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Wissenschaft und globales Denken

von Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in) Angela Schottenhammer (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 490 Seiten

Zusammenfassung

Ökonomische Dynamiken, politische Transformationen, internationale Vernetzung sowie die Kommunikation durch neue Medien sind Indikatoren einer «Globalisierung», die heute viele Bereiche des Lebens erfasst. Doch bedeutet eine solche Expansion und Internationalisierung wirtschaftlicher Prozesse, technischer Entwicklungen und politischer Ordnungen, dass «globales Denken» als (selbst)kritischer Diskurs zum Tragen kommt? In kritischem Kontrast zu Globalisierungsstrategien fragen die Beiträge dieses Bandes danach, inwiefern der Bezug auf globale Zusammenhänge die gewohnten Zugänge und Methoden der Wissenschaft herausfordert und verändert. Nicht «Globalisierung» als Erfolgsstrategie, sondern «globales Denken» als kritischer Anspruch steht im Zentrum der Überlegungen dieses Tagungsbandes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Tagungsbeiträge
  • Wissenschaft, globales Denken und die Ungleichzeitigkeit von Modernisierungsprozessen
  • Sinologie und Globalität Praktische Erfahrungen vom 17./18. Jahrhundert bis heute
  • „Theologie Interkulturell“ Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Globalen
  • Völkerrecht zwischen Globalisierung und Fragmentierung
  • Globales Denken? Zum Wirkungszusammenhang von Forschungspraxis, Erkenntnisfeld und der Art zu denken
  • Weitere Beiträge
  • Globalisierung und Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften
  • Einheit und Vielfalt im Chaos der Globalisierung – Stefan Zweigs Der Turm zu Babel und Die Monotonisierung der Welt als Reflexion über gesellschaftlichen Wandel
  • Globale und lokale Gerechtigkeit
  • Wissenschaft in der Spannung des Globalen
  • Globalität und Universalität Zum Dilemma zwischen vermeintlicher Suprakulturalität und der Herausforderung der Interkulturalität für Philosophie und Theologie
  • Hybrides Persien: Globalisierung als Herausforderung für die iranische Gesellschaft
  • Weisheit und Weisheitscoaching älterer Menschen – Eine Chance für die Entfaltung guter individueller und globaler Kräfte
  • Ignatianische Leitungskompetenz für globale Unternehmensführung
  • Grenzlinien und Aufbrüche in der eurozentrischen Kirchengeschichtsschreibung Beobachtungen und Fallbeispiele
  • Einheimische Anfänge – Eine (kurze) Geschichte des Christentums in (Süd)Korea Oder: Was hat Theologie mit globalem Denken zu schaffen?
  • Theologie ohne Grenzen? Global verantwortliches Denken in einer Theologie der Migration
  • Babylon wächst. Wissensindustrien verhindern globales Denken
  • Globales Lernen – ein Bildungskonzept zur Förderung von globalem Denken
  • Förderung von globalem Denken am Beispiel der Entwicklungspolitischen Hochschulwochen von Südwind Salzburg
  • Beiträge zur 6. österreichischen Entwicklungstagung
  • umbruch aufbruch. Kann Entwicklungsforschung global denken?
  • INGOs in Haiti: Entwicklungsakteure als Promotoren von Alternativen zur Entwicklung?
  • Reziprokes Empowerment in der Entwicklungszusammenarbeit: It takes two to tango
  • Die burkinische Revolution 1983–1987: Zwischen Staat und Zivilgesellschaft
  • Anhang
  • Programm der Tagung
  • Autorinnen und Autoren

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Franz Gmainer-Pranzl / Angela Schottenhammer

