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Werte im Literaturunterricht

Entwicklungspsychologische Grundlagen, professionelles Lehrverhalten, methodische Schritte zur Arbeit in heterogenen Gruppen

von Joachim Schulze-Bergmann (Autor:in)
©2015 Monographie 360 Seiten

Zusammenfassung

Mit der Behandlung literarischer Texte im Schulunterricht werden Wertvorstellungen vermittelt, deren Wahrnehmung und Verständnis von entwicklungspsychologischen Voraussetzungen abhängig ist. Die Geltungsansprüche dieser Handlungsimperative können in einer Lerngruppe unterschiedlich wirksam sein und zu Kontroversen führen – das 4-Phasen-Modell von Kreft sichert hier den methodischen Rahmen für eine geleitete Erschließung von normativen Textinhalten. Dennoch erwirbt weniger als ein Viertel eines Jahrgangs eine literar-ästhetische Kompetenz, es wird deshalb ein Kurssystem nach finnischem oder neuseeländischem Vorbild vorgeschlagen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Kapitel 1
  • 1. Literarisches Lesen
  • 1.1 Acht Topoi des Literaturunterrichts 1850–1970
  • 1.2 Daten zum Lesevermögen und Leseverhalten, zur Lesekompetenz
  • 1.2.1 Quantitative Daten zur literarischen Leserschaft: 1750 bis 2012
  • 1.2.2 Mediennutzung
  • 1.2.3 Wirkung des Lesens
  • 1.3 Bildungsziele der OECD und EU
  • 1.3.1 Impulsgeber OECD und DeSeCo
  • 1.3.2 Die Zukunft des Literaturunterrichts: Besser im Kurssystem?
  • 1.4 Zusammenfassung
  • Kapitel 2
  • 2. Interaktionskompetenz und ästhetische Kompetenz: Modell und didaktische Anwendung
  • 2.1 Merkmale der „ästhetischen Kompetenz“
  • 2.2 Verstehen als Methode: Das 4-Phasen-Modell
  • 2.2.1 Das 4-Phasen-Modell in der Fachdiskussion
  • 2.3 Analogien zwischen Bild-und Textwahrnehmung
  • 2.4 Zum Wirkungszusammenhang und Bedeutungsumfang von Identifikation und Empathie
  • 2.4.1 Literaturwissenschaftliche Positionen (Ingarden, Iser, Jauß)
  • 2.4.2 Psychologische Daten zu Emotionen beim Lesen
  • 2.5 Merkmale professionellen Lehrverhaltens
  • 2.5.1 Negatives Wissen
  • 2.5.2 Rezeption und Abwehr literarischer Texte im Unterricht
  • 2.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 3
  • 3. Entwicklungsaspekte der Interaktionskompetenz
  • 3.1 Interaktionskompetenz (Habermas 1975)
  • 3.2 Interaktive Fähigkeiten: Stufen, Niveaus, Ausdifferenzierungen
  • 3.2.1 Entwicklung des moralischen Urteils
  • 3.2.2 Entwicklung der sozialen Perspektive und der Rollenübernahme
  • 3.2.3 Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen
  • 3.2.4 Entwicklung von Autoritätsvorstellungen
  • 3.2.5 Entwicklung von Freundschaftskonzepten
  • 3.2.6 Entwicklung von Konventionen
  • 3.2.7 Entwicklung von Gerechtigkeit und Recht
  • 3.2.8 Entwicklung von Gesellschaftsverständnis, Geschichtsbewusstsein
  • 3.2.9 Entwicklung religiöser Urteile
  • 3.3 Zusammenfassung
  • Kapitel 4
  • 4. Analysen
  • 4.1 Ordnung nach Klassenstufen
  • 4.1.1 Klassenstufen 5 und 6
  • • Rasmus und der Landstreicher (A. Lindgren, 1956, dtsch. 1957)
  • • Ben liebt Anna (Peter Härtling, 1979)
  • 4.1.2 Klassenstufen 7 und 8
  • • Ronja Räubertochter (A. Lindgren. 1981)
  • • Ich schieße …doch! (E. Zöller. 2005)
  • 4.1.3 Klassenstufen 9 und 10
  • • Dann eben mit Gewalt (J. de Zanger. 1986)
  • • Nachts schlafen die Ratten doch (W. Borchert 1947
  • 4.1.4 Klassenstufen 11 und 12
  • • Jugend ohne Gott (Ö. von Horvath 1937)
  • • Ich wollte nur frei sein (H. Kalkan 2005)
  • • Das Feuerschiff (S. Lenz 1960)
  • 4.2 Zusammenfassung
  • Kapitel 5
  • 5. Methoden
  • 5.1 Allgemeine Didaktik und Methodik
  • 5.2 Konkretisierungen des 4-Phasen-Modells
  • 5.2.1 Konkretisierung der Phase der „bornierten Subjektivität“ (Kreft 1977, S. 379)
  • 5.2.2 Konkretisierung der „Phase der Objektivierung“ (Kreft 1977, S. 379)
  • 5.2.3 Konkretisierung der „Phase der Aneignung“ (Kreft 1977, S. 379)
  • 5.2.4 Konkretisierung der „Phase der Applikation“ (Kreft 1977, S. 379)
  • 5.2.5 Applikation und Handeln
  • 5.3 Zusammenfassung
  • Kapitel 6
  • 6. Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen

