuGH geleistet. Dies liegt an der Relevanz des Europäischen Kartellrechts für heute fast alle mittelständischen, jedenfalls aber Großunternehmen, die in einem Mitgliedstaat der EU tätig sind. Die schiere Masse der Adressaten hat eine langjährige Entscheidungs- und Rechtsprechungsgeschichte hervorgebracht, in der das geschriebene Recht konkretisiert und ungeschriebene Rechtsgrundsätze benannt worden sind.

Gleichzeitig war das Kartellrecht auch das erste Rechtsgebiet im vereinigten Europa, welches für Verstöße die Verhängung von Sanktionen androhte. Diese Bußgelder haben in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Nach anfänglich zurückhaltender Anwendung ist ihre Höhe inzwischen ← 19 | 20 → in die Milliarden Euro gestiegen. Damit stellen Kartellverfahren für die Unternehmen nicht nur eine Bedrohung ihrer Unternehmenspolitik und -strategie dar, sondern bergen darüber hinaus ein erhebliches finanzielles Risiko in Form von ausufernden Bußgeldfestsetzungen, die teilweise sogar als existenzbedrohend angesehen werden.

Gleichwohl ist der Blick in der Literatur und Rechtsprechung noch immer vor allem auf die zivil- und verwaltungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Kartellrecht fokussiert. So erschöpft sich die Diskussion der Rechtssicherheit im geltenden Kartellrecht zumeist darin, als Maßstab eine gewisse Vorhersehbarkeit des Ergebnisses zu fordern, welches am Ende eines Kartellverfahrens für ein betroffenes Unternehmen herauskommen kann. Dabei stellen sich gerade hinsichtlich der Bußgelder Fragen, die angesichts der zu befürchtenden finanziellen Konsequenzen von größter Bedeutung sein können. Der Streit um die Frage der Rechtsnatur der Bußgelder dient hier als Aufhänger, da die Einordnung der Bußgeldtatbestände des Kartellrechts für die Geltung strafrechtlicher Fundamentalgarantien entscheidend ist.

Hier konkretisiert sich die soeben angesprochene Rechtssicherheit im strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Auch das Schuldprinzip verdient in diesem Zusammenhang Beachtung, denn es knüpft teilweise direkt an das Bestimmtheitsgebot an. Darüber hinaus gehen mit den relevantesten Problemen in Bezug auf den Bestimmheitsgrundsatz auch Fragen hinsichtlich des Schuldprinzips einher, so dass sich die gemeinsame Behandlung beider Rechtsgrundsätze anbietet.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Tatbestandsseite der kartellrechtlichen Bußgeldnormen des Unionsrechts2 hinsichtlich dieser Grundsätze zu untersuchen und damit eine andere Facette der Diskussion um das Europäische Kartellrecht zu beleuchten. Dafür wird zunächst eine Bestandsaufnahme in diesem Hinblick durchgeführt. Damit verbunden wird eine Einschätzung, ob und inwieweit das geltende Recht den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips genügt. Darüber hinaus werden für die aufgezeigten Probleme Lösungsansätze vorgeschlagen. Für isoliert lösbare Probleme erfolgt dies direkt im jeweiligen Kapitel. Umfassende Lösungsansätze, die sich auf die grundsätzliche Systematik auswirken, werden am Ende der jeweiligen Kapitel zu Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 101 Abs. 3 AEUV dargestellt.


1 Zur Terminologie: Durch den Reformvertrag von Lissabon ist die EU Rechtsnachfolgerin der bisherigen EG geworden und hat Rechtspersönlichkeit erlangt, Art. 1 Abs. 3 S. 3 HS 2, 47 EU. Zwar gelten die unter dem bisherigen Gemeinschaftsrecht bestehenden Rechtsgrundsätze und das sekundäre Gemeinschaftsrecht auch unter den neuen Verträgen fort, aufgrund der Rechtsnachfolge der EU und der Namensänderung des EG-Vertrags wird im Folgenden jedoch einheitlich der Terminus „Unionsrecht“ für das Recht der Europäischen Union und ihrer Vorgänger verwendet.

2 Art. 102 AEUV wird nicht behandelt.

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Kapitel II.  Die Reichweite des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips im Unionsrecht

Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip werden bislang im primären Unionsrecht nicht ausdrücklich erwähnt. Wie viele allgemeine Rechtsgrundsätze mussten sie im Laufe der Zeit – vor allem durch den EuGH – erst erarbeitet und konturiert werden. Mittlerweile ist ihre Geltung aber jedenfalls im EU-Kartellbußgeldrecht weitgehend gesichert.3 Ihr Inhalt und Umfang sind dabei in Ermangelung von Literatur und Rechtsprechung in vergleichbarer Quantität und Qualität noch immer weniger klar als ihre Entsprechungen in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Zwar enthält die EU-Grundrechtecharta4 in Art. 47 ff. auch Justizgrundrechte. Da diese jedoch erst seit dem Lissabon-Vertrag (Inkrafttreten: 01.12.2009) rechtsverbindlich ist (vgl. nunmehr Art. 6 Abs. 1 EU), existiert hierzu bislang noch keine gesicherte Praxis.

