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Wechselwirkungen im deutsch-rumänischen Kulturfeld

Beiträge zu Sprach- und Literaturkontakten aus interkultureller Perspektive

von Sunhild Galter (Band-Herausgeber:in) Maria Sass (Band-Herausgeber:in) Ellen Tichy (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 280 Seiten

Zusammenfassung

Der Band betrachtet Wechselwirkungen im deutsch-rumänischen Kulturfeld aus drei verschiedenen Perspektiven: zum einen aus der Perspektive der Übersetzung als Vermittler von Literatur, zum anderen aus der Perspektive interkultureller und imagologischer Sichtweisen in Sprache und Literatur, und schließlich aus der Perspektive der Übersetzerwerkstatt der Hermannstädter Germanistik. Im Buch kommen namhafte Germanisten aus Deutschland und Rumänien zu Wort. Außerdem enthält der Band Erstübersetzungen von Werken von Joachim Wittstock ins Rumänische und Mircea Ivănescu ins Deutsche.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Übersetzer als Vermittler von Literatur
  • „Lern ich’s lieben, lehr ich’s lieben…“ Der Übersetzer Paul Celan und die rumänische Literatur
  • Interkulturelle Vermittlungstätigkeit im Zeichen zweier Diktaturen
  • Robert Reiter als Essayist und Übersetzer rumänischer Volksballaden
  • Von „Ihrsinn“ und „Affidersin“. Aspekte der Übertragung von Eugen Ruges Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts ins Rumänische
  • II. Interkulturelle und imagologische Sichtweisen in Sprache und Literatur
  • Südöstliche Lebenswelten in Andreas Birkners Sicht und Gestaltung
  • Interkulturalität und geistige Integration
  • Komparative Phraseologismen im Spannungsfeld von Interkulturalität und Transkulturalität
  • Elemente der Mündlichkeit in frühneuhochdeutschen Gerichtsprotokollen und deren Übertragung ins Rumänische
  • Das Bild des Anderen bei Heinz Weischer.Fallbeispiel: Konrads neue Freunde. Eine Geschichte aus Siebenbürgen
  • Schweizer Dramatik für das rumänische Theaterpublikum
  • Herta Müllers Roman Atemschaukel im Kontext einer literarischen Tradition
  • III. Aus der Übersetzerwerkstatt der Hermannstädter Germanistik
  • „Worte wie Spuren im Schnee“. Gedichte von Mircea Ivănescu in deutscher Übersetzung
  • Joachim Wittstock – Wortkünstler in Siebenbürgen
  • Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

I. Übersetzer als Vermittler von Literatur

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Horst Schuller
(Hermannstadt/Sibiu)

„Lern ich’s lieben, lehr ich’s lieben…“ Der Übersetzer Paul Celan und die rumänische Literatur

Abstract: This article provides a history of translation overview and an elaborately researched synthesis of the contradictory relationship between Paul Celan and his native country Romania, where he has spent half of his life and has tried to make his first steps as an author. This relationship to the political and intellectual life in Romania, shaped by tensions, additionally burdened after his flight by the experience of the Cold War, explains, in addition to his high standards concerning each source text, also the relatively small amount of his translations from the Romanian language. The author deals with moments of the Jews‘ persecution in Romania, with Celan’s experience of exclusion and leveling, but also with positive solidarity experiences he has had with Romanian-speaking poet friends during Celan’s short stay in Bucharest. From this period also the German-speaking authors Alfred Margul-Sperber, Oskar Walter Cisek, Wolf von Aichelburg and Rainer Biemel, friends of Celan, are mentioned.

Keywords: translation history, Paul Celan translator, muyltiple identity, stereotypes, modern Romanian literature, surrealism, achievements (Arghezi, Cassian, Naum, Teodorescu) and projects (Barbu,Blaga, Dimov, Stănescu), alienated homeland, superbia, metaphor of the Bessarabian carpet, excerpt, bibliogrphy, Arghezi’s German reception (publications, anthologies, volumes, translators), Bucovina, Transnistria, Bessarabia.

Paul Celan, der einen polyglotten Zugang zur Literatur pflegte, hat mehr als 60 Autoren aus sieben Sprachen (Amerikanisch/Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch) übersetzt und diese meist ohne Interlinearhilfen (eine Ausnahme bildet das Portugiesische und zum Teil auch das Hebräische) unternommenen Übertragungen, die etwa fünfzig Prozent seines Werkes ausmachen, stets als gleichberechtigten Teil seines Gesamtschaffens betrachtet.

