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Die Gefährderansprache im Kontext versammlungsspezifischer Vorfeldmaßnahmen

von Sebastian Steinforth (Autor:in)
©2015 Dissertation 256 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor setzt sich mit dem in der juristischen Diskussion bislang weitgehend vernachlässigten Handlungsinstrument der Gefährderansprache auseinander. Diese wird eingesetzt, um einen friedlichen Versammlungsverlauf zu gewährleisten. Schon seit geraumer Zeit greifen die Gefahrenabwehrbehörden verstärkt auf sogenannte versammlungsspezifische Vorfeldmaßnahmen zurück. Im Buch wird sowohl die gefahrenabwehrrechtliche Tätigkeit im Versammlungsvorfeld als auch die Gefährderansprache einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Analyse der Gefährderansprache unter grundrechtlichen Gesichtspunkten ein. Die Arbeit liefert hiermit einen Beitrag zur systematischen Aufarbeitung der grund- und verwaltungsrechtlich relevanten Fragestellungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Gliederung
  • Einleitung
  • Erster Teil: Sicherheitsbehördliche Tätigkeiten im Versammlungsvorfeld
  • Kapitel 1: Das Phänomen kollektiver Gewalt im Rahmen von Versammlungen
  • A. Internationale politische Gipfeltreffen als Schauplätze gewaltsamer Auseinandersetzungen
  • B. Gewaltsame Verläufe und Ausschreitungen im Zuge sonstiger Veranstaltungen
  • I. Versammlungen
  • II. Sportgroßveranstaltungen
  • C. Die Entwicklung kollektiver Gewalt in der jüngeren Vergangenheit
  • I. Gewaltzuwachs
  • II. Zunehmende „Perfektionierung“
  • III. Ausblick
  • D. Entstehung und Ursachen kollektiver Gewaltausübung
  • I. Ausgangspunkte
  • II. Ursachen- und Motivforschung
  • 1. Das Phänomen des so genannten „Krawalltourismus“
  • 2. Theoretische Begründungsansätze
  • a) Deindividuation
  • b) Emergent-Norm-Theorie
  • c) Fazit
  • 3. Weitere Faktoren
  • a) Mediale Berichterstattung
  • b) Vorgehen polizeilicher Einsatzkräfte
  • c) Örtliche Gegebenheiten
  • d) Alkohol und sonstige Drogen
  • E. Sicherheitsbehördliche Tätigkeiten zur Verhinderung der Gewalt
  • I. Konzeptionelle Vorgehensweise der Polizei
  • II. Unterscheidung und Charakterisierung der verschiedenen polizeilichen Einsatzphasen
  • III. Das Versammlungsvorfeld als spezifische Einsatzphase
  • IV. Die öffentliche Debatte über den Zuwachs gefahrenabwehrrechtlicher Tätigkeiten im Versammlungsvorfeld: Exemplarische Darstellung anhand der Diskussionen um den G8-Gipfel in Heiligendamm
  • F. Fazit
  • Kapitel 2: Zur historischen Entwicklung polizeilicher Aufgabenwahrnehmung
  • A. Der Polizeibergriff als Spiegelbild politischen Wandels
  • I. Historische Entwicklungslinien
  • II. Der heutige Polizeibegriff
  • 1. Institutioneller Begriff
  • 2. Materieller Begriff
  • 3. Formeller Begriff
  • B. Von der Gefahrenabwehr zur Gefahrenprävention: Erweiterung polizeilicher Maßnahmen ins Vor- und Umfeld von Gefahrensituationen
  • I. Versubjektivierung des Polizeirechts
  • II. Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfes eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder (VE-MEPolG)
  • 1. Allgemeines
  • 2. Neue Dimensionen polizeilicher Vorfeldtätigkeit
  • III. Europäische Dimension
  • C. Europäisierung der Gefahrenabwehr
  • I. Das Europäische Polizeiamt (Europol)
  • II. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)
  • III. Grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit
  • IV. Gemeinschaftsrechtlicher Konformitätsvorbehalt
  • D. Zur gegenwärtigen Situation
  • E. Fazit
  • Kapitel 3: Das rechtliche Konstrukt der versammlungsspezifischen Vorfeldmaßnahme
  • A. Grundlagenbetrachtung
  • I. Zur begrifflichen Einordnung
  • II. Mögliche Differenzierungsansätze
