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Verbale Indirektheiten beim Diskursdolmetschen am Beispiel des Sprachenpaars Polnisch–Deutsch

von Agnieszka Will (Autor:in)
©2015 Dissertation 409 Seiten

Zusammenfassung

Was sind verbale Indirektheiten und wie geht die DolmetscherIn mit ihnen um? Auf Grundlage a) theoretisch hergeleiteter Definitionskriterien für eine translationswissenschaftlich/-praktisch orientierte Definition und b) authentischer Daten des Sprachenpaars Polnisch–Deutsch wird eine operationalisierte Definition erarbeitet: die 2-Komponenten-Indirektheit. Zur Überprüfung des Umgangs der DolmetscherIn mit dieser wird, aufgrund der spezifischen Gesprächsstruktur des gedolmetschten Diskurses, ein passendes Kommunikationsmodell hergeleitet: das Kommunikationsmodell der Dolmetschtriade. Die darin integrierte, schrittweise und systematische Bedeutungsbestimmung der Indirektheit sowie Reflexionsmöglichkeit kann die DolmetscherIn zur Qualitätssicherung in der aktuellen Dolmetschsituation nutzen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Persönliches Vorwort und Danksagung
  • 0. Einleitung
  • 0.1 Problemstellung, Zielsetzung und Gegenstand
  • 0.2 Aufbau der Arbeit
  • 1. Korpus und Datensatz
  • 1.1 Das Korpus
  • 1.2 Der Datensatz
  • 1.2.1 Auswahl eines Diskurses aus dem Korpus
  • 1.2.2 Auswahl der Daten aus dem ausgewählten Diskurs
  • 1.2.3 Der analysefertige Datensatz
  • 1.3 Erste (vortheoretische) Deutung der AS Daten
  • 2. Zum Phänomen des „Indirekten“ in der Translations-/Dolmetschwissenschaft und den Nachbardisziplinen
  • 2.1 Indirektheit (House), Explizitation/Implizitation (Blum-Kulka)
  • 2.2 Konversationsmaximen und Implikaturen (Grice)
  • 2.2.1 Konversationsmaximen
  • 2.2.2 Implikaturen (konversationell und konventionell)
  • 2.2.2.1 Erfassung konversationeller Implikaturen (6-Schritt-Methode)
  • 2.2.2.2 Erfassung konventioneller Implikaturen
  • 2.2.3 Überprüfung des analysefertigen Datensatzes auf Implikaturen
  • 2.2.3.1 Die Datenauswahl
  • 2.2.3.2 Konversationelle Implikatur
  • 2.2.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Arbeit
  • 2.2.5 Parks Anwendung von Grice
  • 2.2.6 Levinsons Operationalisierung von Grice (Generalized Conversational Implicature)
  • 2.3 Sprechakte
  • 2.3.1 Indirekte Sprechakte (Searle)
  • 2.3.2 Doppelte Illokution (Searle)
  • 2.4 Indirection (Kiesling/Johnson)
  • 2.5 Kommunikative Indirektheit (Park)
  • 2.6 Implizitheit (Sager)
  • 2.6.1 Der collokutive Akt
  • 2.6.2 Der connexive Akt
  • 2.6.3 Der Kontakt
  • 2.6.4 Überprüfung des analysefertigen Datensatzes auf Implizitheit
  • 2.7 Relevanztheorie und Implicature (Sperber/Wilson)
  • 2.7.1 Relevanztheorie (Sperber/Wilson) und die Dolmetschtriade
  • 2.7.2 Implicature (Sperber/Wilson)
  • 2.7.3 Schlussfolgerungen für die aktuelle Arbeit
  • 2.8 Implizitheit (van Dijk/Kintsch)
  • 2.9 Mehrdeutigkeit
  • 2.9.1 Mehrdeutigkeit der kommunikativen Intention (Brown/Levinson)
  • 2.9.2 Bestimmung der Intention eines off record FTA (Brown/Levinson; Grice)
  • 2.9.3 Zweckausreichende Bedeutung (Schäfer/Clark)
  • 2.9.4 Schlussfolgerungen für die Translations-/Dolmetschwissenschaft
  • 2.10 Zusammenfassende Betrachtungen
  • 3. Theoretische Grundlagen zur Bestimmung verbaler Indirektheiten: Kontextfaktoren
  • 3.1 Die Rolle des Kontextes in der Translationswissenschaft
  • 3.2 Kontextmodelle und -faktoren
  • 3.2.1 Kontext bei Hymes (SPEAKING)
  • 3.2.2 Kontext bei Gumperz
  • 3.2.3 Kontext bei Halliday