Vorwort

Die fünfte Tagung der „Salzburger interdisziplinären Diskurse“ (SID), die am 27./28. November 2014 im FB Geschichte der Universität Salzburg zum Thema „Wissenschaft und globales Denken“ stattfand, ist ein guter Anlass, um das Konzept dieser Tagungs- und Publikationsreihe etwas näher zu explizieren. Jede Tagung der SID (www.uni-salzburg.at/ztkr/sid) geht von einer Frage aus, die aktuell und gesellschaftlich relevant ist und für unterschiedliche Fachbereiche, Disziplinen und Forschungsbereiche der Universität Salzburg von Interesse ist. Während der Eröffnungsvortrag am Vorabend dieser Tagungen von einer/einem kompetenten WissenschaftlerIn einer auswärtigen Universität gehalten wird, setzen sich am zweiten Tag KollegInnen aller vier Fakultäten der Universität Salzburg aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Wissenschaftsperspektiven mit der betreffenden Thematik auseinander. Diese Vorträge sowie die Diskussionen bilden den zentralen Abschnitt dieses interdisziplinären Diskurses. Eine Podiumsdiskussion oder eine Paperpräsentation von Studierenden schließt die Tagung ab. Das Ziel der SID besteht vorrangig darin, interdisziplinäre Akzente in Forschung und Lehre der Universität Salzburg zu setzen, Fachbereiche und Forschungsfelder zu vernetzen, den Austausch zwischen Universität und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu fördern, junge WissenschaftlerInnen und interessierte Studierende in das Projekt einzubinden sowie die Ergebnisse der Tagung und weitere interessante Beiträge in einem Band zu dokumentieren.

Die Thematik „Wissenschaft und globales Denken“ ist für viele, wenn nicht für alle wissenschaftlichen Organisationseinheiten der Salzburger Universität von Relevanz. Nicht nur die durch ökonomische Prozesse, politische Transformationen, steigende Vernetzung und neue Medien beschleunigten Globalisierungsprozesse, sondern vor allem die Selbstwahrnehmung dieser Dynamik, die Ulrich Beck als „reflexive Globalisierung“ bezeichnete, mutet allen Wissenschaften ein „globales Bewusstsein“ zu, wenn auch in unterschiedlicher Form. Was aber ist mit dieser „Globalität“ gemeint? Was heißt „globales Denken“? Wird das „Globale“ nicht meist als „Globalisierung“ im Sinn einer Strategie verhandelt: als Expansion und „Internationalisierung“ politischer Ordnungen, ökonomischer Paradigmen, technischer Entwicklungen und kultureller Traditionen? In kritischem Kontrast zu dieser Perspektive fragte die Tagung „Wissenschaft und globales Denken“ danach, inwiefern der Bezug auf globale Zusammenhänge die gewohnten Muster und ← 9 | 10 → Methoden der Wissenschaften herausfordert und transformiert. Nicht „Globalisierung“ als Erfolgsstrategie, sondern „globales Denken“ als kritischer Anspruch stand im Zentrum der Überlegungen und Diskussionen. Wie verändern sich wissenschaftliche Disziplinen und Problemstellungen angesichts globaler Zusammenhänge? Was heißt es, in einer bestimmten Wissenschaft „global“ zu denken? Diese Leitfragen forderten die Vortragenden und weitere AutorInnen zu wissenschafts- und gesellschaftskritischen Beiträgen heraus, die einen spannenden Einblick in unterschiedliche Wissensgebiete geben und neue Zusammenhänge erschließen – oder auch vertraute Zusammenhänge aus einer neuen Perspektive betrachten.

Veranstaltet wurde diese Tagung vom Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Katholisch-Theologischen Fakultät, vertreten durch Franz Gmainer-Pranzl, sowie vom FB Geschichte an der KGW-Fakultät, vertreten durch Angela Schottenhammer, seit 2013 Professorin für „Außereuropäische und Globalgeschichte“. Für das Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen sind globale Bezüge in Forschung und Lehre grundlegend, vor allem durch die Reflexion interkultureller und interreligiöser Dialoge, die Erforschung kontextueller (christlicher) Theologien in Afrika, Asien, Süd- und Nordamerika und im pazifischen Raum, durch die Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen der Welt sowie durch die Mitwirkung an den Studienergänzungen „Global Studies“ und „Migration Studies“ der Universität Salzburg. Eine Reihe von Publikationsprojekten, in denen globale Zusammenhänge bearbeitet wurden sowie Kooperationen mit AutorInnen in Afrika und Lateinamerika durchgeführt wurden, haben den Anspruch „globalen Denkens“ konkretisiert und wichtige Impulse und Lernerfahrungen vermittelt; inhaltlich ging es u. a. um folgende Themen:

