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«Les queues de siècle se ressemblent»: Paradoxe Rhetorik als Subversionsstrategie in französischen Romanen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts

von Anne Effmert (Autor:in)
©2016 Dissertation 242 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 20

Zusammenfassung

Die Literaturkritik hat immer wieder Vertreter des französischen Gegenwartsromans unter den Schlagworten Fin de Siècle und Dekadenz verortet. Die Autorin macht sich die systematische Aufarbeitung dieser meist oberflächlich gebliebenen Annäherung zur Aufgabe. Anhand einer kontrastiven diskursanalytischen Lektüre ausgewählter Romane von Michel Houellebecq, Maurice G. Dantec, J.-K. Huysmans und Octave Mirbeau zeigt sie, dass die Autoren in ihren Texten nicht nur vergleichbare Motive reproduzieren, sondern darüber hinaus eine charakteristische Subversionsstrategie verfolgen. Diese kann als paradoxe Rhetorik beschrieben werden und hat allen Romanen eine vergleichbar kontroverse Rezeption eingebracht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Grenzen und Möglichkeiten eines Vergleichs
  • 1.1 Zur Reaktualisierung der Konzepte Fin de Siècle und Dekadenz im ausgehenden 20. Jahrhundert
  • 1.2 Paradoxe Rhetorik in der Dekadenzliteratur
  • 1.2.1 À rebours: Formen und Funktionen des Paradoxes
  • 1.2.2 Die paradoxe Rhetorik als Subversionsstrategie
  • 1.3 Michel Houellebecq und Maurice G. Dantec: paradoxe Rhetorik im Fin-de-(XXe)-Siècle
  • 2. Paradoxe Political Correctness: von der Dreyfus- zur Islamaffäre
  • 2.1 Die Subversion militaristischer und patriotischer Diskurse in À rebours und Le Jardin des supplices
  • 2.1.1 Der Militarismus als Barbarei
  • 2.1.2 Wagner und Schopenhauer: ein intellektueller Antipatriotismus
  • 2.2 Paradoxe Gerechtigkeit: die Dreyfusaffäre in Le Jardin des supplices
  • 2.3 Die Subversion der offenen Gesellschaft bei Houellebecq und Dantec
  • 2.3.1 „Quant aux droits de l’homme […] je n’en avais rien à foutre“: Die Inversion des Demokratie- und Menschenrechtsdiskurses
  • 2.3.2 Islamaffären: die Inversion der Political Correctness
  • 2.3.3 „Postures“: der öffentliche Auftritt als inszenierte (Selbst-)Marginalisierung
  • 3. Paradoxer Fortschritt: von der Embryologie zum Internet
  • 3.1 Die Subversion des Fortschrittsglaubens in Le Jardin des supplices
  • 3.1.1 „Hétéropodes“ und „holoturies“: die Naturwissenschaft als Farce
  • 3.1.2 Vernichtung als Fortschritt: die „fée Dum-Dum“
  • 3.2 Die Subversion des Vertrauens in die neuen Technologien in Extension du domaine de la lutte und Villa Vortex
