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Historische Mündlichkeit

Beiträge zur Geschichte der gesprochenen Sprache

von Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Jörg Kilian (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 289 Seiten

Zusammenfassung

Der Band präsentiert in zwölf Beiträgen Ansätze, Methoden und Ergebnisse zur Erforschung der Geschichte der gesprochenen Sprache in unterschiedlichen Philologien. Diese zeigen einerseits die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung historischen Sprechens auf, andererseits stellen sie empirische Analysen ausgewählter Aspekte des gesprochenen Wortes aus verschiedensten Sprachräumen vor. Die Einzelanalysen behandeln die Erforschung des Sprechens über einen Zeitraum von über 2000 Jahren, vom mündlichen Lateinischen über das gesprochene Altspanische und Altniederdeutsche bis hin zu Aufzeichnungen direkter Rede in Protokollen des Altenglischen oder in mündlicher Diktion geschriebener Texte des Friesischen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • „Ist das Kunst? Oder ist es Lässigkeit?“ Zur konzeptionellen Mündlichkeit in Sallusts historiographischen Werken
  • Zur Rolle der gesprochenen Sprache bei der historischen Herausbildung und Standardisierung der romanischen Sprachen
  • Dunkle Rede, helle Köpfe: Historische Dialogforschung in der Romanistik
  • Zur Rekonstruktion historischer regionalsprachlicher Mündlichkeit aus der Perspektive der historischen Graphematik
  • Stumme Ohrenzeugen. Methodologische Überlegungen zur Rekonstruktion altschwedischer Mündlichkeit
  • Gesprochenes Niederdeutsch um 1500. Andachtsbücher aus dem Kloster Medingen als Quelle?
  • “Well! Burn me, or hang me, I will stand in the truth of Christ”: Investigating early spoken English
  • ‚Inszenierte Alltagsgespräche‘ und Sprachkontakt in Gerichtsakten Neu-Spaniens des 17./18. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur Regionalgeschichte ‚von unten‘ des amerikanischen Spanisch
  • Was fiktionale Texte über die Grammatik des gesprochenen Englischen von früher verraten
  • Theodor Heinrich Fürchtegott Hansen (1837–1923), ein schreibender Semi-Sprecher des Halligfriesischen
  • Mündlichkeit im Mehrsprachenland Nordfriesland im Spiegel sprachstatistischer Erhebungen des 19. und 20. Jahrhunderts
  • Das Prinzip „Schreib wie du sprichst!“ in der Kodifizierung der slavischen Standardsprachen (Ende 18./Anfang 19. Jahrhundert)
  • Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Vorwort

Der Titel „Historische Mündlichkeit“ des vorliegenden Bandes kann sehr weit gefasst werden, da er zugleich auf sprachtheoretische, methodische und empirische Fragestellungen verweist. Insofern dienen diese einleitenden Ausführungen dazu, das Ziel und die linguistische Einordnung der Erforschung der gesprochenen Sprache der Vergangenheit sowie ihre Untersuchungsfelder und Ansätze zu erläutern.

1.    Sprache und Geschichte

Das Ziel der Sprachwissenschaft ist auf das Verstehen von Sprache und ihrer Wesensart ausgerichtet. Ein umfassendes Verständnis kann dabei nicht nur auf dem Erkennen von Strukturen und sprachlichen Funktionsmechanismen beruhen, sondern muss auch die zeitliche Dimension von Sprache berücksichtigen. Die Historizität von Sprache ist in dieser Hinsicht nicht nur ein zentraler Gesichtspunkt für die Erforschung der Geschichte von Einzelsprachen, sondern vor allem ein Charakteristikum, welches die Sprache auch in ihrem synchronen Funktionieren in heutiger Zeit bestimmt. Denn die Sprache ist ein elementar soziales Phänomen, das sich durch wiederholtes Sprechen in Sprachgemeinschaften herausgebildet hat und daher durch die „Traditionen des Sprechens“ (SCHLIEBEN-LANGE 1983) geprägt wird, wenngleich das Sprechen immer auch ein kreativer Prozess ist, der zur freien Äußerung der Sprecher führt (s. den spannenden Sammelband EHRHARDT 2011). Dieses Spannungsfeld zwischen einer Orientierung an traditionellen Sprechweisen einerseits und freiem Nutzen oder sogar Nichtbeachten solcher Orientierungslinien andererseits macht das Sprechen aus, sowohl im aktuellen Geschehen als auch in historischer Perspektive.