  • 1. Zeitlich-räumlicher Bezugspunkt
  • 2. Ort der Veranstaltung
  • 3. Zielrichtung der Maßnahmen
  • 4. Kriterium des Adressatenkreises
  • III. Der Begriff der Vorfeldtätigkeit abseits des versammlungsrechtlichen Geschehens
  • B. Die Frage des Regelungsstandorts – Einordnung zwischen Gefahrenabwehr- und Strafprozessrecht
  • I. Ursachen und Bedeutung der Abgrenzung
  • II. Zielrichtung: Verhütung von Straftaten
  • III. Doppelfunktionale Maßnahmen im Versammlungsvorfeld
  • C. Die spezifische Problematik versammlungsbezogener Vorfeldmaßnahmen: Zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat
  • D. Fazit
  • Kapitel 4: Übersicht und Darstellung der gängigen versammlungsspezifischen Vorfeldmaßnahmen
  • A. Das erweiterte Vorfeld: Maßnahmen im Zeitraum vor der Anreise zur Versammlung
  • I. Gefährderansprache, -anschreiben
  • II. Meldeauflage
  • III. Aufenthaltsverbot
  • IV. Ausreiseuntersagung
  • B. Das Vorfeld im engeren Sinne: Maßnahmen im Zuge der Anreise der Versammlungsteilnehmer
  • I. Bild- und Tonaufnahmen
  • II. Identitätsfeststellung
  • III. Einrichtung von Kontrollstellen
  • IV. Durchsuchung von Personen
  • V. Durchsuchung von Sachen
  • VI. Sicherstellung
  • VII. Platzverweis
  • VIII. Ingewahrsamnahme
  • IX. Verbringungs- und Rückführungsgewahrsam
  • C. Veranstalterbezogene Vorfeldmaßnahmen
  • I. Verbot
  • II. Auflage
  • D. Fazit
  • Kapitel 5: Verfassungsrechtliche Grundlagen versammlungsspezifischer Vorfeldmaßnahmen
  • A. Grundrechtsfunktionen
  • I. Subjektiv-rechtliche Grundrechtsdimensionen
  • II. Objektiv-rechtliche Wirkungen
  • B. Staatliche Schutzpflichten
  • I. Allgemeines
  • II. Dogmatische Herleitung
  • III. Konkrete Grundrechtsbestimmungen
  • 1. Art. 8 I GG
  • 2. Art. 2 II 1 GG
  • 3. Art. 14 I 1 GG
  • 4. Transformation der Schutzpflichten in einfachgesetzliche Regelungen
  • C. Grenzüberschreitende Konstellationen
  • I. Räumlicher Geltungsbereich staatlicher Schutzpflichten
  • II. Gefahrverhinderungspflicht aus sonstigen Gründen
  • 1. Zwischenstaatliches Rücksichtnahmegebot
  • 2. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)
  • 3. Völkerrechtliches Interventionsverbot
  • D. Fazit
  • Kapitel 6: Der Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts im Kontext versammlungsbezogener Vorfeldmaßnahmen
  • A. Zur Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts
  • I. Begriffsbestimmung
  • II. Vergleichbare Grundsätze
  • III. Begründungsansätze
  • 1. Verwaltungsrechtlicher Art
  • 2. Verfassungsrechtlicher Art
  • B. Problemkonstellationen der Polizeifestigkeit
  • I. Vorfeldmaßnahmen
  • 1. Regelungsumfang des Versammlungsgesetzes
  • 2. Beachtung des in Art. 19 I 2 GG verankerten Zitiergebots
  • a) Zielrichtung
  • b) Eingriffsqualität
  • c) Übergangsfrist
  • d) Stellungnahme
  • II. Minusmaßnahmen
  • III. Nichtöffentliche Versammlungen
  • C. Fazit
  • Zweiter Teil: Die Gefährderansprache als Bestandteil versammlungsspezifischer Vorfeldmaßnahmen
  • Kapitel 1: Einführende Darstellung der Rechtsfigur
  • A. Grundlegende Begriffserläuterung
  • B. Wirkungsweise
  • C. Erfolgsfördernde Faktoren
  • D. Mögliche Gefahren
  • E. Konkreter Anwendungsbereich
  • I. Versammlungslagen
  • II. Sonstige Anwendungsfelder
  • F. Fazit
  • Kapitel 2: Die Gefährderansprache unter grundrechtlichen Gesichtspunkten
  • A. Tangierte Schutzbereiche
  • I. Versammlungsfreiheit – Art. 8 I GG
  • 1. Teilnehmerzahl
  • a) „Ein-Mensch-Versammlung“
  • b) Zwei Personen
  • c) Notwendigkeit einer größeren Anzahl
  • d) Stellungnahme
  • 2. Zweck der Versammlung
  • a) Weiter Versammlungsbegriff
  • b) Erweiterter Versammlungsbegriff
  • c) Enger Versammlungsbegriff
  • d) Stellungnahme