  • 3.2.1 Transparenz, Freiheit, Modernisierung: die leeren Formeln des „bougisme“
  • 3.2.2 Schöne oder schlechte neue Welt?
  • 3.3 À rebours als antipositivistischer Roman
  • 4. Paradoxe Natur: von künstlichen Blumen zu künstlichen Menschen
  • 4.1 Naturfeindschaft und Künstlichkeitskult in À rebours: die Affirmation der Deterritorialisierung
  • 4.1.1 Dekadente Landschaften
  • 4.1.1.1 Die antipastorale Landschaft
  • 4.1.1.2 Fabriken und chemische Brisen
  • 4.1.2 Dekadente Blumen
  • 4.1.3 Dekadente Körper
  • 4.2 Naturfeindschaft und Künstlichkeitskult bei Michel Houellebecq
  • 4.2.1 Die antipastorale Landschaft
  • 4.2.2 Die Grausamkeit der Natur
  • 4.2.3 Die Subversion der Ökologiebewegung
  • 4.2.4 „Néo-humains“: Künstlichkeitskult im Fin-de-(XXe)-Siècle
  • 5. Paradoxer Exotismus: vom Foltergarten zum Massagesalon
  • 5.1 Der literarische Exotismus als „dialectique du même et de l’autre“
  • 5.2 Land des Grauens: das Chinabild in Le Jardin des supplices
  • 5.2.1 Die chinesische Stadt und Bevölkerung
  • 5.2.2 Das Motiv des supplice chinois
  • 5.2.3 Die Folterkunst als zivilisatorisches Distinktionsmerkmal
  • 5.3 Land des Lächelns: das Thailandbild in Plateforme
  • 5.3.1 Die thailändischen Sehenswürdigkeiten und Menschen
  • 5.3.2 Das Motiv des Sextourismus
  • 5.3.3 Das Ende des Exotismus? Plateforme als Tourismusroman
  • 5.3.4 „Une situation d’échange idéale“: der Sextourismus als globales Zukunftsmodell
  • 6. Paradoxe Ästhetik: vom style décadent zur Anti-écriture
  • 6.1 Der style décadent in À rebours und Le Jardin des supplices
  • 6.2 Die dekadente Bibliothek in À rebours
  • 6.2.1 „Leerstellen“: klassische Literaturtraditionen
  • 6.2.1.1 Die klassisch-lateinische Sprache und Literatur
  • 6.2.1.2 Die französische Klassik
  • 6.2.2 Der dekadente Gegenkanon
  • 6.2.2.1 Die décadence latine
  • 6.2.2.2 Die poètes maudits
  • 6.3 Intertextualität: der dekadente Kanon in Le Jardin des supplices
  • 6.4 Die Anti-écriture bei Houellebecq und Dantec
  • 6.5 Die Inversion literarischer Hierarchien bei Houellebecq und Dantec
  • 6.5.1 Die Abwertung der Literatur
  • 6.5.1.1 „Leerstellen“: ungelesene Bücher in Les particules élémentaires
  • 6.5.1.2 „Cité de la culture Totale“: die Literatur als Diktatur in Villa Vortex
  • 6.5.2 Der antiliterarische Gegenkanon
  • 6.5.2.1 Science-Fiction und theoretische Texte
  • 6.5.2.2 Kinderbücher, Frauenmagazine und Werbeprospekte
  • 6.5.2.3 Les particules élémentaires als neues Kultbuch?
  • 7. Schlussbetrachtungen: zur problematischen Rezeption paradoxer Rhetorik
  • 7.1 Moralische Ambivalenzen
  • 7.2 Ästhetische Ambivalenzen
  • 7.3 Die unsichtbare Norm
  • Literaturverzeichnis