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Vorwort

Mit der hier vorgelegten Arbeit wird zu der laufenden Diskussion im Fachdiskurs der Literaturdidaktik Position bezogen. Diese Positionierung steht in einem engen Zusammenhang mit den Vereinbarungen von Bologna und Lissabon und den großen Leistungstest wie z. B. PISA, durch die eine bildungspolitische Umorientierung an Schulen und Hochschulen von der Politik und der Bildungsadministration eingeleitet worden ist, die auch das Fach Deutsch (im Folgenden DU) und i. e. S. den Literaturunterricht (im Folgenden LU) betrifft. Diese Stoßrichtung erhält ihre überzeugende Kraft durch den Rekurs auf die Notwendigkeiten, die für eine erfolgreiche Konkurrenz im globalen Wirtschaftssystem postuliert werden. Es heißt, nur eine ‚Wissensgesellschaft‘ könne diese Herausforderungen bestehen. In der Folge sind Schlüsselkompetenzen definiert worden, welche zukünftig von jedem Einzelnen in der Europäischen Gemeinschaft erworben werden müssen, und um die jeweiligen einzelstaatlichen Bildungsanstrengungen messen und miteinander vergleichbar zu machen, werden die Bildungs-Inhalte und zu erreichenden Leistungsmerkmale vereinheitlicht. Mit Hilfe von Ranking-Listen wird Rückmeldung gegeben darüber, ob die eingeleiteten Bildungsreformen Erfolg oder Misserfolg bewirken.

In den letzten Jahren hat sich gegen diesen >mainstream< in der europäischen Bildungspolitik und darüber hinaus Kritik aufgestellt, so dass es auch zu einer Kontroverse um die Ziele des Deutsch- und Literaturunterrichts gekommen ist. Ich ergreife ausdrücklich Partei für eine Position, die mit den Inhalten des Literaturunterrichts beabsichtigt, die Ich-Entwicklung des Schülers zu unterstützen zu dem Ziel, eine mündige und solidarische Persönlichkeit zu bilden. Um erfolgreich zu sein, benötigen die Lehrpersonen des LU grundlegende Kenntnisse, um die Passung von Leser und Text zu ermitteln und Förderung anzubahnen.

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Einleitung

Jürgen Kreft veröffentlicht im Jahr 1977 die Arbeit ‚Grundprobleme der Literaturdidaktik‘, mit der er der damaligen durchaus kontrovers geführten Diskussion um die Ziele des Deutschunterrichts eine Position beifügt, die ihre Ziele im Aufbau einer gelingenden Ich-Entwicklung sieht. Erstmalig postuliert Kreft das Konzept einer ästhetischen Kompetenz, die in ihrer Ausbildung in einem engen Zusammenhang mit der von J. Habermas dargestellten Interaktionskompetenz zu sehen ist.