  • 3. Geschützte Verhaltensweisen
  • 4. Friedlichkeit
  • 5. Grundrechtsträger
  • 6. Fazit
  • II. Eigenständiges Grundrecht der Demonstrationsfreiheit
  • III. Meinungsfreiheit – Art. 5 I 1, 1. Hs. GG
  • 1. Begriff der Meinung
  • 2. Geschützte Verhaltensweisen
  • 3. Verhältnis zur Versammlungsfreiheit
  • IV. Freizügigkeit – Art. 11 I GG
  • 1. Aufenthaltsnahme
  • a) Abgrenzungsversuche
  • b) Aufenthaltsrelevanz der Gefährderansprache
  • 2. Träger des Grundrechts
  • 3. Verhältnis zu Art. 8 I GG
  • V. Ausreisefreiheit – Art. 2 I GG
  • VI. Recht auf Freiheit der Person – Art. 2 II 2 GG
  • VII. Allgemeines Persönlichkeitsrecht – Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
  • VIII. Allgemeine Handlungsfreiheit – Art. 2 I GG
  • IX. Zwischenergebnis
  • B. Eingriffsqualität der Gefährderansprache
  • I. „Klassischer“ Eingriffsbegriff
  • 1. Rechtsförmigkeit
  • a) Gefährderansprache als Verwaltungsakt
  • aa) Bestimmung der einzelnen Begriffsmerkmale
  • bb) Regelungscharakter der Gefährderansprache
  • b) Zwischenfazit
  • 2. Weitere Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs
  • II. „Moderner“ Eingriffsbegriff
  • 1. Allgemeines
  • 2. Verbleibender Entscheidungsspielraum
  • 3. Anprangerungseffekt
  • III. Zwischenergebnis
  • C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • I. Einschränkbarkeit der Grundrechte
  • 1. Versammlungsfreiheit – Art. 8 I GG
  • 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht – Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
  • 3. Allgemeine Handlungsfreiheit – Art. 2 I GG
  • 4. Fazit
  • II. Verfassungsmäßigkeit des Schrankengesetzes
  • 1. Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes
  • a) Abgrenzung zu den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten
  • b) Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage für faktisch-mittelbare Beeinträchtigungen
  • aa) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • bb) Kritik
  • cc) Fehlende Übertragbarkeit auf die Konstellation der Gefährderansprache
  • 2. Normative Grundlage der Gefährderansprache
  • a) Versammlungsgesetzliche Bestimmungen
  • b) Aufgabenzuweisungsnormen
  • c) Befragung
  • d) Aufenthaltsverbot
  • e) Gefahrenabwehrrechtliche Generalklausel
  • f) Zwischenfazit
  • 3. Zitiergebot
  • 4. Kompetenz der Landesgesetzgeber
  • 5. Bestimmtheitsgebot
  • a) Allgemeines
  • b) Abgrenzung von Generalklausel und Standardmaßnahmen
  • c) Fehlende Erforderlichkeit einer Standardermächtigung für die Gefährderansprache
  • 6. Verhältnismäßigkeit des Schrankengesetzes
  • 7. Fazit
  • III. Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes
  • 1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
  • a) Legitimer Zweck
  • b) Geeignetheit
  • c) Erforderlichkeit
  • d) Angemessenheit
  • aa) Einführende Bemerkungen
  • bb) Spezifische Vorgaben
  • (1) Wechselwirkungslehre
  • (2) Gewicht des Persönlichkeitseingriff
  • cc) Angemessenheitsprüfung
  • (1) Abstrakte Feststellung der gegenläufigen Interessen und ihre Gewichtung
  • (a) Beeinträchtigte subjektive Rechte
  • (b) Verfolgte (Gemeinwohl-)Ziele
  • (2) Konkrete Ermittlung von Vor- und Nachteilen
  • (a) Auswirkungen auf den Betroffenen
  • (aa) Beeinträchtigungsintensität
  • (bb) Kriterien der polizeilichen Prognoseentscheidung
  • (α) Strafrechtlich relevante Lebenssachverhalte
  • (β) Gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen
  • (γ) Eintrag in Gewalttäterdateien
  • (δ) Öffentliche Gewaltaufrufe
  • (ε) Zugehörigkeit zu bestimmten Personenkreisen
  • (b) Konkreter Gemeinwohlgewinn
  • (3) Abwägung
  • 2. Fazit
  • Dritter Teil: Fazit
  • Kapitel 1: Fazit erster Teil
  • Kapitel 2: Fazit zweiter Teil
  • Schrifttumsverzeichnis