Quantitativ überwiegen die Übersetzungen aus dem Französischen, also aus der Literatur seines Gastlandes. Es war demnach verständlich, dass jene nach seinem Tod vom Deutschen Literaturfonds (Darmstadt) ins Leben gerufene Preisstiftung, die Celans Namen trägt, jährlich ursprünglich nur solche Autoren auszeichnete, die französische Literatur ins Deutsche übertragen. Seit 1994 ← 13 | 14 → wird nun der Paul-Celan-Preis allerdings für literarische Übersetzungen aus allen Sprachen verliehen.

Theoretische Äußerungen Celans zum Übersetzen finden sich in Reden, Interviews und Briefen.1 Eine Übersicht über die verschiedenen Sprachen und Stationen in Celans Übersetzertätigkeit bietet der 1997 von Mitarbeitern des Literaturarchivs Marbach zusammengestellte Ausstellungskatalog „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer und das Sonderkapitel IV Übersetzungen im Celan-Handbuch2, das konzentriert über die sich wandelnden poetologischen Prinzipien des Übersetzers, die editorische Lage der Texte, über Phasen, äußere und innere Motivationen des Vermittlungsprozesses, über die gewählten Ausgangs- und Zielsprachen informiert. Dort, im Handbuch, heißt es über Quantum, Textsorten und Beruflichkeit dieser literarischen Mittlerarbeit: „Berücksichtigt man neben den veröffentlichten auch die vielen unveröffentlichten Übersetzungsarbeiten sowie die zahlreichen Skizzen, Entwürfe und unvollendeten Texte, dann dürfte das übersetzerische Oeuvre mehr als die Hälfte des Gesamtwerks ausmachen. Neben der Quantität beeindruckt die Spannbreite. Celan hat eine Vielzahl von Werken aus sieben Sprachen und Literaturen übertragen, fiktionale und nichtfiktionale Texte, Werke von höchster künstlerischer Dignität ebenso wie Kriminalromane, Lyrik ebenso wie Prosa und dramatische Texte, als freier Übersetzer, als Dolmetscher, als Deutschlektor an der Ecole Supérieure“3 in Paris.

Die Stelle des Rumänischen

Welchen quantitativen und symbolischen Platz nehmen nun Celans Übersetzungen aus dem Rumänischen ein? Reichen sie in der Summe aus – dieses die übersetzungsgeschichtliche Ausgangsfrage unserer Beschäftigung mit dem Thema – , ← 14 | 15 → um Celan zum Beispiel in ein Lexikon der deutschsprachigen Übersetzer aus dem Rumänischen aufzunehmen?

Bisher kennt man (wir beschränken uns nur auf Zeugnisse in der Zielsprache Deutsch) von Celan Übersetzungen lyrischer Texte von vier rumänischsprachigen Autoren, von denen bloß die Texte von zweien (nämlich von Gellu Naum und Virgil Teodorescu) zu Lebzeiten Celans veröffentlicht wurden. Die Gedichte der beiden anderen Autoren (Tudor Arghezi und Nina Cassian) wurden aus Celans Nachlass publiziert.

In welchen Punkten lassen sich aus dem mittlerweile veröffentlichten Briefwechsel, den kritisch kommentierten Werkausgaben, den Informationen über Celan in Wien,4 den posthum veröffentlichten Tagebüchern von Petre Solomon5, ← 15 | 16 → aber auch aus Akten des rumänischen Geheimdienstes oder dem Abschlussbericht über den Holocaust in Rumänien neue Fakten, Problemstellungen oder Erklärungen finden, die für Celans Biographie und speziell für seine auffallende Askese in der Vermittlung rumänischer Literatur von Wirkung gewesen sein könnten? Eine Antwort auf diese Frage kann hier freilich nur skizzenhaft versucht werden.