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1. Einleitung: Grenzen und Möglichkeiten eines Vergleichs

„[…] les queues de siècle se ressemblent“ – das dem Titel dieser Arbeit vorangestellte Zitat stammt aus Joris-Karl Huysmans’ Roman Là-Bas (1891), in dem sich der Protagonist Durtal erstaunt über das Wiederaufleben mystizistischer und okkultistischer Bewegungen am Ende des positivistisch geprägten 19. Jahrhunderts zeigt. Sein Freund des Hermies stellt daraufhin fest: „Mais il en a toujours été ainsi; les queues de siècle se ressemblent. Toutes vacillent et sont troubles. Alors que le matérialisme sévit, la magie se lève. Ce phénomène reparaît, tous les cent ans.“1 Hier wird also von einem zyklischen Geschichtsbild2 ausgegangen, das auf sich regelmäßig ablösenden Phasen des Aufschwungs und des Niedergangs basiert und auf der Annahme, dass jedes Ende eines Jahrhunderts fatalistisch von Instabilität und Verunsicherung geprägt sein müsse.

Die französische Gesellschaft entwickelt bekanntermaßen im späten 19. Jahrhundert die Vorstellung einer tief greifenden sozialen Krise, die unter dem Begriff Fin de Siècle firmiert, einem Terminus, der das chronologische Ende des Jahrhunderts mit dem Niedergang einer Zivilisation assoziiert. Der gesellschaftliche Verfall scheint in der traumatischen Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) zu wurzeln.3 Dazu kommt die chronische politische Instabilität der Dritten Republik, die immer wieder von schweren innenpolitischen Krisen belastet wird, wie der Boulanger-Krise (1886–1889), dem Panamaskandal (1892–1894) oder der Dreyfusaffäre (1894–1906). Aber auch andere Faktoren bestätigen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen den Eindruck einer zivilisatorischen Erschöpfung: „[…] éclatement du corps social, violences, polémiques, racisme, scandales financiers, maladies contagieuses, émancipation des femmes – tout est ← 9 | 10 → bon pour confirmer l’approche d’une fin certaine […]“4, resümiert Guy Ducrey in seinen Ausführungen zum Fin-de-Siècle-Phänomen. Dieses darf natürlich nicht als historisch verbürgte Realität verstanden werden: Der Historiker Eugen Weber hat das widersprüchliche Nebeneinander von Dekadenzbewusstsein und reellen Verbesserungen der Lebensumstände im Frankreich des 19. Jahrhunderts dargestellt5, und auch Pierre Citti weist darauf hin, dass Frankreich zwar außenpolitisch isoliert und innenpolitisch gespalten ist, aber dennoch wirtschaftlich prosperiert und seine Kolonialherrschaft ausweitet6. Das Phänomen Fin de Siècle muss daher vielmehr als ein Mythos angesehen werden, als „un fait de discours, une représentation fantasmatique collective“.7 Der Begriff Mythos, verstanden als „système sémiologique second8 im Sinne Roland Barthes’, macht dabei deutlich, dass es sich keineswegs um ein nachweisbares Krisenmoment, sondern vielmehr um ein automatisiertes (Selbst-)Verständnis einer Gesellschaft handelt.

Dennoch hat die Vorstellung von Krisenzuständen, die fatalistisch die Jahrhundertwenden begleiten, offenbar nichts von ihrer Suggestionskraft eingebüßt, denn der Fin-de-Siècle-Mythos ist in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend wieder reaktualisiert worden. So meint beispielsweise Jean de Palacio die eigenen Ängste und Niedergangsvisionen im hundert Jahre zurückliegenden Fin de Siècle wiederzufinden:

Appliquée à la fin du XXe siècle, la formule de Huysmans [„Les queues de siècles se ressemblent.“] paraît toujours d’actualité. Les mêmes signes de vacillement et de trouble qu’il distinguait à son époque (1891) semblent également présents dans la nôtre (1991), où sévissent tout ensemble le matérialisme et la magie. […] Je citerai pêle-mêle la prolifération des églises et des sectes, la recrudescence de l’antisémitisme, le recours aux paradis artificiels, l’américanisation de la société, les polémiques autour de l’homosexualité, la peur de la syphilis, l’obsession de la nourriture adultérée […].9 ← 10 | 11 →

Für diese Art der Gegenüberstellung lassen sich diverse andere vergleichbar strukturierte Beispiele finden. Von Juni bis September 1987 erscheint beispielsweise in der französischen Tageszeitung Le Monde die Artikelreihe „Concordance des temps“. In dieser konfrontiert der Historiker Noël Jeanneney Phänomene beider Jahrhundertwenden miteinander, die von den Zeitgenossen als beunruhigend wahrgenommen worden sind, wie beispielsweise die Angst vor epidemischen Krankheiten („Syphilis et sida“), das Problem des Alkoholismus („L’absinthe et la bière“) oder die zunehmende Amerikanisierung der Gesellschaft („Écrans français, images américaines“).10