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Einleitung

In einer Demokratie muss sich der Prozess der Meinungs- und Willensbildung „vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin, vollziehen.“1 Versammlungen sind daher eine wesentliche Möglichkeit, um auch zwischen den Wahlen Einfluss auf die „Obrigkeit“2 zu nehmen.3 Sie enthalten, so Hesse,4 „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.“ Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass die „latente Emotionalität einer Versammlung … sich schnell und unvermittelt entladen, enthemmende Wirkung freisetzen und in die Aggressivität und den Furor der Masse umschlagen kann.“5 Versammlungen fungieren somit nicht nur als „Lebenselixier“6 demokratischer Staatsformen, sie sind zugleich in besonderem Maße konfliktträchtig7 und verfügen über die „Potenz zur Gefährdung der Demokratie als geordnetes Verfahren der politischen Entscheidungsfindung und –durchsetzung.“8 Um einen friedlichen und gewaltfreien Versammlungsverlauf zu gewährleisten, setzen die ­Gefahrenabwehrbehörden seit geraumer Zeit verstärkt auf Maßnahmen, die bereits vor Beginn einer Versammlung zur Anwendung kommen.9 Zu den so genannten versammlungsspezifischen „Vorfeldmaßnahmen“10 zählt dabei unter anderem das Handlungsinstrument der Gefährderansprache. Hierbei handelt es sich um „die in einem konkreten Fall an einen potentiellen Gefahrenverursacher gerichtete Ermahnung, Störungen der öffentlichen Sicherheit zu unterlassen.“11 ← 17 | 18 →

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, sich mit der in der juristischen Diskussion bislang weitgehend vernachlässigten12 Gefährderansprache als Bestandteil versammlungsspezifischer Vorfeldmaßnahmen näher zu befassen. Hierzu unterteilt sich die Bearbeitung in zwei Themenkomplexe.

Gegenstand des ersten Teils ist die gefahrenabwehrrechtliche Tätigkeit im Versammlungsvorfeld. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf das Phänomen kollektiver Gewalt als Ursache versammlungsspezifischer Vorfeldmaßnahmen. Um die exakte Einordnung neuerer Formen sicherheitsbehördlichen Handelns zu ermöglichen, sollen darüber hinaus die Grundzüge der historischen Entwicklungsstufen polizeilicher Tätigkeit dargelegt werden. Hieran anknüpfend beschäftigt sich die Arbeit erstmals näher mit dem rechtlichen Konstrukt der versammlungsspezifischen Vorfeldmaßnahme. Dies betrifft insbesondere die begriffliche Klärung sowie die Frage nach dem genauen Regelungsstandort. Die Bearbeitung liefert schließlich in einem weiteren Schritt eine ausführliche Darstellung der gängigen versammlungsspezifischen Vorfeldmaßnahmen, um sodann deren verfassungsrechtliche Grundlagen zu beleuchten. Im letzten Kapitel des ersten Teils ist schließlich der Frage nachzugehen, ob der Grundsatz der Polizeifestigkeit im Widerspruch zu den versammlungsspezifischen Vorfeldmaßnahmen stehen könnte.