Aktuell wird diese Konzeption von denjenigen in Erinnerung gerufen, die sich gegen die Zugriffe der durch die OECD, das PISA-Konzept und von anderen vorgegebenen Inhalte und Arbeitsformen im DU wenden. Hier setzt auch diese Arbeit an. Um dem Leser zu verdeutlichen, dass die Ziele des DU und LU in den vergangenen 150 Jahren ebenfalls nach dem Fach übergeordneten Argumentationsfiguren sich zu richten hatten, wird zunächst daran erinnert, auf welche Topoi sich der DU und LU zur Legitimation ihrer Bildungsziele stützten. Sodann wird im Rückgriff auf kritische Einschätzungen des Bildungs-mainstreams erläutert, dass die Ziele und Inhalte des DU und LU aktuell zur Disposition stehen. Als Antwort auf diese aktuellen Bedingungen mache ich den Vorschlag, ein Literatur -Kurs-System einzurichten (Kapitel 1).

Vor dem Hintergrund der noch nicht entschiedenen Kontroverse über die zukünftigen Ziele des LU erinnere ich an drei Aspekte: Erstens an die methodischen Grundlagen des 4-Phasen-Modells und an dessen Zusammenhang mit der Konzeption der ‚ästhetischen Kompetenz‘, zweitens an im Zusammenhang mit der ästhetischen Kompetenz verwendete Begriffe in der Literaturwissenschaft und Psychologie sowie drittens an förderliches Lehrverhalten im LU dieser hier geforderten Art (Kapitel 2).

Ich greife die These Krefts auf, wonach es im LU um die Passung von Leser und Text geht, um eine möglichst effektive Förderung interaktiver Teilkompetenzen zu erzielen. Um dieser These nachzukommen, bedarf es einer entsprechenden sachanalytischen Vorarbeit auf Seiten der Lehrperson. Die aus meiner Sicht relevanten Entwicklungsreihen der interaktiven Teilkompetenzen werden vorgestellt (Kapitel 3). An ausgewählten Texten für die Sekundarstufe I und II führe ich solche Analysen beispielhaft vor (Kapitel 4).

Schließlich geht es um das methodische Vorgehen im LU. Hierzu stütze ich mich wesentlich auf das 4-Phasen-Modell von Kreft und konkretisiere die einzelnen Phasen durch Verfahren, die aus der Fachdidaktik oder benachbarten Disziplinen stammen (Kapitel 5). Dabei unterstelle ich, dass die Schüler dieses ← 13 | 14 → texterschließende Verfahren in Abhängigkeit der Entwicklung ihrer Interaktionskompetenz erwerben und man deshalb von einem Stadium des Novizen wie dem eines Experten sprechen kann, womit lerntheoretisch der Anfang und das Ende eines Interiorisierungsprozesses gemeint ist.

Mit dieser Argumentation und mit dem Vorschlag zur Praxis des LU entwerfe ich Voraussetzungen für die Planung eines Unterrichts, der die normativen Aspekte literarischer Texte zum Thema macht und ihre Relevanz für die Schüler dadurch zur Geltung bringt, dass diese Werte auch das Schulleben und die Lebenspraxis der Schüler bestimmen. Die von Kreft postulierte ästhetische Kompetenz wird mit diesem hier vorgetragenen Argumentationsgang nur bedingt weiter konkretisiert. Funktion und Entwicklung literar-ästhetischer Bauformen sowie ggf. sprachwissenschaftliche Aspekte für die Entwicklung einer ästhetischen Kompetenz werden nicht diskutiert. Hier bleibt ein Forschungsdesiderat zurück.

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Kapitel 1

1. Literarisches Lesen

In diesem Kapitel werden folgende Fragen gestellt:

 Welche Begründungsfiguren sind für die Legitimation der Ziele des LU seit 1850 zusammenzustellen?

 Wie groß war und ist der Anteil literarischer Leser im Bezug auf einen gegebenen Jahrgang?

 Wie wirkt sich die Nutzung der AV-Medien und digitalen Medien auf das literarische Lektüreverhalten aus?

 Welche Inhalte sollte der DU behandeln?

 Gibt es unterrichtliche Organisationsformen, durch die eine angemessene Progression für die Entwicklungstempi und die Entwicklung literarischer Interessen vorgehalten werden kann?