Interessanter noch erscheint aus literaturwissenschaftlicher Sicht allerdings die Tatsache, dass der Fin-de-Siècle-Mythos auch eine ästhetische Dimension besitzt: denn schenkt man diversen am Ende des 20. Jahrhunderts erschienenen Literaturkritiken Glauben, so bewahrheitet sich das Zitat aus Huysmans’ Roman Là-Bas auch in Bezug auf die Literaturproduktionen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts. Diverse Vertreter der französischen Gegenwartsliteratur wie Michel Houellebecq, Frédéric Beigbeder, Virginie Despentes, Jegor Gran, Dominique Noguez oder Maurice G. Dantec sind, wie zu zeigen sein wird, von der Literaturkritik immer wieder unter den Schlagworten Fin de Siècle oder auch Dekadenz verortet worden, wenngleich sich keiner der genannten Autoren explizit auf diese Kategorien berufen hat. Nun ist diese Parallelsetzung zweier Literaturproduktionen zwar ausgesprochen häufig aufgetreten; der Vergleich ist aber bislang nicht systematisch ausgearbeitet worden und bleibt in der Regel auffallend oberflächlich und auf die vage thematische Parallele einer Niedergangsthematik beschränkt. Dies ist kaum verwunderlich vor dem Hintergrund, dass die Literaturkritiker nicht nur eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts in die Vergleiche miteinbeziehen, sondern zudem die Kategorien Fin de Siècle und Dekadenz, die ausgesprochen heterogene Phänomene bezeichnen, sehr undifferenziert verwenden und sogar synonym setzen. Die folgenden Überlegungen verstehen sich daher als systematische Aufarbeitung einer immer wieder angestoßenen, aber kaum tiefer ergründeten Annäherung, um anhand einer kontrastiven Lektüre ausgewählter Texte eine klarere Sicht auf den komplexen Zusammenhang zwischen einer möglicherweise vereinfachenden Überinterpretation seitens der Kritik und der tatsächlich nachweisbaren Reproduktion eines bestimmten literarischen Duktus zu erhalten. ← 11 | 12 →

1.1 Zur Reaktualisierung der Konzepte Fin de Siècle und Dekadenz im ausgehenden 20. Jahrhundert

Die Beispiele für einen Vergleich der Literaturproduktionen des endenden 19. und 20. Jahrhunderts sind so zahlreich, dass hier nur einige Ansätze exemplarisch genannt werden sollen, um die großen Linien dieser Parallele erkennbar zu machen. Sowohl die feuilletonistische als auch die universitäre Literaturkritik hat immer wieder Bezüge zwischen Autoren beider Jahrhundertwenden hergestellt und dabei entweder auf den Begriff der Fin-de-Siècle- oder aber der Dekadenzliteratur zurückgegriffen. Eine Analyse der Vergleichsansätze lässt deutlich werden, dass die Gegenüberstellung vor allem auf der Basis charakteristischer motivischer Gemeinsamkeiten vollzogen wird, die in der Regel auf die Entstehung der Texte in einem Kontext gesellschaftlicher Niedergangsstimmung zurückgeführt werden. Der Journalist Claude Imbert versteht die Romane Houellebecqs als Indikator für die tief greifenden Mutationen, denen die Gesellschaft der Jahrtausendwende ausgesetzt ist, und sieht in Houellebecq aus diesem Grund ein Fin-de-Siècle-Phänomen.11 Stefan Zweifel ruft in seinem in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Artikel „Depressive Dekadenz“ mit der Depression ein ausgesprochen typisches Motiv der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf und spricht von einer Stilisierung der drei Autoren Michel Houellebecq, Jegor Gran und Virginie Despentes zum „Trio infernal einer neuen Pariser Dekadenz“.12 Auch in Überblickswerken zur zeitgenössischen französischen Literatur ist diese Form des Vergleichs häufig nachweisbar: Bruno Viart und Dominique Vercier verstehen in La littérature française au présent Autoren wie Michel Houellebecq, Maurice G. Dantec oder Dominique Noguez als literarische Verkünder des Niedergangs des Abendlandes und sehen vor allem Michel Houellebecq in der Nähe einer Fin-de-Siècle-Ästhetik: „Son goût pour le morbide, la souillure, la dénonciation lui font retrouver bien de thématiques chères à Huysmans, à Bloy et à une certaine écriture ‚fin de siècle‘.“13 Éliane Tonnet-Lacroix widmet in La littérature française et francophone de 1945 à l’an 2000 dem Fin-de-Siècle-Mythos gleich ein ganzes Kapitel („Morosités et désillusions ‚fin-de-siècle‘“), in dem wiederum Michel Houellebecq und Maurice G. Dantec in den Kontext einer um sich greifenden Endzeitstimmung eingeordnet werden: ← 12 | 13 →