  • 3.2.4 Collokutive und connexive Akte (Sager)
  • 3.2.5 High-context culture (T. E. Hall)
  • 3.2.6 FTA (Brown/Levinson)
  • 3.2.7 Polnische Prinzipien der Höflichkeit im Alltag (Marcjanik)
  • 3.2.8 Deutsche Normen der Höflichkeit im Alltag (Knigge)
  • 3.2.9 Internationale Normen der Höflichkeit im Geschäftskontext
  • 3.3 Schlussfolgerungen für eine translationswissenschaftliche Kontextanalyse
  • 4. Analysen am analysefertigen Datensatz
  • 4.1 Analyse auf Verletzung der Grice’schen Konversationsmaximen
  • 4.2 Analyse auf Implizitheit (Sager)
  • 4.3 Analyse auf collokutive, connexive und propositionale Akte (Sager)
  • 4.4 Kontextanalyse
  • 5. Diskussion der Datenanalysenergebnisse mit Berücksichtigung der Dolmetschsituation
  • 5.1 Auffälligkeiten der Analysen auf Implizitheit und auf collokutive, connexive und propositionale Akte nach Sager und Erweiterung der Kategorien nach Sager
  • 5.2 Auffälligkeiten der Kontextanalyse
  • 5.3 Vorschlag einer operationalisierten Definition verbaler Indirektheit: 2-Komponenten-Indirektheit
  • 5.3.1 Bestandteile und Wirkungsweise
  • 5.3.2 Bedeutung und systematische Bedeutungsbestimmung
  • 5.4 Anwendung
  • 5.4.1 Anwendung auf den analysefertigen Datensatz (Falsifizierung)
  • 5.4.2 Anwendung auf weitere Korpusdaten (Adäquatheitstest der Definition)
  • 6. Der Umgang der DolmetscherIn mit verbalen Indirektheiten
  • 6.1 Theoretische Grundlagen
  • 6.1.1 Kommunikationsmodelle des dyadischen Diskurses
  • 6.1.1.1 Turn-taking (Sacks et al. 1974)
  • 6.1.1.2 Exchange-Struktur: Proffer und Satisfy (Edmondson 1981)
  • 6.1.1.3 Next-turn proof procedure (Hutchby/Wooffitt 2008)
  • 6.1.1.4 Konstitutionsmodell (Brinker/Sager 2006)
  • 6.1.1.5 Tetradenmodell (Mudersbach 2008)
  • 6.1.2 Dolmetschmodelle
  • 6.1.2.1 Das dreigliedrige, zweisprachige Kommunikationssystem Dolmetschen (Kirchhoff 1976)
  • 6.1.2.2 Tetradic Sequence with Interpreter (Jiang 2009)
  • 6.1.2.3 TRIM – Triadic Interpreting Model (Jiang 2009)
  • 6.1.2.4 Kommunikationsmodell der Dolmetschtriade
  • 6.2 Anwendung des Kommunikationsmodells der Dolmetschtriade auf 2-Komponenten-Indirektheiten
  • 6.3 Diskussion der Ergebnisse
  • 7. Zusammenfassung, Erkenntnisse und Ausblick
  • 8. Anhänge
  • 8.1 Gewinnung des analysefertigen Datensatzes
  • 8.2 Analyse auf Verletzung der Grice’schen Konversationsmaximen
  • 8.3 Analyse auf Implizitheit (Sager)
  • 8.4 Analyse auf collokutive, connexive und propositionale Akte (Sager)
  • 8.4.1 Probleme bei der Analyse
  • 8.4.1.1 Collokutive Akte
  • 8.4.1.1.1 Präsentive
  • 8.4.1.1.2 Valuative
  • 8.4.1.1.3 Relative
  • 8.4.1.2 Connexive Akte
  • 8.4.1.2.1 Modus
  • 8.4.1.2.2 Tendenz
  • 8.4.1.2.3 Distanz
  • 8.4.1.2.4 Differenz
  • 8.4.1.3 Propositionale Akte
  • 8.4.2 Diskussion der Ergebnisse
  • 8.4.2.1 Collokutive Akte
  • 8.4.2.1.1 Präsentive
  • 8.4.2.1.2 Valuative
  • 8.4.2.1.3 Relative
  • 8.4.2.2 Connexive Akte
  • 8.4.2.2.1 Modus
  • 8.4.2.2.2 Tendenz
  • 8.4.2.2.3 Distanz
  • 8.4.2.2.4 Differenz
  • 8.4.2.3 Propositionale Akte
  • 8.4.2.4 Zusammenfassung und bisher nicht erfasste Hinweise zur Formalisierung von intuitiv festgestellten verbalen Indirektheiten des analysefertigen Datensatzes
  • 8.5 Kontextanalyse
  • Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
  • Personen- und Sachregister
  • Personenregister (in Auswahl): Name (Abschnitt in der Arbeit)
  • Sachregister (in Auswahl): Stichwort (Abschnitt in der Arbeit)
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