Celan, der seine komplexe mehrdimensionale Identität6 als ein der Geburtsheimat in zunehmendem Maße entfremdeter deutschsprachiger Bukowiner Jude offen lebte, verließ Rumänien, weil das Land ihm und seinen Czernowitzer Generationsgenossen im Grunde genommen schon vor dem Zweiten Weltkrieg fremd geworden war. Im Lyzeum gab es Wahrnehmungen und Erlebnisse des „Fremdens“7, des Verlorenseins8 so zum Beispiel durch parteiisch agierende Prüfer ← 16 | 17 → beim Ablegen des Abiturs9. Dann erlebte der Student Celan, dass er sein in Tours begonnenes Medizinstudium wegen des für Nationalitäten eingeführten Numerus clausus in Rumänien nicht fortsetzen durfte. Im Krieg war er betroffener Zeuge von Ghettoeinrichtung in Czernowitz und der Deportation der Bukowiner Juden nach Transnistrien10, in jenen südwestlichen Teil der Ukraine, der unter rumänischer Zivilverwaltung stand.

Er verlor seine Heimatstadt nach dem Krieg endgültig, als er sich entschied, die nunmehr sowjetisch besetzte Stadt zu verlassen und im Frühjahr 1945, wie viele andere Bürger der Stadt, nach Bukarest zu übersiedeln. Er verlor seine Eltern. Sie starben nicht in Krasnopolska, wie er noch im Juli 1944 unüberprüfbaren Berichten glaubte11, sondern in dem Deportiertenlager Michailowka (bei Gaissin), das faktisch nicht mehr in Transnistrien, sondern östlich davon im so genannten Reichskommissariat (in den westlichen und zentralen Teilen der) Ukraine lag und unter zentraler ziviler Verwaltung des Berliner Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete stand. Dort, in den besetzten Gebieten führte die Einsatzgruppe D, eine deutsche Spezialeinheit aus Sicherheitspolizei (bestehend aus Gestapo und Kriminalpolizei), Sicherheitsdienst und Ordnungspolizei von 1941 bis 1943 ← 17 | 18 → gemeinsam mit lokalen Milizen der Ortsbevölkerung ‚Säuberungen‘ und Massenmord an jüdischen Zivilisten im rückwärtigen Heeresgebiet durch. Celans Eltern hatten das Deportiertenlager Cariera am Bug (wohin u. a. auch die Familie von Immanuel Weißglas12 unter rumänischer Polizei- und Gendarmerie-Bewachung verschleppt worden war) getauscht, weil sie trotz Warnung gutgläubig annahmen, dass ein „Arbeitslager“ jenseits vom Bug, auf von deutschem Militär besetztem Gebiet erträglicher geführt werde, also die „einzige Rettung“13 sei. Der Vater, bei Straßenbauarbeiten eingesetzt, starb (wie die ins gleiche Arbeitslager verschleppte, mit der Familie Antschel (Celan) verwandte Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger) an Typhus, Celans Mutter, die in der Lagerküche beschäftigt war, wurde erschossen. Die systematische Verfolgung und Vernichtung der Bukowiner Juden war, der Nazi-Rassenideologie entsprechend, Ziel des von deutschen Einsatzgruppen unterstützten rumänischen Gendarmerie- und Militärapparates unter Diktator Antonescu. Celans persönliche Erlebnisse während seiner Aufenthalte in verschiedenen rumänischen Arbeitsbataillonen (bei wechselnden Straßenbaustellen in Rădăşani, Paşcani, Fălticeni, Tăbărşesti), die im Unterschied zu den Deportiertenlagern nach Absicht und Durchführung keine erklärten oder verkappten Vernichtungslager darstellten, sondern eine Zwangs-Alternative zum Wehrdienst bildeten, waren individualpsychologische Erlebnisse von Gewalt, Ausgrenzung und Erniedrigung, selbst wenn Celan dort Gedichte und Übersetztes notieren, Briefe an seine Freundin schreiben konnte.

Nach der Judenverfolgung der Kriegsjahre lebte der Antisemitismus verdeckt weiter. Über den Anteil rumänischer Faschisten am Holocaust, über die offizielle Regie der von der Militärdiktatur Antonescus organisierten Verfolgung und Vernichtung von Juden breitete die Nachkriegspolitik bald und für Jahrzehnte den Mantel des Schweigens. Der Holocaust wurde, wie die Wiesel-Kommission in ihrem Abschlussbericht14 festhielt, geleugnet, relativiert bzw. trivialisiert und im ← 18 | 19 → Vergleich mit der Verfolgung in anderen Staaten des faschistischen Bündnisses minimalisiert.