Etwas ausführlicher, als es in den bisher zitierten Beispielen der Fall ist, hat sich dagegen Sabine van Wesemael mit der Thematik auseinandergesetzt. Die Autorin erarbeitet im Kapitel „L’esprit fin de siècle“ ihres Buchs Michel Houellebecq. Le plaisir du texte anhand einer kontrastiven Lektüre von Texten Michel Houellebecqs und Frédéric Beigbeders mit Werken der Dekadenzliteratur (J.-K. Huysmans, Octave Mirbeau, Rachilde, Jean Lorrain) charakteristische thematische Gemeinsamkeiten wie die Ablehnung der modernen Gesellschaft, das Motiv der Neurose, den Kult des Morbiden und des Künstlichen oder die Vermischung von Gewalt und Sexualität.15

Es wird somit deutlich, dass sich die Verwendung der Begriffe Fin de Siècle und Dekadenz in den zitierten Vergleichen recht unreflektiert und beliebig gestaltet. Die Termini werden ohne weitere definitorische Bemühungen mehr oder weniger synonym gebraucht, um Texte zu bezeichnen, die sich motivisch in einem vagen von Morbidität und Verfall geprägten Zeitkontext situieren und durch eine pessimistische, desillusionierte Geisteshaltung geprägt sind, ohne dass sich daraus ein tieferes Verständnis für die beiden Literaturproduktionen ergäbe. Lediglich Sabine van Wesemael bietet eine detailliertere Textanalyse, allerdings entsteht auch in ihrer Untersuchung durch die unkommentierte Vermischung der Begriffe Fin de Siècle und Dekadenz und die Beschränkung auf die Motivebene der Eindruck einer gewissen Oberflächlichkeit. Die skizzierten Annäherungen scheinen mehr zur Einordnung neuer literarischer Phänomene anhand bekannter Motive zu dienen16, als für einen wirklich tragfähigen Vergleich fruchtbar gemacht zu werden; ← 13 | 14 → eine Vorgehensweise, die sich freilich auch aus dem populärwissenschaftlichen Anspruch des Feuilletons bzw. der Notwendigkeit einer synoptischen Vereinfachung in literaturgeschichtlichen Überblickswerken heraus rechtfertigen kann, in denen für differenzierte Textanalysen kaum Raum bleibt und eher die prägnante Kategorisierung literarischer Strömungen im Vordergrund steht.

Dieser Umstand erklärt womöglich auch, warum bevorzugt auf den eher unscharfen Begriff Fin de Siècle17 als Vergleichsgrundlage rekurriert worden ist, der sich jedoch für eine tiefer gehende literaturwissenschaftliche Analyse als nicht unproblematisch erweist. Der Terminus verfügt über keine spezifisch literarische Bedeutung, sondern kann kulturelle und gesellschaftliche Phänomene, d.h. in seiner breitesten Akzeptanz die von diffusen Niedergangsängsten geprägte Befindlichkeit einer ganzen Epoche beschreiben18 und so ästhetisch heterogene Strömungen wie Dekadenz, Symbolismus und Jugendstil umfassen. Der Begriff erweist sich daher für die hier angestrebte Untersuchung spezifischer rhetorischer Strukturen als zu undifferenziert. Im Folgenden soll der Terminus Fin de Siècle aus diesem Grund lediglich in einem chronologischen Verständnis gebraucht werden und den globalen Zeitkontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnen, während der Neologismus Fin-de-(XXe)-Siècle19 in äquivalenter Bedeutung für die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts Verwendung finden wird.