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Persönliches Vorwort und Danksagung

Nach meinem Studium zur Diplom-Übersetzerin in Germersheim vergegenwärtige ich mir, wie viele Fachthemen ich noch vertiefen wollte. Die zahlreichen Unterschiede, die ich in der Denk-, Lern-, Argumentations- und Arbeitsweise zwischen meinen polnischen, deutschen und polnisch-deutschen KommilitonInnen beobachtet hatte, warfen die Frage auf, ob sie tatsächlich existieren und evtl. Auswirkungen auf das Übersetzen und Dolmetschen haben.

Zusammen mit dem Drang, das strukturierte Denken und Arbeiten, das mir wie eine Fremdsprache erschien, erlernen zu wollen, begann mein Weg der Promotion.

Mein Vorhaben, in den Bereich der Neuropsychologie zu gehen, scheiterte daran, dass ich über keine Grundlagen in diesem Fach verfügte. Die Entscheidung, im „eigenen“ Fach zu promovieren, hätte ich nicht ohne die Beratung meines ersten Ansprechpartners an der Universität des Saarlandes getroffen: Herrn Dr. Theo Jäger, Leiter des Graduiertenprogrammes GradUS und Koordinator des Graduiertenkollegs Adaptive Minds. Aus diesem Grund möchte ich Dr. Jäger ganz herzlich danken.

Meine sechsjährige Arbeit an der vorliegenden Monographie gliedert sich in zwei Abschnitte. Den ersten an der Universität des Saarlandes, wo ich in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Heidrun Gerzymisch meine ersten wissenschaftlichen Schritte machte. Den zweiten an der Universität Heidelberg, wo ich unter der Leitung von Prof. Dr. Vahram Atayan die Arbeit entwickelte und verfasste.

Als mein Erstbetreuer hat Prof. Dr. Atayan meinen Verstand geschult, meine Arbeit konstruktiv und geduldig begleitet und mir v. a. die Grenzen meines wissenschaftlichen Anliegens aufgedeckt. Durch seine Offenheit für die Erkenntnisse benachbarter Disziplinen konnte ich meine Arbeit um diese Perspektiven erweitern. Daher möchte ich mich bei Prof. Dr. Atayan nicht nur von Herzen bedanken, sondern hoffe insgeheim, dass ihn meine Arbeit nicht enttäuscht.

Meine Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Jadranka Gvozdanovic, hat mich u. a. auf die sprachlich-philologischen Aspekte meiner Arbeit aufmerksam gemacht, denen ich von alleine keine ausreichende Bedeutung beigemessen hätte – für ihre Kritik und Vorschläge möchte ich mich daher ebenfalls recht herzlich bedanken.

Im Zusammenhang mit dem Inhalt der Arbeit möchte ich auch Prof. Dr. Roland Marti, der mein Interesse für Kommunikationsmodelle geweckt hat, und Frau Dr. Agnieszka Cieplińska, die die Datengrundlage für meine Arbeit geschaffen hat, dankend erwähnen.