Religionstheologie aus lateinamerikanischer Perspektive,

aktuelle theologische Entwicklungen in Subsahara-Afrika,

christlich-islamischer Dialog in Indonesien,

Weiterentwicklung befreiungstheologischer Ansätze in Lateinamerika und Europa,

Rezeption aktueller Globalisierungs- und Entwicklungstheorien

Der Bereich „Außereuropäische und Globalgeschichte“ im FB Geschichte setzt sich profiliert und breit vernetzt mit der Herausforderung globalen Denkens auseinander. Neben einschlägigen, meist auf Englisch abgehaltenen Lehrveranstaltungen sind es vor allem internationale Forschungsprojekte, die globale Zusammenhänge und deren Auswirkungen für Wirtschaft, Politik und Wissenschaft beleuchten, insbesondere die folgenden, unter dem Dach des ← 10 | 11 → „Crossroads Research Centre – History of Interaction in the East Asian, Eurasian, Indian Ocean and Asia-Pacific Worlds“ (http://www.uni-salzburg.at/index.php?id=63979&MP=47–44788; https://www.facebook.com/crossroads.research.centre) versammelten Teilprojekte:

The making of the First Global Economy in the Context of Human-Environment Interaction (in cooperation with McGill University, Montreal),

China and the Maritime World, 500 BC to 1900: A Handbook of Chinese Sources on Maritime History (edited in cooperation with Tansen Sen and Geoffrey Wade),

Seafaring, Trade, and Knowledge Transfer: Maritime Politics and Commerce in Early Middle Period to Early Modern China,

Maritime Knowledge for the China Seas (in cooperation with the École Française d’Extrême-Orient (EFEO), Paris, and the Academia Sinica, Taibei),

Recovery of Traditional Technologies I: A Comparative Study of Past and Present Fermentation and Associated Distillation Technologies in Eurasia and Their Roots (in cooperation with the Max Planck Institute, Berlin, the Horst Görtz Institute, Berlin, the Eurasia-Pacific Uninet, Vienna, and McGill University, Montreal),

The Indian Ocean on Early Modern World Maps: The Transfer of Geographical Knowledge From Europe via the IOW to China and Japan,

The Importance and Specific Integration of Muslim Merchants into the IOW – Interaction between the Persian Gulf, Southeast Asia, China and Japan,

History of Exchange Relations between China, Asia and Latin America (e. g. sub-projects „Trade and Smuggling of Mercury and the Mercury Amalgamation Method in 16th to early 18th Century Asia and the Asia Pacific“ and „The Portrayal of the Philippine Islands as a Link between Asia and the Pacific on Traditional Asian Maps“),

Chinese Tombs and Tomb Inscriptions,

Analysis of Shipwrecks in Asia (in cooperation with McGill University, Montreal, and EFEO, Paris),

Illegal Trade and Piracy in Historical China and East Asia (in cooperation with McGill University, Montreal),

„Reviving the Historical Silk Routes“: Silk Road Terminology and Family Ethics as Tools in Historical and Modern Diplomacy,

sowie die seit 2010 erscheinende Fachzeitschrift Crossroads – Studies on the History of Exchange Relations in the East Asian World und die 2014 neu ins Leben gerufene international Forschungsinitiative JAAC (Japan-Australia-Austria-Canada) als Teil einer International and Interdisciplinary Collaboration for a ← 11 | 12 → New Global Approach to the Humanities (siehe www.indianoceanworldcentre.com/jaac-schottenhammer).

„Wissenschaft und globales Denken“ ist kein Thema, das einfach mit einer Tagung abgehandelt werden kann, sondern eine Herausforderung, die den Universitäten ein hohes Maß an Kreativität, Kooperation und auch intellektueller Arbeit abverlangt. Das Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen hat sich gemeinsam mit dem FB Geschichte/Außereuropäische und Globalgeschichte der Frage nach dem Zusammenhang von Wissenschaft und globalem Denken gestellt; der vorliegende Band möchte in diesem Sinn einen Beitrag zur „reflexiven Globalität“ in den Wissenschaften leisten. Im ersten Teil finden sich die Vorträge der Tagung, im zweiten Teil weitere Beiträge aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, und im dritten Teil Texte junger WissenschaftlerInnen, die bei der 6.Österreichischen Entwicklungstagung (14.–16.11.2014 an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg), also kurz vor unserer Tagung „Wissenschaft und globales Denken“, vorgetragen wurden. Es ist ein schönes Zeichen der Verbindung der Thematik unserer Tagung mit Fragen der Entwicklungsforschung, wenn diese Beiträge ebenfalls in unserem Band veröffentlicht werden.