Doch auch die Kategorie der Dekadenz kann nicht ohne weitere Präzisierungen als Vergleichsgrundlage dienen. Der Begriff ist insofern eng mit dem des Fin de Siècle verknüpft, als beide Termini ein Zu-Ende-Gehen implizieren und schon von den Zeitgenossen häufig synonym gebraucht worden sind, wenngleich sie nicht ein und dasselbe Phänomen bezeichnen. Während Klaus Meyer-Minnemann eine Verwendung von Fin de Siècle als Bezeichnung für die literarische Epoche von 1880 bis 1914 vorschlägt, die mit der „Ablösung des Naturalismus bzw. des Parnasse […] durch eine neue avantgardistische Orientierung um 1880“ beginnt, ← 14 | 15 → versteht er die inhalts- und ausdrucksspezifischen Kennzeichen der Dekadenzliteratur in einem engeren Sinne als Komponente des Hyperonyms Fin de Siècle, also als Bestandteil einer Neuorientierung der Kunst um 1880, „die bei einigen ihrer Vertreter zur ausdrücklich reklamierten Bezeichnung ‚décadents‘ führt“.20 Mit dem Ausdruck décadents wird im Fin de Siècle zunächst relativ wahllos „die gesamte oppositionelle junge Poesie“21 bezeichnet. Der Terminus findet synonym zu modernistes und symbolistes Verwendung und kann mehr oder weniger alle innovativen und subversiven Literaturproduktionen umfassen, die als Symptom des gesellschaftlichen Verfalls interpretiert werden.22 Während sich ein Kreis relativ unbekannter oppositioneller Dichter um Anatole Baju explizit als Décadents bezeichnet und sich so den Begriff in subversiver Absicht aneignet, allerdings heute so gut wie in Vergessenheit geraten ist, hat sich dagegen Joris-Karl Huysmans nie auf die Bezeichnung berufen bzw. diese sogar explizit abgelehnt. Dennoch steht sein Roman À rebours (1884) heute geradezu paradigmatisch für den dekadenten Roman und wurde schon zur Zeit seines Erscheinens zur „Bibel der Dekadenz“ stilisiert.

Der Dekadenzbegriff ist also insgesamt schwer zu umreißen und in sich durchaus widersprüchlich, denn die Dekadenzliteratur hat nie eine einheitliche Schule gebildet. Der Hinweis auf die Schwierigkeit einer Begriffsdefinition ist daher schon zum Gemeinplatz geworden.23 Lange Zeit hat in der Forschung das Verständnis der Dekadenzliteratur als Reproduktion spezifischer Themen und Motive (Künstlichkeitskult, Naturfeindschaft, Neurose, Morbidität etc.) dominiert, diese Auffassung ist in der neueren Forschungsliteratur allerdings immer wieder als überholt kritisiert worden. Dies ist zum Beispiel bei Maria Moog-Grünewald der Fall, die feststellt, dass die Dekadenzliteratur in geradezu hartnäckiger Art und Weise nach ihren Themen und Motiven bestimmt und nicht als „Manifest einer impliziten, gar expliziten Poetik“ verstanden werde. Eine „spezifische Literarizität“ sei in dieser literaturwissenschaftlichen Tradition nur dem Symbolismus zuerkannt worden.24 ← 15 | 16 → Moog-Grünewald versteht dagegen, ausgehend von Baudelaire, die Dekadenzliteratur als eine „Poetik der Moderne“25, die sich durch „Unbestimmtheit Vagheit [und] Rätselhaftigkeit“26 kennzeichne. Vergleichbar positioniert sich auch Dieter Kafitz, der die Entstehung des literarischen Dekadenzdiskurses bei Baudelaire und Gautier nachvollzieht und feststellt:

[…] das sprachartistische Kalkül […] [steht] am Anfang der Bestimmung der literarischen Décadence […]. Es ist geradezu konstitutiv für eine Dichtung, die sich in Opposition stellt zur organischen Natur und zur Alltagserfahrung, die künstliche Gegenbilder als einen ästhetischen Widerstand gegen eine Welt des Nutzens und des Fortschritts aufbauen möchte. Das Prinzip des Widerspruchs im Kampf gegen das klassische Kunstideal, textimmanent die Verrätselung des Sinns, tritt nicht nur auf der Ebene von Themen, Motiven und Situationen hervor, sondern ebenso und vor allem auf der sprachlichen Ebene in der Abgrenzung von einem ausgewogenen, auf Klarheit und Schicklichkeit bedachten Stil zugunsten eines kunstvoll-künstlichen Stils der exquisiten Vokabeln und seltenen Metaphern.27