Darüber hinaus – und im Hinblick auf die Publikation in ihrer Gesamtheit – gilt mein Dank auch Dr. Christoph Hartmann, der auf der Grundlage seiner einschlägigen Geschäftserfahrung im deutsch-polnischen Kontext das Vowort zu dieser Dissertation verfasst hat.

Nicht unerwähnt dürfen MitstreiterInnen bleiben, die sich zeitgleich mit mir in der Promotion befanden und durch ihre Kollegialität den wissenschaftlichen Austausch ermöglichten. Allen voran möchte ich Dr. Martin Will danken, der mir ← 13 | 14 → die Denkprinzipien des inzwischen verstorbenen Heidelberger Professors Dr. Klaus Mudersbach näher brachte und zu meinem akademischen „Sparringpartner“ wurde. Darüber hinaus Karin Maksymski, über die ich einige für die Entstehung der Arbeit wichtige Personen kennengelernt habe.

Schließlich möchte ich meiner Familie danken, die mich durch Höhen und Tiefen (insbesondere aber durch letzt Genannte) in den vergangenen sechs Jahren begleitet hat: meiner Mutter Katarzyna, meinem Vater Karol und meinem Bruder Maximilian sowie meinen Großeltern Urszula und Zbigniew. Auch meinen Mentoren, Marek und Tomek, und meinen FreundInnen Monika, Christian und Ismail, die mir Mut gemacht haben, nicht aufzugeben. Das Titelbild ist dank der Unterstützung von Claudia, Paolo und Martin entstanden, deshalb an dieser Stelle auch ein grazie a voi. Zu guter Letzt möchte ich mich auch für die emotionale und mentale Unterstützung des Mannes bedanken, den ich im Finale der Arbeit heirate – D.i.m.g.H.

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0. Einleitung

0.1 Problemstellung, Zielsetzung und Gegenstand

Dass Menschen „zwischen den Zeilen“ kommunizieren, ist ein bekanntes, wenn auch unterschiedlich bezeichnetes, Phänomen. Der Stellenwert dieser Form der Kommunikation zeigt sich u. a. darin, dass die Unfähigkeit, „zwischen den Zeilen zu lesen“, als ein Symptom von Autismus eingestuft wird (der wiederum als eine Entwicklungsstörung gilt).1

T. E. Hall, Anthropologe und Begründer der Interkulturellen Kommunikation als Wissenschaft2, stellte die Hypothese auf, dass sogar ganze Kulturen im Hinblick darauf unterschieden werden können, wie direkt Inhalte kommuniziert werden: In Kulturen des sog. niedrigen Kontextes wird direkt kommuniziert – i. S. v. offen zugänglich, klar, eindeutig –, was bedeutet, dass kein/kaum textexternes Kontextwissen herangezogen wird, um Inhalte zu verstehen, und in Kulturen des sog. hohen Kontextes3 wird indirekt kommuniziert – i. S. v. semantisch verschlüsselt – und die Entschlüsselung des kommunizierten Inhalts erfolgt durch Hinzuziehen textexternen Kontextwissens (durch die GesprächspartnerIn4):

(...) When talking about something that they have on their minds, a high-context individual will expect his interlocutor to know what’s bothering him, so that he doesn’t have to be specific. The result is that he will talk around and around the point, in effect putting all the pieces in place expect the crucial one. Placing it properly – this keystone – is the role of the interlocutor. To do this for him is an insult and a violation of his individuality. (...)
(Hall 1976:8)

Bei einer Begegnung zwischen Vertretern der beiden Kulturtypen sind Missverständnisse sehr wahrscheinlich (op. cit. 142)5. Wenn bspw. eine Person aus einer ← 15 | 16 → Kultur des hohen Kontextes eine verbale Indirektheit6, wie sie hier ganz allgemein bezeichnet werden soll, einsetzt, so kann mit Hall angenommen werden, dass diese vom Gesprächspartner aus der Kultur des niedrigen Kontextes gar nicht erst wahrgenommen wird – folglich misslingt auch die „Entschlüsselung“ und damit die Kommunikation an dieser Stelle.7 Umgekehrt scheint es plausibel, dass ein direkt kommunizierter Inhalt für einen Gesprächspartner aus einer Kultur des hohen Kontextes einen Normbruch bedeutet, evtl. sogar eine Gesichtsbedrohung oder Beleidigung. Auch in so einem Fall misslingt die Kommunikation. Es scheint also, dass es bei einer Begegnung zwischen den Vertretern dieser beiden Kulturtypen zu Störungen der Kommunikation kommen kann, gerade im Zusammenhang mit dem Einsatz verbaler Indirektheiten. Im Kontext internationaler Geschäftsverhandlungen ist daher zu erwarten, dass die Konstellation high-context culture und low-context culture zu Problemen auf der Kommunikationsebene führt.