Ein besonderer Dank gilt allen, die die Publikation dieses Buches finanziell gefördert haben, sowie Frau Elisabeth Höftberger, die in bewährter Weise und mit großer Sorgfalt das Manuskript für die Drucklegung bearbeitet hat.

Salzburg, im Dezember 2015

Franz Gmainer-Pranzl / Angela Schottenhammer

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Tagungsbeiträge

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Helwig Schmidt-Glintzer

Wissenschaft, globales Denken und die Ungleichzeitigkeit von Modernisierungsprozessen

Vorbemerkung

„Globalisierung“ ist heute in aller Munde, in den Wissenschaften wie in den Medien. Es gibt Kritiker der Globalisierung, es gibt Befürworter, es gibt vermittelnde Positionen, die vom „Glokalen“ sprechen, von dem Lokalen/Regionalen einerseits und den als Globalität verstandenen weltweiten Vernetzungen. Nicht zuletzt haben Umwelt-Themen, darunter die Rede vom „global warming“ und von der Verschmutzung der Weltmeere, die Debatten angeregt. Globalisierung ist jedenfalls „kein Zustand, sondern ein Prozess“, „die Intensivierung und Beschleunigung grenzüberschreitender Transaktionen bei deren gleichzeitiger räumlicher Ausdehnung“1.

Diese Entwicklung spiegelt sich in den Wissenschaften in unterschiedlicher Intensität. Die Metaebene bezeichnet Jürgen Osterhammel als „Globalifizierung“. Darunter versteht er „das Eindringen und die Übernahme von grenzüberschreitenden Erkenntnisperspektiven in bestehende Diskurszusammenhänge“2. Damit sind schon viele Wissenschafts- und Erkenntnisfelder ausgeklammert, bei denen wir bereits längst weitgehend einheitliche Erkenntnisperspektiven haben. Die Metallurgie, die Physik, die Mathematik, die Chemie mögen hierzu gehören. Schwieriger wird es bereits bei den Lebenswissenschaften – allein schon des Lebensbegriffs wegen.

Nun lässt sich der Globalisierungsbegriff leicht relativieren oder zurückweisen mit dem Hinweis auf tatsächliche Asymmetrien von Macht, Wohlstand und daraus resultierenden Interessenkonflikten. In den Wissenschaften sind all jene Felder, welche in kulturelle Muster eingebettet und daher sprachlicher Deutung ← 15 | 16 → bedürftig sind, kulturspezifisch und damit einem Globalisierungsanspruch aussetzbar. Daran ändert nichts, dass sich „die geopolitische Lage auf der Welt keineswegs vereinfacht und harmonisiert hat“3 – im Gegenteil. Die Einsicht in die Asymmetrien könnte zur Herausbildung multiperspektivischer Betrachtungsweisen herausfordern. In der Lehre von den Internationalen Beziehungen ist dies seit über einem halben Jahrhundert selbstverständlich. Die Spionage war seit Menschengedenken darauf aus, die Fremdperspektive zu kennen. Auf dem Gebiet der Wissensproduktion wie auf anderen Gebieten hat der Begriff der Globalisierung also durchaus seine Berechtigung.

Eine besondere Herausforderung ist nun dadurch entstanden, dass wir uns seit einigen Jahrzehnten – und dabei unter Berufung auf Ideen der europäischen Aufklärung – in besonderer Weise auf die Universalisierbarkeit unserer Wertvorstellungen berufen. Insbesondere nach den beiden von Europa ausgehenden Weltkriegen ist dieses Bedürfnis gewachsen. Das Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung der Welt war im 20. Jahrhundert aber allgemein. Chinas Aufbruch in den Westen etwa schien eindeutig, und ein sich Einlassen auf die chinesischen Sitten war Rückschritt und den Jesuiten schon früh von der Kurie untersagt worden.4 Immer mehr Chinesen glaubten, mit dem „westlichen Wissen“ (xixue 西學) oder auch dem „neuen Wissen“ (xinxue 新學) zu Reformen und einer Gleichrangigkeit mit der westlichen Welt zu gelangen.

Bald aber wurde es wahrscheinlicher, dass sich gegen eine Homogenisierung der Menschheit, wie sie der Reformer Kang Youwei in seiner Schrift von der „Großen Gemeinschaft“ formulierte, immer wieder Differenzen herausbilden – vor allem aus unterschiedlichen Interessen heraus. Statt einer „totalen Verwestlichung“5 suchte so China eher Ebenbürtigkeit und einen eigenen Weg, eine eigene Entwicklungsrichtung in die Moderne.