2.    Sprache und Schrift

Die Sprachgeschichte ist daher mehr als ein Blick auf historische Zeugnisse, welche den Interessierten einen Einblick in die Entwicklung der Sprache erlauben. Auf den ersten Blick scheint die historische Erforschung der gesprochenen Sprache fast unmöglich zu sein, da das Sprechen insofern flüchtig ist, als es nur durch die artikulatorische Materialisierung in Form von Schallwellen akustisch messbar und auditiv wirksam wird, aber im nächsten Moment schon wieder wie Schall und Rauch verflogen ist. Zwar können Inhalte des Gesagten in den Köpfen der Adressaten des Geäußerten längerfristig wirksam sein, dennoch ist das Momentum der ← 7 | 8 → Äußerung mit Sprecherintention und Äußerungskontext vorüber. Erst das Konservieren sprachlicher Handlungen macht diese unabhängiger von der materiellen Vergänglichkeit. Für die Konservierung des Momentums der Äußerung bedurfte es eines kulturellen Paradigmenwandels, der zur Herausbildung der Schrift für die Sicherung sprachlicher Produkte führte. Dies ist über viele Jahrhunderte allein durch die Nutzung eines neuen semiotischen Systems visueller Zeichen möglich gewesen, in phonographischen Schriften in Koppelung mit den lautlichen Zeichen der mündlichen Sprache. Die Möglichkeiten der Verbindung dieser beiden Systeme für kulturelle Zwecke sind äußerst vielfältig, wie die Erforschung von Schriftsystemen aufzeigt (vgl. z. B. HAARMANN 2010, DÜRSCHEID 2012).

Dieser Systemwechsel impliziert jedoch, dass fundamentale Charakteristika des Sprechens wie die akustische Enkodierung und die Eingebundenheit in die kommunikative Situation mit gleichzeitiger Gestik, Mimik, gemeinsamen Teilen des Kontextwissens etc. verloren gehen und nur wenige Elemente wie die sprachlichen Einheiten, nach zugrundeliegenden Prinzipien des (gelehrten) Schriftgebrauchs, für die graphische Enkodierung ausgewählt werden. Das schließt die Aufnahme vieler für banal gehaltener Umstände in die Auswahl der zu konservierenden Elemente aus und führt zu einer Umformung des Gesprochenen zum Produkt des schriftlichen Textes hin, welche die primären Elemente der Äußerung von Wörtern und Sätzen in einer bestimmten, historisch herausgebildeten und tradierten graphischen Form aufzeichnen. Diese Graphiekonventionen müssen den Rezipienten der Texte bekannt sein, um diese dekodieren zu können.

Die vorwiegend mündlich gesprochenen Sprachen sind im Laufe der Geschichte zunächst durch antike Kultursprachen wie Griechisch oder Latein, später durch die immer weiter ausgebauten Volkssprachen selbst schriftsprachlich überdacht worden (vgl. das Konzept der Dachsprache bei KLOSS 1978). Mit der bedeutenden Ausbreitung der Schriftkenntnisse und schriftlicher Dokumente in der Frühen Neuzeit geht eine Veränderung des Schriftgebrauchs einher, der für die Belange der Gruppe der Gebildeten, die überhaupt lesen und schreiben konnten, eine stärkere Normierung erfährt. Bei diesen Schreibern handelt es sich hauptsächlich um Humanisten, die sich an den antiken kulturellen Prestigesprachen Latein und Griechisch orientieren und so die Sprachen und v. a. die Orthographie auf diese historischen Vorbilder hin ausrichten.