Ausgangspunkt der kartellrechtsspezifischen Überlegungen muss daher die Bestimmung von Inhalt, Umfang und auch Zweck des Bestimmtheitsgrundsatzes sowie des Schuldprinzips sein. Dazu ist in einem ersten Schritt zu erörtern, welchem Rechtsgebiet das EU-Kartellbußgeld zuzuordnen ist. Denn Inhalt und Umfang der Garantien sind abhängig von dem Rechtsgebiet, auf dem sie greifen sollen.5 Zu bestimmen ist also die Rechtsnatur des EU-Kartellbußgeldes. Nach Klärung dieser Frage werden dann darauf bezogen Inhalt, Zweck und Umfang des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips dargestellt. Da ← 21 | 22 → die Bußgeldtatbestände im EU-Kartellrecht als Blankettvorschriften ausgestaltet sind, ist dabei auf die entsprechenden Besonderheiten einzugehen.

Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieses Kapitel mit einer groben Darstellung der Rechtsgrundsätze begnügen soll, da eine umfassende Darstellung an den Kernfragen der Arbeit vorbei ginge. Sonderprobleme und Einzelfragen werden daher im Rahmen der folgenden Kapitel an den Stellen behandelt, an denen sie virulent werden.

A. Vorfrage: Die Rechtsnatur des EU-Kartellbußgeldes

Die Rechtsnatur des EU-Kartellbußgeldes entscheidet über die Anwendbarkeit und den Schutzmaßstab allgemeiner Rechtsgrundsätze.6 Nach der Rechtsprechung des EuGH existiert ein „allgemeiner“ Bestimmtheitsgrundsatz (bzw. Grundsatz der Rechtssicherheit), und zwar unabhängig davon, ob die in Frage stehenden Normen strafrechtlicher Natur sind.7 Jedoch sind an strafrechtliche Sanktionen höhere Anforderungen zu stellen, als an lediglich verwaltungsrechtliche.8

Das Schuldprinzip ist ein (i.w.S.) strafrechtlicher Grundsatz9, so dass die Bestimmung der Rechtsnatur des EU-Kartellbußgeldes von grundlegender Bedeutung für die nachfolgenden Ausführungen ist. Diese Frage ist seit jeher umstritten. Eine umfassende Darstellung der Argumentationsgänge ist jedoch nicht Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Es erfolgt vielmehr nur eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ansätze, welche als Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen dienen soll.10

Ausgangspunkt ist Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003,11 wonach Bußgelder i.S.d. Art. 23 Abs. 1, 2 VO 1/2003 keinen strafrechtlichen Charakter haben (so auch schon die Vorgängervorschrift Art. 15 Abs. 4 VO 17/6212).13 Diese Einordnung ist ← 22 | 23 → entgegen des klaren Wortlauts bis heute umstritten. Uneinigkeit besteht schon bei der Frage, ob dem europäischen Gesetzgeber überhaupt die Kompetenz zukommt, die Rechtsnatur der von ihm geschaffenen Sanktionen zu bestimmen.14 Jedenfalls für den EGMR ist diese Einordnung aufgrund dessen autonomer Auslegung nicht verbindlich.15 Allerdings kann man aus der Formulierung des Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 zumindest schließen, dass der europäische Gesetzgeber selbst keine kriminalstrafrechtliche Sanktion schaffen wollte.16 Aus den genannten Gründen ist es aber naheliegend, Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 lediglich klarstellenden Charakter beizumessen.17 Darüber hinaus spricht gegen eine kriminalstrafrechtliche Einordnung der Geldbußen, dass die Verhängung von Geldbußen in einem Verwaltungsverfahren erfolgt.18 So wird die Kommission – anders als im Strafverfahren die Staatsanwaltschaft – sowohl ermittelnd, als auch ahndend tätig, also gleich einer Verwaltungsbehörde.19 Ebenso verfügt die Kommission bei der Verhängung des Bußgeldes gem. Art. 23 Abs. 1, 2 VO 1/2003 über Entschließungsermessen (Opportunitätsprinzip),20 ein Grundsatz, der für das Verwaltungs- bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht typisch ist. Darüber hinaus fehlt dem Kartellbußgeld die sozialethische Missbilligung, die kriminalstrafrechtlichen ← 23 | 24 → Sanktionen inne wohnt.21 Folglich kann auch ohne Rückgriff auf den Wortlaut des Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 die Einordnung des EU-Kartellbußgeldes als kriminalstrafrechtliche Sanktion ausgeschlossen werden.22

Details

Seiten
256
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653063745
ISBN (ePUB)
9783653959123
ISBN (MOBI)
9783653959116
ISBN (Paperback)
9783631667576
DOI
10.3726/978-3-653-06374-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Bußgeld Wirtschaftsstrafrecht Europarecht Kartellrecht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 256 S.

Biographische Angaben

Moritz Dästner (Autor:in)

Moritz Dästner studierte Rechtswissenschaften in Bonn und Brighton. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strafrecht der Universität Bonn tätig und ist Rechtsanwalt in Düsseldorf.

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