Auf der Grundlage von Halls Hypothese erfolgte die Zuordnung zahlreicher Kulturen zu einer der beiden Kategorien bzw. Polen (exempl. Merkin 2009:ohne Seitenzahl, Usunier 1993:65ff, Hall/Hall 1990:6–10). Da die Schlussfolgerungen, die aus einer solchen Kategorisierung gezogen werden, starke Verallgemeinerungen darstellen, manifestieren sie sich nicht zwingend in der individuellen Situation8, was jedoch in den Ausführungen durch stereotype Erklärung vom Typ „Germans are stubborn, persistent and often arrogant“ (Hall/Hall 1990:53) impliziert wird. Insgesamt scheint also das Konzept der high bzw. low-context culture plausibel, aber die aus dieser Unterscheidung gezogenen Stereotype, zumindest für die aktuelle (und individuelle) Situation des Gesprächs-/Diskursdolmetschens, nicht aussagekräftig. ← 16 | 17 →

Ein Beispiel für eine Begegnungskonstellation zwischen den beiden Kulturtypen ist das Polnische und das Deutsche.9 Für dieses Sprachen- bzw. Kulturpaar gibt es in der Praxis der interkulturellen Kommunikation, v. a. im Geschäftskontext, durchaus ein (ebenfalls auf Stereotypen basierendes) Problembewusstsein für die Unterschiede in der Kommunikationsweise. So wird dem deutschen Geschäftspartner geraten:

(…) Stellen Sie sich darauf ein, zwischen den Zeilen lesen zu können. Das bedeutet, dass Sie vor allem die Gestik, Mimik, Sprachstil, Atmosphäre deuten sollen (…)
(IHK Halle 2010:10)

Und:

(…) Eine Absage oder unangenehme Inhalte sagt man im Polnischen nicht direkt. Ein „Nein“ zu jemandem, der auf gleicher sozialer oder betrieblicher Hierarchie steht, wird nach Möglichkeit vermieden bzw. zwischen die Zeilen gepackt. Ein direktes, deutliches „Nein“ ist nur in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis möglich. Deswegen wird auf Polnisch recht diplomatisch oder sogar umständlich kommuniziert, mit vielen Interpretationsspielräumen. (…) (Grünefeld 2005:14)

Trotz dieses Problembewusstseins bleiben die Ratschläge zum Umgang mit solchen Situationen sehr vage – dem deutschen Geschäftsmann wird geraten, u. a. den Sprachstil seines polnischen Kollegen zu deuten und zwischen den Zeilen zu lesen, aber wie er den Sprachstil deuten soll und was genau er deuten soll, wird nicht gesagt. Was bedeutet bspw. „umständlich“ oder „diplomatisch“ kommunizieren? Und wie können „Interpretationsspielräume“ gedeutet werden? Kurzum: Was sind verbale Indirektheiten?

Praxis und Theorie der interkulturellen (Geschäfts-)Kommunikation bieten keine Antwort auf diese Fragen, dafür aber die folgende Lösung: Die Zuschaltung einer DolmetscherIn bei internationalen Geschäftsverhandlungen:10

(...) Even if you know the langauge, chances are you may not understand fully the culture and the particular nuances and implied meaning involved. (...) If you can, hire a bicultural ← 17 | 18 → advisor, who will, besides the translation aspect, serve as a go-between and cultural broker on how to best prepare yourself and conduct the negotiations. (…)
(Hendon 1996:234, eigene Hervorhebung)