Demgegenüber beschäftigt sich der zweite Teil der Bearbeitung speziell mit der Gefährderansprache. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Analyse unter grundrechtlichen Gesichtspunkten zu. Diese orientiert sich an der „klassischen“ Struktur der Grundrechtsprüfung. Es stellt sich somit zunächst die Frage nach den von der Gefährderansprache tangierten Schutzbereichen, um sodann die grundrechtseingreifende Wirkung der Maßnahme zu erörtern. Daran anschließend soll untersucht werden, ob ein (möglicher) Eingriff gegebenenfalls gerechtfertigt werden kann. Hierzu wird das Augenmerk nicht zuletzt auf den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu lenken sein, der „als praktisch wichtigste Anforderung an Grundrechtsbeschränkungen“13 gilt.

1 BVerfGE 20, 56; so auch Pötters / Werkmeister, ZJS 2011, 222.

2 Kloepfer, in: Isensee / Kirchhof, Hdb. StaatsR, Bd. VII, S. 978.

3 Pötters / Werkmeister, ZJS 2011, 222, bezugnehmend auf den als „Lehrbuch der Versammlungsfreiheit“ (Gusy, JuS 1986, 608) bezeichneten Brokdorf Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 14. Mai 1985 (BVerfGE 69, 315).

4 Hesse, VerfR, S. 176; zustimmend BVerfGE 69, 315 (347).

5 Depenheuer, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. II, Art. 8 Rdnr. 3.

6 Depenheuer, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. II, Art. 8 Rdnr. 5.

7 Pötters / Werkmeister, ZJS 2011, 222.

8 Depenheuer, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. II, Art. 8 Rdnr. 5.

9 Trurnit, NVwZ 2012, 1079.

10 Etwa Schenke, POR, S. 239 m.w.N.

11 Rachor, in: Lisken / Denninger, Hdb. PolR, S. 540; so auch Hebeler, NVwZ 2011, 1364.

12 So zu Recht Hebeler, NVwZ 2011, 1364.

13 Sachs, GG, Art. 20 Rdnr. 146.

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Erster Teil: Sicherheitsbehördliche Tätigkeiten im Versammlungsvorfeld

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Kapitel 1: Das Phänomen kollektiver Gewalt im Rahmen von Versammlungen14

Ziel des ersten Kapitels ist es, das Phänomen kollektiver Gewalt im Rahmen von (Groß-)Versammlungen näher zu beleuchten. Hierzu geht die Bearbeitung eingangs der Frage nach, wo genau die Schauplätze gewaltsamer Auseinandersetzungen zu finden sind. In einem weiteren Schritt widmet sie sich sodann den Entwicklungslinien der jüngeren Vergangenheit, um anschließend die Ursachen kollektiver Gewalt zu thematisieren. Zuletzt sollen die sicherheitsbehördlichen Tätigkeiten zur Verhinderung der Gewalt in den Blick genommen werden.