Entscheidend ist also, dass Schriftkenntnisse eine hoch angesehene kulturelle Praxis waren und sind, welche ein Bildungsniveau voraussetzen, das die Nutzung dieser Praxis auf der Grundlage eines Schriftsystems ermöglicht. Daher war die Anwendung von Schriftkenntnissen in den vergangenen Jahrhunderten in bedeutendem Maße auf kulturell für adäquat gehaltene Gegenstände bezogen, so ← 8 | 9 → dass mit der Schrift v. a. gelehrte Diskurstraditionen (vgl. LEBSANFT/SCHROTT 2015) verbunden wurden, viel weniger hingegen Äußerungen der alltäglichen Kommunikation.

3.    Historische Quellen der mündlichen Rede

Aus diesen kurzen Erläuterungen wird ersichtlich, dass die Schriftverwendung über Jahrhunderte hinweg den engen Pfaden einer Kulturtechnik folgt, sie aber kaum das Sprechen als mündliche Rede zur Grundlage hat. Jedoch stehen für die historische Erforschung der mündlichen Sprache mangels anderer Aufzeichnungstechniken fast allein schriftliche Quellen zur Verfügung. Dabei ist zu konzedieren, dass auch andere Zeugnisse für bestimmte Forschungsfragen sinnvoll zu nutzen sind: So können für eine Geschichte des Sprechens z. B. auch zeitgenössische Bilder oder Zeichnungen von Gesprächssituationen zwischen Menschen für die Analyse ihres Kommunikationsverhaltens herangezogen werden; daneben auch Musikstücke oder Lieder, welche in ihrem textlichen Inhalt oder auch in ihrer choralen Darbietungspraxis Hinweise auf das Sprechen „von gestern“ liefern können; eine weitere Quelle können archäologische Funde von Bauwerken wie Rednerpulte oder Versammlungsplätze der Bürger sein, welche hauptsächlich dem Sprechen oder dem Gespräch dienten. Auch die Sprachen selbst geben vielfältige Hinweise auf historische soziale Praktiken, daher sind etymologische Interpretationen für die Untersuchung des historischen Sprechens auszuwerten. Für die historische Erforschung der konkreten sprachlichen Gestaltung jenseits von Kommunikationsbedingungen sind jedoch schriftliche Dokumente verschiedenster Art die aussagekräftigsten Quellen.

Um eine vollständige Beschreibung der mündlichen Sprache einer gewissen Epoche zu erstellen, wäre es sicherlich wünschenswert, ein umfangreiches Zeugnis gesprochener Sprache aus jener Zeit zur Verfügung zu haben. Doch ist das Sprechen in der Geschichte nicht fundamental anders als heutiges Sprechen aufzufassen, zumindest nicht konzeptionell, so dass Grundannahmen auch über das historische Sprechen formuliert werden können (vgl. GROSSE 2000: 1392), die sich dann verifizieren oder falsifizieren lassen. Dazu ist es zielführend, einzelne Merkmale der gesprochenen Sprache genauer zu untersuchen, um so Abweichungen von der idealisierten Vorstellung des üblichen Sprechverhaltens feststellen zu können. Diese Abweichungen können in Bezug auf die heutige mündliche Sprache oder in Bezug auf die geschriebene Sprache der jeweiligen Zeitstufe festgestellt werden, für die uns vielfältige Quellen zur Verfügung stehen. Die Bestimmung von Vergleichspunkten oder Vergleichstexten ist dabei von großer Bedeutung. ← 9 | 10 →