Die Lehrperson des LU sollte professionell gut vorbereitet sein, bevor sie die berufliche Laufbahn beginnt. Dazu gehört auch, sich der historischen Entwicklung des Faches zu vergewissern, um die aktuelle Fachdiskussion vor diesem Hintergrund zu relativieren. Für einen solchen Überblick liegen mehrere Texte vor, von denen hier exemplarisch auf folgende verwiesen wird:

 Horst Jochim Frank. Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973

 Harro Müller-Michaels. Positionen der Deutschdidaktik seit 1949. Königstein 1980

 Heinz-Jürgen Kliewer, Inge Pohl (Hg.) Lexikon der Deutschdidaktik. Band 1. Stichwort „Geschichte des Deutschunterrichts“. Baltmannsweiler 2006, S. 172–188

 Michael Kämper-van den Boogaart. „Geschichte des Lese- und Literaturunterrichts“ In: W. Ulrich (Hg.) Deutschunterricht in Theorie und Praxis Band 11/1. Baltmannsweiler 2010, S. 3–83

Entlang einer Zeitachse von fast 200 Jahren lassen sich unterschiedliche Bildungsziele und Begründungsfiguren in Lehrplänen und methodisch-didaktischen Texten finden, die die Passung von Leser und Text ebenso zu begründen versuchen, wie sie herrschende politische Bildungsziele dem Fach Deutsch aufbürden.

Diese Aufgaben sind nur umzusetzen, wenn die Lehrerschaft eine entsprechende Ausbildung erhält. Ob es dazu gekommen ist und kommt, lässt sich ← 15 | 16 → nur bedingt nachweisen, immerhin liegen einige wenige Rekonstruktionen historischer und lokaler Ausbildungsbedingungen und –inhalte vor, so z. B. die Aufsatzsammlung ‚Deutschlehrer-Bildung im Wandel‘, die von O. Beisbart und A. Mieth im Jahr 1999 herausgegeben wird.1 Die Erwartungen an das professionelle Wissen und Handeln sind bis heute berechtigt, aber diese Erwartungen werden enttäuscht, wie M. Kämper-van den Boogaart mit seinem Text „Lehrerkonzepte und Lehrerkompetenzen“ belegt, denn was an Daten über das professionelle Wissen der LU-Lehrer im deutschen Sprachraum vorliegt, sei vom Umfang marginal und methodisch nur sehr vorsichtig als belastbar zu bezeichnen.2 Zusammenfassend kommt der Autor zum Schluss, dass für die aktuellen „Kompetenzerwartungen gegenüber Lehrpersonen im Lese- und Literaturunterricht“, wie sie von der Kultusministerkonferenz im Jahr 2008 formuliert werden, und wie sie von K. H. Spinner zuvor als ‚Grundfähigkeiten‘ von Deutschlehrkräften vorgeschlagen wurden,3 keine empirischen Belege vorliegen. Vielmehr scheinen die Lehrpersonen entweder ihr eigenes Textverständnis im Unterricht durchzusetzen oder sie folgen der Überzeugung, dass die Lektüre Spaß machen solle mit der Konsequenz, dass Verfahren zur Sicherung der Erstverständnisse und deren Überprüfung am Text sowie überhaupt die Einübung einer Rezeptionsmethode eher nicht zum Zuge kommen. Eine Orientierung an produktiven Methoden, die in den Lehrplänen empfohlenen werden und die in der Fachdidaktik seit den 80er Jahren favorisiert werden, bestätigt auch Claudia Vorst in ihrer Arbeit ‚Textproduktive Methoden im Literaturunterricht‘.4 In diesem Zusammenhang befragt sie 30 Grundschullehrpersonen aus NRW zu deren als besonders wichtig benannten Lernzielen des DU und LU in der Grundschule (ebd., S. 449ff). Dabei wird deutlich, dass 91 Prozent der Lehrpersonen das Ziel ‚Entwicklung von Fremdverstehen und eigener Identität‘ favorisieren. Auf die Frage, welche Methoden zur Erreichung dieser Ziele bekannt sind, werden produktive und handlungsorientierte Verfahren genannt. Deutlich wird durch die Befragung ← 16 | 17 → allerdings nur, dass der Schwerpunkt der Aneignung dieser Verfahren in der 2. Ausbildungsphase liegt. Ob und wie auf diese Erfahrungen im eigenständigen Unterricht routinemäßig zurückgegriffen wird, bleibt offen.