Einen eigenen Weg suchte auch Europa. Wenn wir auf die Zeit vor 100 Jahren zurückblicken, was gegenwärtig besonders beliebt ist, so sehen wir, dass damals ← 16 | 17 → dort eine Neubesinnung gefordert wurde, wie bei Hermann Hesse, der um 1921 schreibt: „Wir können und dürfen nicht Chinesen werden, wollen es im Innersten auch gar nicht. […] Wir müssen China, oder das, was es uns bedeutet, in uns selber finden und pflegen.“6 Dies war seine Form der Globalisierung und zugleich Ausdruck der Sehnsucht nach Ganzheit, wie sie Thomas Mann 1920 in dem Offenen Brief an Hermann Graf Keyserling zum Ausdruck bringt:7 „Das Problem des modernen Abendländers ist: auf höherer Bewußtseinsstufe wieder ganz zu werden, wie dies der Mensch des Mittelalters in hohem Grade war, und wie es beim Orientalen vielfach noch heute gilt.“8 – Ich möchte daher eingangs die These vertreten, dass die Rede von der Globalisierung die fortgesetzte Suche nach Ganzheit repräsentiert. Bei dieser Suche nach Ganzheit geht es – wie Hesse zeigt – nicht um Begegnung, sondern weiterhin um die Dominanz einer westlichen Deutungshoheit.

Wenn etwa in Deutschland von einem „langen Weg nach Westen“ als einem Prozess der Selbstzivilisierung die Rede ist, dann räumt einer der Protagonisten dieser Rede ein, dass diese „so lange nicht abgeschlossen [ist], als die unveräußerlichen Menschenrechte nicht weltweit gelten.“9 Wenn zudem die Feststellung Winklers zutrifft, dass das mit der europäischen Aufklärung begründete „normative Projekt des Westens“ immer nur Korrektiv einer Praxis war, die den proklamierten Werten oft genug strikt widersprach, stellt sich die Frage: wer nun muss mit der Selbstzivilisierung anfangen?

Aller Risiken und Gefahren eingedenk neigen wir in unserer Weltgegend mitten in Europa dazu, uns mit Schiller an der Spitze der Menschheitsentwicklung zu definieren, und dabei die Welt zu genießen und uns an ihr zu erfreuen, gut zu essen, uns zu bewegen und mit Freunden immer älter zu werden. Es beirrt uns ← 17 | 18 → nicht wirklich, wenn der Münchner Soziologe Stephan Lessenich konstatiert: der westliche „Wohlfühlkapitalismus“ lebe „über die Verhältnisse anderer“10.

In Anbetracht und Anerkennung der bestehenden Asymmetrien und angesichts unserer eigenen Werthorizonte will ich mein Augenmerk auf die Frage richten, wie Wissenschaft sich auf diese Lage einstellen kann oder soll. Dabei dürfen wir zunächst bei der Annahme bleiben, dass wir uns auf dem Gipfel der Menschheitsentwicklung befinden und die anderen Länder und Völker nur nachholende sind und sie sich – wie dies Schiller in seiner Jenenser Antrittsvorlesung fasste – wie Kinder um uns lagern.

Komplexität der Modernisierung

Tatsächlich erleben wir, wie die Kinder uns eben nicht immer folgen wollen – und sogar unsere eigenen Kinder sich von uns abwenden und als ISIS- oder IS-Kämpfer gegen die Westliche Welt richten. Wir erleben einen „Aufstand gegen die Moderne mit den Mitteln der Moderne“11. Könnte es also sein, dass es nicht nur einen, sondern viele „Modernisierungsprozesse“ gibt, wie das Wort von den „multiple modernities“ von Shmuel Eisenstadt nahelegt? Könnte es nicht sein, dass die Rede von der „Globalisierung“ ein Verzicht auf die analytischen Möglichkeiten unseres Verstandes ist?

Anders gefragt: müsste mit dem Begriff der Globalisierung nicht in erster Linie das gemeinsame Schicksal der Weltbevölkerung unter friedlichen und solidarischen Bedingungen thematisiert werden? Die Konsequenz wäre, einen globalen Humanismus in den Blick zu nehmen.12

Stattdessen sprechen wir heute gerne vom Versagen früherer Generationen, und selten kommt uns der Gedanke, auch wir könnten einst aus neuer Distanz so beurteilt werden. Ist, könnte man fragen, möglicherweise auch bei uns selbst die Rede vom Versagen einer Generation gerechtfertigt? Darauf komme ich zurück.