A. Internationale politische Gipfeltreffen als Schauplätze gewaltsamer Auseinandersetzungen

Auch wenn es sich bei den alljährlich stattfindenden internationalen politischen Gipfeltreffen um Zusammenkünfte unterschiedlichster Institutionen handelt, so ähnelt sich die mediale Berichterstattung bisweilen stark. Gemeint sind jedoch nicht die obligatorischen Gruppenfotos der teilnehmenden Staatsoberhäupter, sondern die im kollektiven Bildgedächtnis15 mittlerweile ebenso fest verankerten Szenen ritualisierter Gewalt abseits des eigentlichen Geschehens. Bezeichnen sich die Verursacher jener Geschehnisse oftmals als „Globalisierungsgegner“,16 so scheint ihnen an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem durchaus zweischneidigen Schwert17 der Globalisierung in aller Regel nicht gelegen.18 Der breiten Masse friedlicher Demonstranten wird so pauschal das Stigma gewalttätiger ← 21 | 22 → Extremisten zuteil.19 Dabei gilt es zu festzuhalten, dass sich trotz der heterogenen Struktur der Protestszene20 die überwiegende Mehrheit der Globalisierungskritiker weitgehend friedlich engagiert. Demgegenüber erscheint einer gewaltbereiten, die Anliegen der Gegenseite diskreditierenden Minderheit jeder Anlass recht, den Staat herauszufordern.21 Nicht zuletzt der deutschen Öffentlichkeit sind die Vorkommnisse anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm noch präsent, prägten sie doch die damalige Medienberichterstattung in beachtlichem Maße.22 Doch genau wie die Veranstaltungsorte von G8-, G20-, Nato- und EU-Gipfeln, Weltwirtschaftsforen und Sicherheitskonferenzen auf allen Kontinenten zu finden sind, stellt sich auch das im Umfeld dieser Veranstaltungen zu beobachtende Gewaltphänomen als ein globales, nicht auf bestimmte Länder und Regionen zu begrenzendes, dar.23 Ziel der Gewaltaktionen sind zum einen die vor Ort agierenden staatlichen Sicherheitsbehörden.24 Dabei variieren die Erscheinungsformen konfliktträchtiger Interaktion zwischen verbalen Provokationen, vereinzelten Stein- und Flaschenwürfen sowie ausgewachsenen Straßenschlachten.25 Ebenso häufig zu verzeichnen sind die so genannten „objektbezogenen Gewalttaten“.26 Hierbei handelt es sich um die Verwüstung von Objekten, die aufgrund ihrer Symbolik27 oder eines thematischen Zusammenhangs ins Visier der Täter geraten.28 Ausgangspunkte gewaltsamer Aktionen sind nicht selten die im ­näheren ← 22 | 23 → Umfeld der Veranstaltungsorte errichteten Protestcamps, die von einzelnen Gewalttätern gezielt als Rückzugsraum und „Basislager“ missbraucht werden.29 Gewaltsame Konflikte im Zuge der unter enormer medialer Beobachtung stehenden internationalen politischen Gipfeltreffen haben sich seit Ende der 1990er Jahre kontinuierlich etabliert.30 Als Wendepunkt der jüngeren Vergangenheit gilt gemeinhin die 1999 im amerikanischen Seattle veranstaltete Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die in Folge massiver Ausschreitungen frühzeitig abgebrochen werden musste.31 Das Phänomen kollektiver Gewalt erweist sich seitdem als regelmäßige Begleiterscheinung entsprechender Veranstaltungen.

B. Gewaltsame Verläufe und Ausschreitungen im Zuge sonstiger Veranstaltungen

Gewalttätige Auseinandersetzungen lassen sich jedoch keineswegs nur im Umfeld internationaler politischer Gipfeltreffen beobachten. Grundsätzlich gilt, dass Veranstaltungen, die sich durch ein Zusammentreffen größerer Menschenmengen auszeichnen, über ein spezifisches Gefahrenpotential verfügen.32 Entsprechend konfliktträchtige Veranstaltungen werden im Folgenden exemplarisch dargestellt. ← 23 | 24 →

I. Versammlungslagen

Obgleich Versammlungen und Aufzüge in den allermeisten Fällen als friedlich zu qualifizieren sind,33 kommt es im Zuge einzelner Protestgeschehnisse immer wieder zu gewaltsamen Eskalationen.

So sehen sich etwa die Sicherheitsbehörden in Berlin am ersten Mai jeden Jahres mit einer mehrdimensionalen Versammlungslage konfrontiert,34 in deren Verlauf es seit nunmehr über 20 Jahren zum wiederkehrenden Ausbruch ritualisierter Gewaltexzesse kommt.35 Während die tagsüber veranstalteten Straßenfeste und Demonstrationszüge überwiegend ruhig verlaufen, entlädt sich meist in den Abendstunden die angespannte Atmosphäre des Tages und es kommt – im Schutze der Dunkelheit sowie unter Ausnutzung einer aus friedlichen Personen bestehenden Deckungsmasse36 – zu Krawallen.37 Anlässlich der abendlichen „Revolutionären Mai-Demonstration“ lieferten sich Gewalttäter und Polizei auf diese Weise im Jahre 2009 die seit Jahren schwersten Auseinandersetzungen bis weit in die frühen Morgenstunden.38 Die ritualisierten Ausschreitungen, an denen sich vorwiegend Personen aus dem linksautonomen Spektrum sowie jugendliche Randalierer ohne politischen Hintergrund beteiligen,39 richten sich primär gegen die vor Ort eingesetzten Polizeikräfte, deren bloße Anwesenheit von Vielen als Provokation aufgefasst wird und einen willkommenen Anlass für ← 24 | 25 → Stein- und Flaschenwürfe bietet.40 Auch wenn die Kreuzberger Gewaltrituale deutschlandweit noch eine Ausnahmeerscheinung darstellen, sind mittlerweile auch in anderen Städten vergleichbare Vorkommnisse zu beobachten.41