1.1 Acht Topoi des Literaturunterrichts 1850–1970

In diesem Abschnitt wird zunächst ein Überblick über die Topoi des LU gegeben, wie sie sich aus einer Analyse einschlägiger Werke zum LU ableiten lassen. Im Rückblick auf den DU und i. e. S. den LU finden sich ‚Begründungsfiguren des literarischen Kanons‘, die sich im Verlauf politischer, historischer und gesellschaftlicher Umstände in Deutschland verändern. Es ist möglich, die jeweils tragenden Argumente für die Zielbeschreibung des LU und damit für die Rechtfertigung des Literarischen Kanons herauszuarbeiten und weiter zu einem Topos zu verdichten. Dieser Rückblick bis in das 19. Jahrhundert ist deshalb notwendig und hilfreich, weil aktuell erneut die Frage nach den Bildungszielen des DU und LU gestellt wird, forciert durch die politischen Entscheidungen auf der Ebene der Europäischen Union und durch die Tatsache, dass der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund am Gesamtjahrgang ein Drittel erreicht, lokal sogar weit darüber liegt. Durch diese Umstände stellt sich auch die Frage nach den Kompetenzen der Lehrperson im LU erneut und womöglich neuartig.

Bevor von einem Deutschunterricht und Literaturunterricht im deutschsprachigen Raum an den Gymnasien gesprochen werden kann, setzt ein doch langwieriger Entwicklungsprozess ein, der die Inhalte des altsprachlichen Gymnasiums zurückdrängt und schließlich etwa um 1850 sowohl auf sprachwissenschaftliche wie literaturhistorische Studien zurückgreifen kann, mit deren Hilfe ein erster Lehrplanentwurf des Deutschunterrichts und ein literarischer Kanon für das Gymnasium entworfen werden kann. Dieser Entwicklungsgang lässt sich stark verkürzt wie folgt in Erinnerung rufen: Die Gymnasien des 18. Jahrhunderts waren durchweg altsprachliche Gymnasien, d. h. es wurde überwiegend und in fast allen Fächern lateinisch gesprochen bzw. an lateinischen und griechischen Texten gearbeitet und für den Erwerb dieser Fremdsprachen wurden viele Wochenstunden angesetzt. Deutsch als Unterrichtsfach trat nicht auf, Schreiben und Lesen wurde im vorschulischen Bereich im Hause oder an Privatschulen gelehrt oft allerdings mit so geringen Erfolgen, dass in den unteren Klassen des Gymnasiums das Schreiben und Lesen weiter gefördert werden musste.5 ← 17 | 18 →

Gegen die Vorherrschaft des Lateins als Sprache gebildeter Stände und des Französischen als Sprache des Adels und am Hofe formieren sich Mitte des 18. Jahrhunderts Strömungen, die das Deutsche als allgemeine Umgangssprache mundartenfrei geschrieben und gesprochen zur gesellschaftlichen Anerkennung bringen wollen. Diesem gesellschaftlichen Trend, der sich über alle deutschsprachigen Länder hinweg verfolgen lässt, folgen die schulischen Lerninhalte nur zögernd. Am Beispiel des damals dänischen Christianeums in Altona bei Hamburg soll die Akzeptanz des Schulfaches Deutsch in den Unterricht exemplarisch dargestellt werden. Der Stundenplan des Christianeums weist im Verlauf des 19. Jahrhunderts folgende Stundenverteilungen für die Behandlung der deutschen Sprache und Literatur auf:

Tab. 1: ‚Deutschstunden‘ am Christianeum in Altona im Verlauf des 19. Jhd.