Mit der Vergangenheit gleichzeitig zu werden, dort wenigstens anzuknüpfen, war und ist das Ziel aller Renaissancen, sei es auf dem Gebiet der Musik und der historischen Aufführungspraxis, sei es auf dem Gebiet der Bildenden Kunst. Und ← 18 | 19 → viele Modernisierungen traten als Renaissance auf. Es wäre daher die Renaissance ein Weg gegen die Globalisierung – und umgekehrt die Globalisierung eine Rhetorik zur Vermeidung von Renaissance. Selbst werden oder Ganz werden, könnte man meinen, sei hier die Alternative.

Nun ist es unbestreitbar, dass sich unsere moderne Naturwissenschaft und Technik weltweit als überlegen erwiesen hat. Dabei gehen wir seit langem nicht mehr davon aus, dass zur Nachahmung dieser Erfolgsgeschichte die gleichen Haltungen eingenommen und Prozeduren wiederholt werden müssten. Die im christlichen Abendland realisierten Errungenschaften können von anderen übernommen werden, ohne dass diese sich auch die westliche Mentalität aneignen müssten. Auf dieser Ebene ist Globalisierung Ausdruck des geteilten Wissens.

Es darf nicht vergessen werden, dass es wiederholt den Versuch gegeben hat, gegen die europäischen Vorbilder eine neue und eigene Moderne zu etablieren. In diesen Zusammenhang gehört die Debatte über „Wissenschaft und Lebensanschauung“ (kexue yu renshengguan科学与人生观) im China der 1920er Jahre oder die panasiatischen Bewegungen, welche sich mit dem Islam verbinden wollten, wie dies vor über hundert Jahren in Japan geschah und wie es bis heute in vielen Teilen der Welt anhält.13 Hierhin gehört auch die Rede vom American Dream sowie jene vom China Dream.

Die Welle eines großen optimistischen Willens (Jakob Burckhardt) – Ein Rückblick

Aus Wolfenbüttel bzw. Hannover kommend – könnte ich weiter zurückgehen und mit Gottfried Wilhelm Leibniz einsetzen, der in seiner Schrift Novissima Sinica vor 300 Jahren China als Europa des Ostens bezeichnete. Er plädierte für ein globales Lernen. Bevor ich wieder in die Gegenwart komme, in eine Welt, die vor lauter Gleichzeitigkeit Ungleichzeitigkeit nicht mehr kennt und Schwierigkeiten mit nachholenden Entwicklungen und mit Entwicklungsprozessen überhaupt zu haben scheint, will ich einen Blick zurück versuchen.

Ein Optimismus hatte um 1900 alle erfasst. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist nicht nur die Geschichte einer Aufholjagd, sondern auch der Fortsetzung von Ungleichzeitigkeit sowie der Versuch von deren Überwindung, der lange im Begriff der „Dritten Welt“ und heute im Begriff der Schwellenländer seinen Ausdruck findet. ← 19 | 20 →

Ganz so wie mit der Abschaffung der Sklaverei nicht Ungleichheit und Elend endeten, so endete mit dem Völkerbund auch nicht die Ungleichheit, sondern sie setzte sich fort. Es wurden die Mächtigen mit der Abschaffung der Sklaverei als Leibeigenschaft lediglich der Verantwortung für die Mitmenschen enthoben, ebenso wie mit der Dekolonisierung die ehemaligen Kolonien für eine freiere Form der Ausbeutung zur Verfügung standen.

Dabei war uns Ungleichzeitigkeit in Modernisierungsprozessen in Mitteleuropa nicht unvertraut. Der Weltkrieg vor hundert Jahren war auch ein Ergebnis des Wunsches, Ungleichzeitigkeiten zu überwinden. Im Ergebnis schufen der Krieg und insbesondere der Versailler Frieden neue Ungleichheit, nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien und andernorts, wie sie etwa in den 21 Forderungen Japans an China zum Ausdruck kam. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert, in dem die Völker der Welt ihre Verhältnisse untereinander und zueinander und ihre Geltungsansprüche neu auszuhandeln suchten.