4.    Sprachwandel und Variation

Die Erforschung der Geschichte der gesprochenen Sprache ist eng verbunden mit der Geschichte der Sprache allgemein, da diese in ihrer gesamten Komplexität und Variation zu betrachten ist, unabhängig von den überlieferten Darbietungsformen. Dabei steht die Variation in einem direkten Zusammenhang mit der stetigen Sprachentwicklung. Auf den ersten Blick ist das stabile Funktionieren der Synchronie einer Sprache bei gleichzeitig ständiger Veränderung ein Problem für die Erklärung der Veränderlichkeit der Sprache und des Sprachwandels. Aber die Sprache funktioniert gerade deshalb, weil sie nicht als Abbild der Wirklichkeit fixiert ist, sondern viele Möglichkeiten für Ausdrucksintentionen bietet. Diese sind größtenteils in Varianten zu finden, welche an der Schnittstelle des Sprachsystems, der Sprecher und der sie umgebenden Welt eingesetzt werden (vgl. das Modell der Architektur der Sprache [„architecture de la langue“] als Komplex verschiedener Varietäten, der – wie die Begriffe „diatopisch“ und „diastratisch“ – auf Leif FLYDAL [1952] zurückgeht). Somit liegt eine zentrale Erklärung des Sprachwandels in der unterschiedlichen Nutzung der Variationsmöglichkeiten der Sprache, im Gesprochenen oder Geschriebenen. Ein zentraler Ansatz für die Untersuchung historischer Mündlichkeit liegt dabei in der Berücksichtigung der konzeptionellen Gestaltung der Sprache je nach den Kommunikationsbedingungen einer (mündlich orientierten) Nähesprache oder einer (schriftlich orientierten) Distanzsprache (KOCH/OESTERREICHER 2007, ÁGEL/HENNIG 2007). Die sprachliche Variation kann auf diese zwei konzeptionellen Pole eines Kontinuums allein bezogen sein oder aber sich auf die diasystematischen Parameter (diatopisch, diastratisch, diaphasisch, diachronisch) beziehen. So ist zu unterscheiden in konzeptionell mündliche Sprache und Umgangssprache, wobei letztere eine deutliche diastratisch-diaphasische Komponente enthält, teils auch eine diatopische und auch zum Bereich der Distanzsprache gezählt werden kann (vgl. auch TAKADA 2012). So sinnvoll das Modell des Kontinuums von Nähe- und Distanzsprache auch erscheint, so ist es an den historischen Quellen zu überprüfen, da auch Abweichungen im Grad der Elaboriertheit vor allem in schriftlich realisierten, nähesprachlichen Texten des Substandards zu beobachten sind (vgl. MÜLLER 1990).

5.    Ziel des Sammelbands

Die Beiträge im vorliegenden Band orientieren sich an der Grundfrage, wie das „Gerede von gestern“ (so der bewusst flapsig formulierte Titel der Ringvorlesung, in der viele der im Sammelband vereinten Artikel ihren Ausgangspunkt ← 10 | 11 → haben) erforscht werden kann. Sie enthalten Diskussionen zur methodologischen und methodischen Schwierigkeit der Erforschung mündlicher Sprache wie auch empirische Untersuchungen ausgewählter Aspekte des gesprochenen Wortes aus verschiedensten Sprachräumen (vgl. auch ZEMAN 2013). Diese zeigen an Analysen einzelner Texttraditionen die Formen und Bedingungen der historischen Mündlichkeit auf. Dabei sind drei methodische Entwicklungen der sprachhistorischen Forschung auch im vorliegenden Sammelband zu beobachten: 1) die Verwendung historischer Korpora zur textlichen Erfassung der Gesamtsprache oder Untergebiete von ihr (s. Höder, Kytö, Ravida, Vosberg); 2) der erforderliche Blick auf die konkreten Texte für eine Einordnung der empirischen Befunde in den historisch-individuellen Kontext (s. Becker, Burkard, Höder, Ravida, Hoekstra, Schrader-Kniffki, Schrott, Walker) sowie 3) die Berücksichtigung von Texttraditionen als methodischem Rahmen für die Analyse sprachlicher Merkmale (zur theoretischen Diskussion, s. CASTILLO LLUCH/PONS RODRÍGUEZ 2011: 10–18). Das heißt, dass die Forscherinnen und Forscher auf schriftliche Quellen spezifischer Texttraditionen zurückgreifen, um Aspekte des historischen Sprechens zu erforschen. Meist sind es Texte, die einzelnen Sprechern zugeordnet werden können und damit auch individuelle Aspekte des Sprechens enthalten.