Aus dieser Stundenverteilung wird Folgendes deutlich: Zu Beginn des Jahrhunderts existieren die Eingangsklassen des Gymnasiums, also die Klassenstufen 5, 6 und 7 noch nicht. Die Schüler kommen aus einer Vorschule, in der Grundkenntnisse des Schreibens und Lesens vermittelt werden, zum Gymnasium und werden nachgeschult, denn die Kenntnisse sind noch so schwach und das mundartgefärbte Sprechen noch so vorherrschend, dass zwei Jahre lang an dem Erwerb der Hochsprache, dem Einüben von einfachen pragmatischen Aufsatzformen, der Rechtschreibung (die noch nicht normiert ist) und dem freien Sprechen gearbeitet wird. In den höheren Klassen des Gymnasiums werden bis zur Mitte des Jahrhunderts Übersetzungsübungen aus dem Lateinischen und Griechischen in das Deutsche gefordert, daneben wird im Sinne antiker Rhetorik der Aufbau der ← 18 | 19 → mündlichen Rede und der schriftlichen Darstellung geübt. Nur vereinzelt wird von der Behandlung deutscher Literatur berichtet, entweder innerhalb von Lesebuchangeboten oder am exemplarischen Einzeltext.

Kenntnisse über die deutsche Sprachgeschichte, Regeln der Lautverschiebung und eine Grammatik der deutschen Sprache werden während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erarbeitet und liegen als wissenschaftliche Veröffentlichungen vor. Tatsächlich übernehmen die Gymnasien diese Texte ohne didaktisch-methodische Bearbeitung in den Unterricht der Oberstufe, zum Beispiel die Sprachgeschichte von J. C. Adelung.6

Eine Behandlung deutscher literarischer Texte erfolgt zögernd und in enger Abhängigkeit von den Kompetenzen, die die in der gymnasialen Oberstufe tätigen Lehrpersonen mitbringen. Obwohl sie überwiegend Altphilologen sind, sind sie zugleich Zeitgenossen der deutsch-nationalen Strömungen und der literarischen Öffentlichkeit. Als A. Koberstein 1827 seine deutsche Literaturgeschichte veröffentlicht und wenige Jahre später G. G. Gervinus mit einem vergleichbaren und sehr erfolgreichen Werk an die Öffentlichkeit tritt,7 sind diejenigen Positionen geschaffen, von denen aus Argumente für die Einführung eines literarischen Kanons in den gymnasialen Deutschunterricht abgeleitet werden können. Diese Aufgabe wird von Hiecke 1842 mit seiner Veröffentlichung‚ ‚Der Deutschunterricht auf deutschen Gymnasien‘ erfüllt, und es finden sich bei ihm folgende vier Topoi zur Begründung des literarischen Kanons.8

Topos 1: ‚ Nationalliteratur‘

Mit diesem Topos wird behauptet, dass die Nationalliteratur die Weltsicht eines Volkes in seiner kulturellen Entwicklung sei. Das einzelne literarische Kunstwerk sei die Entäußerung des (Volks-) Geistes. Der literarische Künstler sei in der Lage, den Volksgeist zum Ausdruck zu bringen. Die Lehrer greifen auf literaturgeschichtliche Abhandlungen zurück und erwarten, dass sich der erwünschte ← 19 | 20 → Bildungseffekt mit Hilfe derselben Methoden einstellt, wie sie für die Wirkung der antiken Textvorbilder praktiziert wurden: Der Schüler soll sich durch Auswendiglernen und Rezitieren dem sprachlichen Vorbild angleichen und zwar sowohl im sprachlichen Duktus wie in der Weltsicht und damit vor allem an die mit den Texten entfalteten normativen Werte. Aufgabe des Lehrers ist die Textauswahl und Einbettung dieser Texte in den historischen und damit auch politischen Lebenszusammenhang der Jugendlichen.

Details

Seiten
360
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653058253
ISBN (ePUB)
9783653962048
ISBN (MOBI)
9783653962031
ISBN (Hardcover)
9783631663691
DOI
10.3726/978-3-653-05825-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Literaturdidaktik ästhetische Kompetenz Interaktionskompetenz
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 360 S.

Biographische Angaben

Joachim Schulze-Bergmann (Autor:in)

Joachim Schulze-Bergmann studierte Anglistik, Germanistik und Pädagogik an der Universität Hamburg. Er war dort und an der Universität Paderborn als Lehrbeauftragter für Literaturdidaktik tätig.

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Titel: Werte im Literaturunterricht
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