Die Zerstörung des Sommerpalastes in Peking durch englische und französische Truppen, die zunehmende Konzeptlosigkeit der europäischen Eliten, die nicht den Krieg der Völker Europas verhinderten und am Ende dann doch alle verloren, gerade die vermeintlichen Sieger Frankreich und England, während die USA gewannen: Diese Entwicklungen wurden gedeutet durch neue Theorien von Karl Kaustky, Max Weber, Joseph Schumpeter … bis hin zu Immanuel Wallerstein und anderen.

Heute wird China als die Weltmacht von morgen annonciert. Und doch beharrt „der Westen“ auf seiner Vormachtstellung. Auch dies ist nicht neu, sondern bereits August der Starke verfolgte mit seiner Porzellanmanufaktur das Ziel, das Importporzellan aus China in der Kopie noch zu überbieten – und nicht ohne Erfolg, wie die 2009 in Peking gezeigte Ausstellung aus Dresdner, Münchner und Berliner Sammlungen gezeigt hat.

Die wissenschaftliche und die wirtschaftliche Konkurrenz spielten immer eine Rolle, und die Kriege wurden zu Innovationstreibern ersten Ranges. Dies ist seither so geblieben. Es ließen sich hier viele Geschichten erzählen, wie die der Entwicklung der Ammoniaksynthese und der durch Fritz Haber und Carl Bosch begründeten katalytischen Hochdruckhydrierung, die erfolgreiche Entwicklung von Kampfgasen während des Ersten Weltkriegs und neuerdings der Wettlauf um die besten Laborbedingungen für die Teilchenphysik, die mit dem im Hochland Sichuans im Zusammenhang eines Stauwehrs und einer hydroelektrischen Großanlage geplanten Untergrundlabor für Teilchenphysik in eine neue Phase ← 20 | 21 → getreten ist.14 In Zukunft wird es neben den USA noch mindestens eine weitere Weltmacht in der Grundlagenforschung geben.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Jakob Burkhardt eine „große optimistische Welle“ als Grund für die Ereignisse seiner Zeit konstatiert. Diese Welle war für ihn die „Haupttreibkraft“ der

gewaltigen Änderungen in dem mittlerweile 83 Jahre währenden Revolutionszeitalter: Die Haupttreibkraft von diesem Allen ist ein großer optimistischer Wille, womit die Zeiten seit Mitte des XVIII. Jahrhunderts erfüllt sind. […] Derselbe hofft von Änderungen ein wachsendes und definitives Heil und glaubt letzteres bei jeder Krisis ziemlich nahe vor sich zu sehen, wie eine Berghöhe bei Föhn […]. Eine Nation, Kaste, Bildungsschicht nach der anderen ist davon ergriffen worden und hat gemeint: wenn das für sie Wünschbare erreicht sei, so könnte die Welt dann für einige Zeit stille stehen; man ahnte nicht, dass dies eigene Wollen allen Übrigen und Künftigen auch ein Recht zum Wollen verlieh.15

Diese Hauptträger des modernen Optimismus waren, so sahen dies auch andere und etwas später nicht zuletzt Max Weber, zugleich jene Kräfte, die für die Weltmärkte und, so Burckhardt, für die „Öffnung des östlichen Asiens“ verantwortlich waren. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von Kulturreligionen, wenn er nach der diesen Entwicklungen zugrunde liegenden Wirtschaftsethik fragt.

Wer eine kennt, kennt keine – Die Herausforderung des Fremden

Der Gipfel der Menschheitsentwicklung liegt, das steht für uns fest, in Europa. Die Verhältnisse in Europa sind geprägt von einem Bewusstsein europäischer Einzigartigkeit. In seiner Rektoratsrede am 3. August 1903 verkündete Adolf von Harnack,16 „daß die Völker, welche die Erde jetzt auftheilen, mit der christlichen ← 21 | 22 → Civilisation stehen und fallen, und daß die Zukunft keine andere [sc. als die christliche Civilisation] neben ihr dulden“ werde.17

Dem entsprach, dass zu jener Zeit Chinesen Europäer werden wollten – in einer Zeit, in der junge chinesische Intellektuelle ihr eigenes Land als rückständig ansahen und alles Chinesische ablegen wollten, um in eine neue Zukunft zu gehen, in der man das italienische Risorgimento feierte und den Ausgang des Amerikanischen Bürgerkriegs und die europäische Literatur.