Der Bogen an untersuchten Textsorten ist dabei äußerst weit, werden doch neben fiktionalen Romanen bzw. narrativen Texten der historischen Literatur (s. Becker, Schrott, Vosberg) auch Komödien (Hoekstra), historiographische Abhandlungen (Burkard), Heiligenviten (Höder), Andachtsbücher mit volkssprachlichen Gebeten (Becker), Rechnungsbücher (Ravida), Gerichtsakten (Vosberg, Schrader-Kniffki, Kytö), Grammatiken der Volkssprache (Nübler) und auch linguistische Studien (Walker) für die Untersuchung der Sprechsituationen herangezogen. Dabei stützen sich mehrere AutorInnen auf die Analyse konkreter Einzeltexte (Becker, Burkard, Hoekstra, Nübler, Schrader-Kniffki, Schrott), während andere ihre Ergebnisse über die indirekte Erfassung in historischen Korpora gewinnen (Höder, Kytö, Ravida, Vosberg).

In allen Beiträgen werden Überlegungen angestellt, mit welchen Methoden Wissen über die gesprochene Sprache in jeweils einzugrenzenden Feldern ermittelt werden kann. So wird die Frage der fiktionalen Mündlichkeit (vgl. WARNING 2007, die fingierte Oralität in BRUMME 2008, WILCKEN 2015) als Schwierigkeit für die historische Erforschung des Sprechens thematisiert, da die Repräsentativität solcher Darstellungen für die authentische mündliche Nähesprache zu bestimmen ist. Weil die dialogische Rede in narrativen Texten vom Stil des Autors abhängen kann und deren Darstellung bezüglich der Intention des Autors zur soziohis ← 11 | 12 → torischen Einordnung interpretiert werden muss, ist zu eruieren, inwieweit die Rekonstruktion der historischen Mündlichkeit aus solchen Quellen zu adäquaten Ergebnissen führt (SIMON 2006).

In den vorliegenden Beiträgen wird deutlich, wie groß die methodische Vielfalt ist, mit der die historische Oralität erforscht wird und werden kann, aber auch welche Textsorten produktiv für die Erforschung der Mündlichkeit im jeweiligen Untersuchungsbereich sein können. Zur Ermittlung der grammatischen Charakteristika historischer Rede werden fast alle sprachlichen Ebenen untersucht: die Phonetik/Phonologie, die Graphemik, die Morphologie, die Morphosyntax, die Syntax und die Lexikologie. Die Studien betreffen die Aussprache anhand von Phonem-Graphem-Korrelationen (Ravida), die lateinischen Endungen deutscher Verben (Becker), den Abbau der Kasusflexion (Höder), die stilistische Mimesis von Mündlichkeit (Burkard, Schrader-Kniffki), die (un)regelmäßigen Partizipien oder Steigerungsformen (Vosberg), die Morphosyntax der Objektpronomina oder die Rektion der Präpositionen bzw. des Infinitivgebrauchs (Becker, Hoekstra, Vosberg,), die Syntax der Relativsatzstrukturen (Höder, Vosberg) und die Verwendung bestimmter Lexeme (Hoekstra). Bei der Beobachtung von Ausprägungen in diesen Bereichen ist stets zu bewerten, ob sie Anzeichen für eine konzeptionelle Nähe- oder Distanzsprache sind oder ob z. B. der Wandel von syntaktischen Mustern eine Annäherung an einen dieser Pole bedeutet. So wird mehrfach der Stellenwert von Innovationen in Bezug auf das Verhältnis von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit besprochen.