Ein besonders hohes Gewaltpotential weisen darüber hinaus Versammlungen der rechtsextremistischen Szene auf. In deren Verlauf wird erfahrungsgemäß weniger die Konfrontation mit Ordnungskräften, als vielmehr die gezielte gewaltsame Auseinandersetzung mit Gegendemonstranten des linken Lagers gesucht.42 Die Verhinderung eines direkten Aufeinandertreffens beider Seiten ist trotz enormer personeller Anstrengungen oftmals nur schwer zu gewährleisten. Hinzu kommt, dass einzelne Versammlungsgegner mitunter schon im Vorfeld in Erscheinung treten, indem sie etwa der anderen Seite das Erreichen des Veranstaltungsortes zu erschweren versuchen.43

Gewaltsame Konflikte prägten eine geraume Zeit lang auch Versammlungen der westdeutschen antiatomaren Bürgerbewegung. Exemplarisch ist die auf dem Höhepunkt der Proteste gegen das in den 1970er und 80er Jahren gebaute Kernkraftwerk Brokdorf in der holsteinischen Wilstermarsch veranstaltete Großkundgebung vom 28. Februar 1981 zu nennen.44 Im Verlauf der Demonstration, an der sich circa 100.000 Menschen beteiligten, kam es zu teils erheblichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden.45 Im Lager der Atomkraftgegner vollzog sich dabei eine für alle sichtbare Abspaltung militanter Gruppen von dem ganz überwiegend friedlichen, sich durch passiven Wiederstand auszeichnenden Teil.46 Zwar waren Veranstaltungen dieser Dimension in den letzten Jahren nicht zu verzeichnen; stattdessen kommt es jedoch im Zuge so genannter Castortransporte in deutsche Atommüllzwischenlager immer wieder zu Demonstrationen ← 25 | 26 → und Auseinandersetzungen, die sich bisweilen nicht auf Sitz- und Gleisblockaden beschränken.47

II. Sportgroßveranstaltungen

Einen weiteren Schauplatz kollektiver Gewaltbereitschaft stellen die allwöchentlich unter dem Dach der Deutschen Fußball Liga (DFL), des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sowie der einzelnen Landesverbände ausgetragenen Sportgroßveranstaltungen dar. Das Phänomen der Gewalt – in diesem Zusammenhang auch besser bekannt unter dem Schlagwort des „Hooliganismus“48 – fand in Deutschland erst in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts größere Beachtung.49 Mittlerweile ist es nicht nur in den höchsten Spielklassen, sondern gerade auch in den unteren Ligen aufgrund der dort vergleichsweise geringen Polizeipräsenz zu beobachten.50 Je nach Verein, Ligazugehörigkeit, Spielpaarung sowie weiteren Faktoren variiert die Zahl der involvierten Beteiligten zwischen einigen Wenigen und mehreren Hunderten. Unabhängig davon, ob diese Veranstaltungsformen als Versammlungen im verfassungsrechtlichen Sinne einzustufen sind – wofür aufgrund der Konsumentenstellung der Zuschauer hinsichtlich einer auf Unterhaltung und kommerziellen Erfolg ausgerichteten Veranstaltung sowie der allenfalls beiläufigen Natur der öffentlichen Meinungskundgabe wenig Anhaltspunkte ersichtlich sind51 – sollen sie aufgrund ihres im Vergleich zur „klassischen“ Versammlungslage völlig eigenen Charakters sowie der daraus resultierenden Folgeprobleme nicht Gegenstand der weiteren Bearbeitung sein. Der Vollständigkeit halber sind sie jedoch im Kontext der gewaltgeneigten Veranstaltungen anzuführen, finden sich doch in ihrem Vorfeld nahezu alle gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen wieder, die von den Behörden auch im Versammlungsvorfeld angewandt werden.52 ← 26 | 27 →

C. Die Entwicklung kollektiver Gewalt in der jüngeren Vergangenheit

Details

Seiten
256
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055900
ISBN (ePUB)
9783653962802
ISBN (MOBI)
9783653962796
ISBN (Paperback)
9783631663141
DOI
10.3726/978-3-653-05590-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Versammlungsrecht Grundrechte Polizeirecht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 256 S.

Biographische Angaben

Sebastian Steinforth (Autor:in)

Sebastian Steinforth studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Gießen und Köln. Derzeit arbeitet er als Referendar am Landgericht Düsseldorf.

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