Geht nun aber das Verständnis der Dekadenzliteratur über eine rein thematisch-motivische Definition hinaus und bezieht eine Bestimmung als „sprachartistisches Kalkül“ mit ein, so erscheinen die Grenzen für einen Vergleich der oben genannten zeitgenössischen mit dekadenten Autoren schier unüberbrückbar, denn gerade ein Vergleich der beiden Literaturproduktionen auf formalästhetischer Ebene betont mehr die fundamentalen Unterschiede als die Gemeinsamkeiten. So weist Sabine van Wesemael darauf hin, dass sich die Texte von zeitgenössischen Autoren wie Houellebecq und Beigbeder ganz im Gegensatz zur Dekadenzliteratur durch die Abwesenheit einer „recherche esthétique“28 kennzeichneten, und auch Stefan Zweifel bemerkt, dass bei Houellebecq „der Auslöschung kein ästhetischer Genuss abgerungen“29 werde. In einem sehr wertenden Duktus und weniger in Bezug auf konkrete Autoren als vielmehr auf das gesamte Kultursystem schreibt sich auch Jean de Palacio in diese Sichtweise ein:

Vermutlich ist der Vergleich der Dekadenzliteratur mit Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts auch aufgrund dieser offensichtlichen Diskrepanz in der Regel auf eine inhaltliche Annäherung reduziert worden. Der vorrangig zitierte zeitgenössische Autor Michel Houellebecq steht im Diskurs der Literaturkritik für eine fast schon sprichwörtlich gewordene „platitude du style“31 und eine „Realismus-Renaissance“32 und ist zusammen mit Autoren wie Virginie Despentes und Maurice G. Dantec auch im Kontext eines neonaturalistischen „style littéraire rock“33 verortet worden. Ein tiefer gehender Vergleich mit der ästhetizistischen Dekadenzliteratur, der auch den formalästhetischen Bereich miteinbezieht, scheint vor diesem Hintergrund also in eine Sackgasse zu führen.

Die definitorischen Schwierigkeiten und ästhetischen Diskrepanzen bedeuten jedoch nicht, dass die Kategorie der Dekadenz für eine kontrastive Lektüre nicht fruchtbar gemacht werden könnte, denn die Aufspaltung in eine formale und eine inhaltliche Dimension ist keineswegs zwingend. Als aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang ein bisher wenig beachteter Ansatz Michael Riffaterres. In seinen Überlegungen zur Dekadenzliteratur unter dem Titel „Paradoxes décadents“ geht Riffaterre von der oben bereits angesprochenen Problematik aus, dass die Reduzierung der literarischen Dekadenz auf thematische Aspekte wie den immer wieder angeführten Ennui, die Morbidität oder den Künstlichkeitskult letztlich kein befriedigendes Distinktionsmerkmal darstelle, denn die Literatur der ← 17 | 18 → Romantik werde beispielsweise von ganz ähnlichen Themen geprägt.34 Riffaterre schlägt daher vor, die Unterscheidung zwischen Romantik und Dekadenz auf der Grundlage einer für die Dekadenzliteratur charakteristischen rhetorischen Figur zu definieren: „Je crois que la différence […] est de nature tropologique. Je propose de la trouver dans une figure constamment présente dans les textes décadents, et généralement absente des styles romantiques: le paradoxe.“35 Den Vorteil seines Ansatzes erkennt Riffaterre in dem Umstand, dass das Paradox als formales und semantisches Charakteristikum direkt in den literarischen Text eingeschrieben und dort nachweisbar sei und den Rekurs auf ideologische oder ästhetische Erklärungen letztlich überflüssig mache.36 Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass eine kontrastive Lektüre ausgewählter zeitgenössischer und dekadenter Romane durchaus ein ganz konkretes Erkenntnisinteresse bietet, wenn sie im Anschluss an Riffaterre über die Trennung zwischen einer motivischen und einer formalen Ebene hinausgeht und stattdessen nach einer Vergleichbarkeit spezifischer rhetorischer Strukturen in einem klar umrissenen Textkorpus fragt.