Rumänische Juden, Überlebende und Zeugen der Verfolgung, konnten und wollten das Geschehene nicht wie die Täter oder politischen Mitläufer vergessen oder verdrängen, sie verließen nach der Befreiung durch sowjetische Truppen nicht ohne Grund illegal und legal das Land. Zu den Gründen dieser Flucht gehörte neben den Erfahrungen der Vergangenheit freilich auch die Angst vor der Zukunft, vor den politischen und wirtschaftlichen Folgen der Sowjetisierung des Landes. Unvergessen blieb im kollektiven Gedächtnis die im Juni 1941 von der sowjetischen Geheimpolizei durchgeführte Deportation von 4000 Czernowitzern, zum Großteil Juden, die als „Kapitalisten“ nach Sibirien verschleppt wurden. In der verschleiernden Sprache des rumänischen Geheimdienstes hieß es im Synthesebericht für Januar 1947 über die Ursachen dieser Fluchtbewegung, dass die Juden mit den Demokratisierungsmaßnahmen der Regierung unzufrieden seien.15 Überführte rumänische Kriegsverbrecher konnten nach Frontwechsel von den eingesetzten Volksgerichten in Rumänien nicht verurteilt werden, weil die Täter sich nach der militärischen Wende an der neuen antifaschistischen Front sowjetische Medaillen verdient hatten. Überlebende aus Transnistrien, zum Beispiel Witwen und Kinder, erhielten im Landkreis Dorohoi nach ihrer Heimkehr nicht die vom Staat versprochene Unterstützung. Gerüchte gingen um, dass es nach Fallen des Eisernen Vorhangs an der neuen rumänisch-sowjetischen Grenze wieder zu Kriegshandlungen kommen könne. Der rumänische Geheimdienst sammelte Meldungen über Agenturen in Bukarest (geleitet von Kiva Orenstein, der dann 1950 in Haft geriet), die Agentur „Bettarism“ in Arad und anderen Städten, welche ← 19 | 20 → jüdischen Flüchtlingen über die grüne Grenze verhalfen. Von Celan weiß man, dass er in seinem Fall von Paul Păun16, einem befreundeten Bukarester Surrealisten, die notwendigen Tipps einholte. Aber über die genaueren Umstände seiner Flucht über Budapest nach Wien ist man nur unzureichend informiert.

Wo Celans Selbstaussagen fehlen, lassen sich – bei aller gebotenen Vorsicht – aus Romanen und Memoiren deutscher und österreichischer Autoren biographische Rückführungen auf Celans Rumänien-Zeit und hiermit auf bleibende Prägungen seines Eigenformates versuchen.

Rekonstruiert man anhand der Figur Petre Margul aus dem Roman Internationale Zone (1953) von Milo Dor und Reinhard Federmann ein Celan-Porträt, darf man als einen Grund zur Flucht auch den zunehmenden Druck auf den zunächst als Dokumentarist der Parteizeitung „Scînteia“ und dann als Verlagslektor bei Cartea Rusă, also auf ideologisch verpflichtetem Arbeitsplatz tätigen Dichter annehmen, der zum Eintritt in die Reihen der RKP (der Rumänischen Kommunistischen Partei, damals noch als Kommunistische Partei Rumäniens, KPR, bezeichnet. Im März 1948 fusionierte sie mit den Sozialdemokraten zur Rumänischen Arbeiterpartei, ab 1965 hieß sie dann RKP) und in Aufgabenbereiche eines Funktionärs gedrängt wurde. In der zweiten Oktoberhälfte 1947 fand der Kongress des Gewerkschaftsbundes der Künstler, Schriftsteller und Journalisten statt, der unmissverständlich die Dogmatisierung aller ideologischen Bereiche und eine Kampfansage gegen ‚formalistische‘ Kunst verkündete. Celan zögerte nicht länger und setzte seinen Fluchtplan in die Tat um.