Damit ist zum einen das Problem aus der Perspektive der Geschäftsleute beseitigt und zum anderen wird die Erwartung an die DolmetscherIn deutlich: Es fällt in den Aufgabenbereich der DolmetscherIn, (u. a.) das „Indirekte“ zugänglich zu machen. Die Frage, was verbale Indirektheit ist, wird in der Fachliteratur – in der dolmetschwissenschaftlichen wie in der zur internationalen Geschäftskommunikation – aber nicht systematisch beantwortet. Ein beliebtes Beispiel für verbale Indirektheit stammt aus einigen asiatischen Sprachen, in denen ein Nein in der Regel „indirekt“ ausgedrückt wird (vgl. Usunier/Walliser 1993:67). Der Mehrwert einer solchen Beobachtung erschöpft sich aber in einigen wenigen Beispielen – die meisten Äußerungen, bei denen sich die Frage stellt, ob eine verbale Indirektheit vorliegt oder nicht und wie sie zu deuten ist, bleiben aller Wahrscheinlichkeit nach unerfasst. Wenn bspw. ein polnischer Geschäftsmann zu einer deutschen Geschäftsfrau zu Beginn des ersten Geschäftsgesprächs sagt, „das Wetter wird einfach schlechter als Sie gekommen sind“ (Interlinearübersetzung Bsp. 1 des Datensatzes), äußert er auf diese Weise lediglich eine Beobachtung oder weist er seiner Gesprächspartnerin die Schuld an der Wetterverschlechterung zu? Versucht er vielleicht die Stimmung aufzulockern oder sogar mit der Gesprächspartnerin zu flirten? Was „impliziert“ er damit und welche Rolle spielt dabei der Geschäftskontext? Welche sprachlichen Elemente können Aufschluss über die verbale Indirektheit geben und welche sonstigen Faktoren können zur Interpretation der Äußerung herangezogen werden?

Ausgehend von der fehlenden Definition bleibt auch der Umgang der DolmetscherIn mit verbaler Indirektheit bisher unerforscht.

Diese Unklarheiten – Definition des Phänomens und der Umgang der DolmetscherIn mit diesem – führen zu der Vorstellung (seitens der Auftraggeber), dass die Dolmetschkompetenz im Bereich verbaler Indirektheit durch Bikulturalität/Bilingualität gewährleistet wird:

(...) A truly bicultural interpreter offers multiple benefits. If you do know the language, he can offer you more time to think, and more time to prepare your response and next statement. (...) A truly bilingual and bicultural interpreter can help you phrase responses with just the correct shades of meaning and decisively impact the entire negotiation process. (...)
(Hendon 1996: 233–234, eigene Hervorhebung)

Offenbar wird also Dolmetschkompetenz im Bereich verbaler Indirektheit in erster Linie mit Bilingualität/-kulturalität assoziiert – und nicht bspw. mit Professionalität, gemessen z. B. an einer entsprechenden Ausbildung und Erfahrung der DolmetscherIn, oder ihrer sprachlich-kulturellen Kompetenz.

Ein rein intuitiver Zugang zu und Umgang mit verbaler Indirektheit, wie er mit bilingual aufgewachsenen DolmetscherInnen assoziiert wird, bringt etliche wissenschaftliche und praktische Probleme mit sich: keine systematische Erfassung des Phänomens, folglich keine Transparenz und Systematik beim Umgang ← 18 | 19 → mit dem Phänomen; mit beiden Punkten einhergehend: fehlende intersubjektive Nachvollziehbarkeit und dadurch fehlende Didaktisierbarkeit des Phänomens und des Umgang mit diesem.

Vor diesem Hintergrund soll der Arbeit eine zweifache Fragestellung zugrunde gelegt werden: Was sind verbale Indirektheiten und wie geht die DolmetscherIn mit ihnen um? Das Ziel der Arbeit ist es, eine dolmetschwissenschaftliche/-praktische Definition und Operationalisierung von verbaler Indirektheit vorzulegen und zu zeigen, wie die DolmetscherIn mit dem Phänomen im aktuellen Dolmetschkontext umgeht.

Die Arbeit erfolgt am authentischen Datenmaterial gedolmetschter Geschäftskommunikation des Sprachenpaars Deutsch-Polnisch.