Dabei hatte sich im Westen die Erinnerung daran, dass der Westen sich eigentlich durch Abgrenzung insbesondere gegen Asien erst konstituiert hatte, verflüchtigt, und es war nur noch die Erinnerung von der Gefahr aus dem Osten geblieben, die bekanntlich bis heute bedauerlicherweise ein Konstituens westlichen Denkens zu sein scheint. Im Schlagwort von der „Gelben Gefahr“ nahm sie Gestalt an,18 und es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Reflex Rekurs nimmt auf jene Zeit der Mongolen und der Pax Mongolica, die als erste Globalisierung überhaupt beschrieben worden ist.19

In Europa suchten nur einige Literaten und Sinologen einen eigenen Blick auf China, wie Bertold Laufer (1874–1934), der bekannte: „Wenn ich eines bedauere, ist es, nicht als Chinese geboren zu sein“. Aber wirkliche „Wanderer zwischen den Welt“ gab es nicht, sondern nur das Bild des „verlorenen Sohnes“.

In Elias Canettis „Die Blendung“ bestätigt bei der morgendlichen Begegnung der Schüler Franz Metzger Professor Peter Kien, „Gelehrter, Sinologe von Hauptfach“: „Ja, ich lese immer. Der Vater nimmt mir die Bücher weg. Ich möchte in eine chinesische Schule. Da lernt man vierzigtausend Buchstaben. Die gehen gar nicht in ein Buch.“ Der Verführer Peter Kien: „In meiner Tasche hab ich was Schönes. Wart, ich zeig’s dir.“ Und später: „Du darfst einmal in meine Bibliothek kommen. […] Ich zeig dir Bilder aus Indien und China.“ – China als Fluchtpunkt. Um frei vom Vater zu werden. Franz Metzger, ein verführter, ein verlorener Sohne also?

Der verlorene Sohn kehrt mit nichts zurück, wie ein Schiffbrüchiger.20 Die Grundlage für das Fest der Rückkehr ist, dass er gelitten hat, dass das Vaterhaus das Ziel aller Hoffnung ist – und es bleibt nur offen, ob die Gnade des Vaters Gefolgschaft zur Bedingung macht. Der kühne Aufbruch selbst jedenfalls ist zum Scheitern verurteilt. Die Heimkehr und die Bekräftigung der ← 22 | 23 → Zugehörigkeit – allein aus Gnade – sind die entscheidenden Botschaften des Bildes vom verlorenen Sohn, das Urbild der reformatorischen Gnadenlehre übrigens.21

Ich führe dieses Bild ein, weil es dieser Typus des Verlorenen Sohnes ist, der, so meine These, uns davon abhält, differentielle Kulturwissenschaft zu betreiben und auch einmal die Welt mit anderen Augen zu sehen. Stattdessen brauchen wir weiterhin das Bild von der Gelben Gefahr, um auf unserem langen Weg nach Westen den Abstand zu wahren. Hinter der Parole steht die Vorstellung, die Partnerschaft zwischen Europa und USA sei nur zu rechtfertigen, „wenn es darum geht, einem neoimperialistischen Russland, einem expansiven China oder eroberungswütigen Islamisten Grenzen zu setzen.“22 Müssen wir uns diesem Junktim anschließen und uns so unserer Vollständigkeit und Ganzheit versichern?

Details

Seiten
490
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065053
ISBN (ePUB)
9783653961584
ISBN (MOBI)
9783653961577
ISBN (Hardcover)
9783631672976
DOI
10.3726/978-3-653-06505-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Globalisierung Entwicklungstheorie Interkulturalität Globalgeschichte Globalität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 490 S., 2 farb. Abb.

Biographische Angaben

Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in) Angela Schottenhammer (Band-Herausgeber:in)

Franz Gmainer-Pranzl studierte Katholische Theologie und Philosophie in Linz, Innsbruck und Wien. Er ist Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Universität Salzburg. Angela Schottenhammer studierte Sinologie, Japanologie, Humanmedizin und Neueste Geschichte in Würzburg sowie Sprache, Literatur und Geschichte Chinas an der Universität Peking (Beijing Daxue). Sie ist Professorin für Außereuropäische und Globalgeschichte an der Universität Salzburg.

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Titel: Wissenschaft und globales Denken
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