Paul Celan hätte den Begriff des „Heimatvertriebenen“ für seine Situation nicht in Anspruch genommen, wie er auch jenen des Exilanten nicht beanspruchte. Er war nach gestundetem Aufleben in Bukarest als Flüchtling weggegangen, zunächst in das Sehnsuchtsland der Elterngeneration, nach Österreich (Wien) und dann in das Sehnsuchtsland rumänischer Intellektuellen, nach Frankreich (Paris), um nicht wieder zu kommen, obgleich er später an einige der im Osten verbliebenen Freunde Sehnsuchtsbriefe schickte. Diese Briefe von Paris nach Bukarest (u. a. an Solomon, Margul-Sperber, Cassian) oder Moskau (an Einhorn, Ehrenburg) mit ihren gängigen Klagen über den Westen und den etwas aufgesetzten Bekenntnissen zu kommunistischen Jugendidealen eilten bewusst und taktisch opportun der realen Briefzensur voraus. ← 20 | 21 →

Freilich wäre es verfehlt, aus all den oben angeführten negativen Erfahrungen und produktionslähmenden Traumata in mechanischer Direktheit Gründe festzulegen, Erklärungen zu konstruieren für Celans Verhältnis zum literarischen Rumänien. Aber diese Beschädigungen mögen den bitteren Ton und das Misstrauen in einigen privaten Briefen, unveröffentlichten Notaten oder Gesprächen besser verstehen lassen. Und Celans sarkastisches Urteil kennt keine Ausnahmen und Schonung: es trifft quer durch die Ethnien und Gesellschaftsschichten auch geltungssüchtige Herkunfts- und Schicksalsgenossen17, (plakativen Philosemitismus,)18 so genannte „engagierte“ Schriftsteller in Westdeutschland, „Linksnibelungen“, jüdische Antisemiten, bestimmte Vereine und Verbände auch rumäniendeutscher Aussiedler.

Angesichts politisierbarer und manipulierbarer Begriffskategorien und der nach dem Krieg geführten Diskussionen über einen Weltverband der Heimatvertriebenen (ein westdeutscher „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ bestand von 1950–1961 als politische Partei, die ein „Lebensrecht im Westen“ und gleichzeitig ein problematisches „Heimatrecht im Osten“ forderte. Der aktuelle deutsche „Bund der Vertriebenen“ betreibt eine Politik der Integration, der Verständigung und Versöhnung) formulierte Celan spöttisch, die Realität des Holocaust meinend: „Der Verband der Weltvertriebenen wäre ja wohl noch ins Leben zu rufen“. Distanz und Ablehnung spricht auch aus einem Fauna betitelten (wahrscheinlich 1962 festgehaltenen) Kurznotat: „Schölle und Ballmücken. Sieben- und ← 21 | 22 → andere Spießbürger. Im Hintergrund: Nebenneanderthal – Braunes.“19, das nicht nur gegen Böll und Schallück, oder gegen einen Kritiker wie Friedrich Sieburg, sondern auch grundsätzlich gegen Spießigkeit, Rückständigkeit, Korrumpierung des Heimatbegriffs, altes und verdecktes Nazitum, gegen Verstrickung auch rumäniendeutscher Umsiedlerfunktionäre in die „braune“ Politik gerichtet gewesen sein mochte. In Czernowitz wurden die umschreibenden Begriffe „Urgermane“ und „Neanderthaler“ in polemischen Presse-Auseinandersetzungen von jüdischer Seite (im Czernowitzer Morgenblatt) gebraucht, um 1936/1937 bestimmte Vertreter und Positionen der ‚volksdeutschen‘ Presse (Czernowitzer Deutsche Tagespost) ironisch zu verorten. Diese metaphorischen Begriffe scheinen Celan nicht unbekannt gewesen zu sein. So erschienen zum Beispiel im Czernowitzer Morgenblatt Artikel wie Aus Neanderthal, Neues aus Neanderthal, Den Neanderthalern ins Stammbuch, Neanderthaler Sprachkritik, Neanderthaler Dilemma, Neanderthaler Sprachsorgen.20