Um die Überlegungen Riffaterres für den hier zugrunde liegenden vergleichenden Ansatz nutzbar zu machen und eine detaillierte Analyse der rhetorischen Strukturen zu erlauben, ist eine starke Einschränkung des Textkorpus unumgänglich, das sich in den weiter oben zitierten Vergleichen vor allem in Bezug auf die Autoren des Fin-de-(XXe)-Siècle als sehr umfangreich und heterogen erweist. Dabei wird bewusst selektiv vorgegangen und der Blick auf ausgewählte Romane gerichtet, in denen sich die zu analysierenden paradoxen Strukturen besonders exemplarisch und pointiert darstellen, wie es beispielsweise in Joris-Karl Huysmans’ dekadentem „Kultroman“ À rebours (1884) und Octave Mirbeaus spätem Dekadenzroman Le Jardin des supplices (1899) der Fall ist. Im Bereich der Literatur des endenden 20. Jahrhunderts zeichnen sich besonders Michel Houellebecq und Maurice G. Dantec durch einen massiven Rekurs auf die Figur des Paradoxes aus, sodass ihre Romane die zeitgenössische Vergleichsgrundlage für die folgenden Untersuchungen bilden sollen. Die Textbeispiele sind dabei in dem Bewusstsein ausgewählt, weder für das so vielschichtige Phänomen der Dekadenzliteratur noch für die Literatur des Fin-de-(XXe)-Siècle als repräsentativ angesehen werden zu können. Es soll auch nicht darum gehen, allgemeingültige Aussagen zur literarischen ← 18 | 19 → Dekadenz zu tätigen oder die Texte zeitgenössischer Autoren in die Schublade der Dekadenzliteratur einzuordnen, um ihnen damit ein weiteres mehr oder weniger willkürliches Etikett aufzukleben oder gar das fatalistische Geschichtsbild einer sich regelmäßig wiederholenden Niedergangsdynamik zu reproduzieren. Dies alles trägt wie gezeigt wenig zum tieferen Verständnis beider Literaturproduktionen bei. Ziel ist es vielmehr herauszuarbeiten, dass sich alle Autoren einer strukturell vergleichbaren und sehr spezifischen diskursiven Subversionsstrategie bedienen, die auf der Figur des Paradoxes beruht und – wie abschließend zu zeigen sein wird – den untersuchten Romanen auch eine vergleichbar kontroverse Rezeption eingebracht hat.

1.2 Paradoxe Rhetorik in der Dekadenzliteratur

Michael Riffaterre setzt sich also in seinem Aufsatz „Paradoxes décadents“ klar von einer rein motivischen oder stilistischen Definition der Dekadenzliteratur ab und erhebt stattdessen die spezifische Form der rhetorischen Behandlung ihrer Motive zum Bestimmungsmerkmal. Das Paradox definiert Riffaterre dabei als „inadéquation systématique de la forme au fond“, die aus dem Zusammenspiel zweier Formen resultiere:

L’une, antérieure à la transformation paradoxale, est la donnée: c’est, si je puis dire, la forme du fond. La seconde, postérieure à la transformation, est la dérivation: c’est la forme de l’inadéquation. Le paradoxe réside dans cette polarité entre la donnée et la dérivation […].37

Im Folgenden soll nicht nur gezeigt werden, dass diese rhetorische Struktur für zentrale Texte der Dekadenzliteratur wie À rebours oder Le Jardin des supplices tatsächlich grundlegend ist und sowohl subversive ästhetische wie auch inhaltliche Positionierungen determinieren kann, sondern auch, dass das Paradox geradezu am historischen Beginn der Dekadenzliteratur steht.

Details

Seiten
242
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653062151
ISBN (ePUB)
9783653960167
ISBN (MOBI)
9783653960150
ISBN (Hardcover)
9783631667095
DOI
10.3726/978-3-653-06215-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Fin de Siècle Dekadenz J.-K. Huysmans Michel Houellebecq
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 242 S.

Biographische Angaben

Anne Effmert (Autor:in)

Anne Effmert studierte Romanische Philologie und Mittlere und Neuere Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université de Bourgogne (Dijon).

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Titel: «Les queues de siècle se ressemblent»: Paradoxe Rhetorik als Subversionsstrategie in französischen Romanen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts
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