Neben Untersuchungen zu innersprachlichen Entwicklungen wie den konkreten Formen in der Wiedergabe sprachlicher Äußerungen wird in den Beiträgen v. a. die Frage nach den Bedingungen von Mündlichkeit (Becker) diskutiert, welche uns Aufschluss über das soziale Verhalten des Sprechens in bestimmten historischen Kontexten liefert. In dieser Hinsicht liefern auch soziolinguistische Studien zu bestimmten, meist mehrsprachigen Regionen Hinweise auf das mündliche Sprachverhalten der damaligen Bevölkerung (Hoekstra, Walker). Dabei geht Walker der Frage nach, welche der Volkssprachen sich in Friesland wann durchsetzte und welche Sprachen innerhalb der Familien weitergegeben und verwendet worden sind. Eine Schriftlichkeit ist für solche ruralen Regionen ohnehin nur in ausgewählten Kontexten relevant gewesen. Die Entwicklung bzw. der Rückgang der Sprachkompetenzen und des mündlichen Sprachgebrauchs wird anhand mehrerer Studien des 19. Jh. aufgezeigt. Auch die Rolle der Mündlichkeit für die Herausbildung von Schriftsprachen im Sinne von Ausbausprachen wird am Beispiel der Grundlage der romanischen Sprachen, welche in der Mündlichkeit des Lateinischen und eben nicht in dessen Schriftlichkeit angenommen wird, eben ← 12 | 13 → falls in theoretischer Diskussion (Hoinkes) behandelt. Zur historischen Dialogforschung (vgl. KILIAN 2005) als kontingentem Feld der Studien zur gesprochenen Sprache ist der Beitrag zur Analyse der Gesprächssequenzen eines altspanischen Texts (Schrott) zu verstehen. Die Methoden dieses engeren Forschungsfelds sind dabei stets einer kritischen Bewertung ihrer Anwendbarkeit zu unterziehen, wie folgende Gegenüberstellung veranschaulicht.

6.    Das Dilemma der historischen Gesprächsanalyse

Ernest W. B. Hess-Lüttich beginnt in seinem Artikel „Gespräch“ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik den Abschnitt „Historische Gesprächsforschung“ mit folgenden Fragen:

Und er gibt, bezogen auf literarische Dialoge, folgende Antwort:

Historische Gesprächsanalyse ist also prinzipiell möglich, eine fundierte Quellenkritik vorausgesetzt. – Werner Enninger, der das Protokoll der „Zweiten Züricher Disputation 1523“ untersucht, kommt hingegen zu folgender Einschätzung:

Verglichen mit den technischen Möglichkeiten, die die Videographie von Gesprächen heutzutage bietet, sind Enningers Beobachtungen nicht von der Hand zu weisen und als Ermahnung zur umsichtigen Quellenkritik durchaus berechtigt. ← 13 | 14 → Der Erforschung historischer Mündlichkeit – und letztlich allen empirischen Geschichtswissenschaften – indes die Anwendung moderner Analyseverfahren auf ihre Quellen zu verwehren, hieße mit letzter Konsequenz, das wissenschaftliche Buch der Sprachgeschichte in Bezug auf die gesprochene Sprache zu schließen.

Die Beiträge in diesem Band illustrieren anschaulich, dass die geschichtliche Erforschung der gesprochenen Rede trotz aller aufgezeigten Schwierigkeiten zu tragfähigen Ergebnissen kommen kann, was – so die Hoffnung – zu weiteren Studien anregen möge.

Kiel, im März 2016 Elmar Eggert, Jörg Kilian

Literatur

ÁGEL, Vilmos / HENNIG, Mathilde (2007): Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Vilmos ÁGEL / Mathilde HENNIG (Hrsg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer. 179–214.

BRUMME, Jenny (2008): La oralidad fingida. I: Obras literarias. II: Teatro, cómic y medios audiovisuales. Madrid: Iberoamericana.

CASTILLO LLUCH, Mónica / PONS RODRÍGUEZ, Lola (Hrsg.) (2011): Así se van las lenguas variando. Nuevas tendencias en la investigación del cambio lingüístico en español. Frankfurt a. M.: Lang.

DÜRSCHEID, Christa (42012): Einführung in die Schriftlinguistik. Göttingen / Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht.

Details

Seiten
289
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653067408
ISBN (ePUB)
9783653959482
ISBN (MOBI)
9783653959475
ISBN (Hardcover)
9783631674086
DOI
10.3726/978-3-653-06740-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Sprachgeschichte historische Varietätenlinguistik historische Pragmatik historische Korpuslinguistik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 289 S., 17 s/w Abb., 31 Tab.

Biographische Angaben

Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Jörg Kilian (Band-Herausgeber:in)

Elmar Eggert studierte Romanistik in Münster und Lille. Er lehrt nach Stationen in Bochum und Heidelberg Romanische Sprachwissenschaft in Kiel. Jörg Kilian studierte Germanistik in Braunschweig. Er lehrt nach Stationen in Osnabrück und Heidelberg Germanistische Sprachdidaktik in Kiel.

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