Den Landschaftsnamen „Siebenbürgen“ mochte Celan zuerst mit der Siebenbürgenstraße in Czenowitz verbunden haben; in seiner Bukarester Zeit unternahm er mit Freunden Gebirgs-Ausflüge in die Nähe des siebenbürgischen Kronstadt (des mittelalterlichen Corona), in Bukarest lernte er den aus Kronstadt gebürtigen, eher atypischen Siebenbürger Sachsen Rainer Biemel kennen. Biemel21, Lektor am ← 22 | 23 → Französischen Institut in Bukarest, der nach seiner Rückkehr aus sowjetischen Zwangsarbeitslagern die französische Staatsbürgerschaft annahm und sich in Paris niederließ, machte Celan, mit dem er auch in Paris in Freundschaft verbunden blieb, im März 1961 Hoffnung, sein Bruder, der damals in Köln lehrende Philosoph Walter Biemel, könne helfend in die (in der dritten Phase, 19601962, geführten) Auseinandersetzungen um den Plagiat-Vorwurf von Claire Goll eingreifen. Es ging um die Ähnlichkeit der von Claire Goll bearbeiteten Nachlassgedichte Iwan Golls mit den Gedichten Paul Celans und um Claire Golls Nachdichtungen aus I. Golls französischen Gedichten, die vorher von Celan übersetzt worden waren und dessen unveröffentlichte Fassungen Claire Goll genutzt hatte. Die Ähnlichkeiten erklärte Claire Goll mit gegen Celan gerichteten Plagiatsvorwürfen.

Über den in Leipzig lebenden, aus Sächsisch Regen in Siebenbürgen stammenden Dichter Georg Maurer wurde Celan in einem anonymen Brief zugetragen, Maurer habe in Schriftstellerkreisen, auf der Lyrikdiskussion des deutschen Schriftstellerkongresses in Berlin (DDR) im Januar 1956 Celan als Meisterplagiator bezeichnet,22 was Maurer in einem Leserbrief in der Zeitung „Die Welt“ von sich wies. Georg Maurer schrieb:

Kürzlich wurde ich von Professor Hans Mayer auf einen Artikel aufmerksam gemacht, der in der WELT vom 11. November [1960] anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an den Lyriker Paul Celan erschienen ist. Darin heißt es: „…1956 soll Georg Maurer von Paul Celan als einem Meisterplagiator gesprochen haben“.

Der Satz in meinem Referat „Zur deutschen Lyrik der Gegenwart“ (abgedruckt im Bändchen „Der Dichter und seine Zeit“, Aufbau-Verlag, Berlin 1956), auf den sich das Gerücht bezieht, heißt: „Wenn unsere jungen Lyriker ihren begabten Kollegen Paul Celan, der jetzt in Paris lebt, oder Ingeborg Bachmann lesen, ist es gut, wenn sie auch Iwan Goll und Else Lasker-Schüler etwas kennen. ← 23 | 24 →

Ich habe damit den Dichter Paul Celan ebenso wenig wie die Dichterin Ingeborg Bachmann (ich schätze eine ganz Reihe von Gedichten beider Autoren hoch ein) des Plagiats bezichtigt. Außerdem: es gibt Fälle (und es sind nicht wenige in der Kunst- und Literaturgeschichte) bei denen man sich mit dem Vorwurf des „Plagiats“ nur lächerlich machen würde. Bewusst habe ich aus der voraus gegangenen Dichtergeneration, von der wir alle lernen, Iwan Goll und Else Lasker-Schüler genannt als (im Vergleich zu Heym oder Trakl etwa) der jüngsten Generation weniger bekannte Repräsentanten des „expressionistischen Jahrzehnts“, die kennen zu lernen sich lohnt.

Details

Seiten
280
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056716
ISBN (ePUB)
9783653962406
ISBN (MOBI)
9783653962390
ISBN (Hardcover)
9783631663455
DOI
10.3726/978-3-653-05671-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Literarisches Übersetzen Interkulturelle Vermittlungstätigkeit Aspekte deutsch-rumänischen Kulturaustausches
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 280 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Sunhild Galter (Band-Herausgeber:in) Maria Sass (Band-Herausgeber:in) Ellen Tichy (Band-Herausgeber:in)

Sunhild Galter ist Dozentin an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Rumänien. Sie promovierte im Bereich der rumäniendeutschen Literatur, Methodik und Didaktik im DaM- und DaF-Bereich. Maria Sass ist Professorin für neuere deutsche Literatur an der Germanistik der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind rumäniendeutsche Literatur, Problematik der literarischen Interferenzen und der Interkulturalität. Ellen Tichy ist DAAD-Lektorin an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Rumänien. Aktuelle Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Interkulturelle Wirtschaftskommunikation, die deutsche Minderheit (Minderheitenmedien/dt. Minderheit in Bildung und Gesellschaft) sowie Fachdidaktik DaF und Landeskunde.

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Titel: Wechselwirkungen im deutsch-rumänischen Kulturfeld
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