0.2 Aufbau der Arbeit

Um die doppelte Fragestellung zu beantworten, wird die Arbeit folgendermaßen strukturiert:

Kapitel 1 ist der Gewinnung des analysefertigen Datensatzes gewidmet. Neben der Darstellung der Herkunft der Daten und des Umgangs mit ihnen im Rahmen dieser Arbeit (u. a. Anonymisierung aus datenschutzrechtlichen Gründen), wird die schrittweise und anhand transparent gemachter Kriterien vorgenommene Gewinnung des Datensatzes aus dem zur Verfügung stehenden Korpus erklärt. Mit der ersten Deutung der Daten wird der Versuch einer vortheoretischen Erklärung der Phänomene, die intuitiv als verbale Indirektheit eingestuft wurden, unternommen sowie einer Zuordnung zu einschlägigen Theorien, mit deren Hilfe die Phänomene möglicherweise erklärt werden können.

In Kapitel 2 erfolgt eine Auseinandersetzung mit den gängigen Konzepten des „Indirekten“ in der Translations-/Dolmetschwissenschaft und angrenzenden Disziplinen, v. a. Pragmatik, aber auch Soziolinguistik. Das Ziel dabei ist, herauszufinden, ob mit den Theorien die (zunächst noch intuitiv festgestellten) verbalen Indirektheiten plausibel erklärt werden können und ausreichend operationalisierbar sind, um aus dolmetschwissenschaftlicher/-praktischer Sicht relevant zu sein. Es zeigt sich, dass eine entsprechende Definition und Operationalisierung bisher nicht vorliegt.

Über die Auseinandersetzung mit den Theorien werden des Weiteren Kriterien abgeleitet, die eine dolmetschwissenschaftliche/-praktische Definition und Operationalisierung der verbalen Indirektheit erfüllen soll. Zudem kristallisieren sich zwei Theorien (nach Sager und Grice) und ein Konzept (Kontext) heraus, die für eine Analyse der Daten im Hinblick auf die Beantwortung des ersten Teils der Fragestellung geeignet zu sein scheinen.

Das Konzept des Kontextes wird in Kapitel 3 gesondert behandelt und, im Hinblick auf eine systematische Datenanalyse, die einzelnen Faktoren sowie deren Operationalisierungsmöglichkeiten ausgewählt.

In Kapitel 4 folgen die systematischen Analysen des Datensatzes. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind sie in den Anhang ausgelagert. ← 19 | 20 →

Die Ergebnisse der Analysen auf Implizitheit, collokutive, connexive und propositionale Akte (Sager) sowie der Kontextanalyse werden in Kapitel 5 zusammenfassend dargestellt und diskutiert. Die Ergebnisse der Analyse nach Grice werden aus strukturellen Gründen der Arbeit bereits in Kapitel 2 dargestellt.

Auf der Grundlage der Analyseergebnisse wird in Kapitel 5 zudem eine Definition von verbaler Indirektheit vorgeschlagen. Sie beinhaltet auch eine Beschreibung der Wirkungsweise der Bestandteile untereinander, aus der die „Bedeutung“ der verbalen Indirektheit im Kontext abgeleitet werden kann – wie dies geschehen kann, wird ebenfalls beschrieben und kann als Vorschlag dazu gesehen werden, wie verbale Indirektheit im Kontext erkannt und ihre Bedeutung systematisch bestimmen werden kann (bspw. durch die DolmetscherIn).

Details

Seiten
409
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653058444
ISBN (ePUB)
9783653962062
ISBN (MOBI)
9783653962055
ISBN (Hardcover)
9783631663684
DOI
10.3726/978-3-653-05844-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Businessgespräch Qualitätssicherung Dolmetschen Kommunikationsmodell Indirektheit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 409 S., 2 farb. Abb.

Biographische Angaben

Agnieszka Will (Autor:in)

Seit ihrem Studium zur Dipl.-Übersetzerin in Mainz/Germersheim ist Agnieszka Will als freiberufliche Übersetzerin tätig. An ihrer Alma Mater unterrichtete sie das Fach mehrere Jahre lang, zeitgleich arbeitete sie für den Career Service und das GradUS-Programm der Universität des Saarlandes. Ihre Promotion an der Universität Heidelberg schloss sie berufsbegleitend ab.

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