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Zusammenfassung

Das Thema der Monographie sind nichtlineare Prozesse, Oszillationen, Resonanzen, Pulsierungen und Schwingungen in Literatur und Kultur, die Edmund Burke als sublim und Immanuel Kant als erhaben bezeichnet haben und für die Walter Benjamin den Begriff der Jetztzeit, Theodor W. Adorno der apparition und Karl Heinz Bohrer den der Plötzlichkeit verwenden. Es handelt sich dabei oft um latente Prozesse, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht beschrieb, da diese die allerfeinsten Differenzen reflektieren. Diese unmerklichen Bewegungen und Nuancen sind spezifisch für jene Impulse, welche das epiphane Wesen der Ästhetik des Schwingens verkörpern. In literarischen Ereignissen handelt es sich um synoptische Prozesse und Interferenzen. Von ihnen führt der Weg zum zeitgenössischen Begriff des Erhabenen und zur Ästhetik des Schwingens bzw. zur interferentiellen Ästhetik, die zu Schlüsselbegriffen dieser Publikation wurden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Ästhetik des Schwingens – eine Antwort auf die Avantgarde-Ästhetiken des 20. Jahrhunderts?
  • Jetztzeit, Apparition, Plötzlichkeit
  • Körper, Zeichen, Ästhetik
  • Wahrnehmung, Erlebnishaftigkeit und modale Semiotik
  • Literaturgeschichtsschreibung als synoptische Karte
  • Nationalliteratur als Teil des mitteleuropäischen kulturellen Gedächtnisses
  • Noch einmal Kleist. Am Rand einer Diskussion
  • Metamorphosen und Metastasen des Grasmotivs
  • Defiguralisierung des Textes
  • Der Syllogismus als rhetorische Figur
  • Das Gedicht an der Schwelle der Hörbarkeit
  • Das Erhabene und die romantische Ironie. A. S. Puškin: „Eugen Onegin“
  • Das Erhabene und der Tod. Karl Kraus: „Die letzten Tage der Menschheit“
  • Schwejk und die Erhabenheit des Banalen
  • Vom Lachen des Entsetzens und vom Entsetzen des Lachens
  • Das Erhabene und das Entsetzen. Richard Weiner: „Der leere Stuhl“
  • Vom Paradies der Welt zum Labyrinth des Herzens. Alta Vášová: „In den Gärten“
  • Erhabenes und Mediales. Falte, Barock und die Gruppe „A-R“
  • Bibliographische Notiz
  • Reihenübersicht

Vorwort

Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts begann ich mit der Erforschung dynamischer, nichtlinearer Prozesse in der Literatur. Ausgehend von Oskár Čepans Überlegungen zu Pluralität und Zufälligkeit in literarischen Prozessen, welche die Archäologie eines literarischen Gedächtnisses bilden, dem Konzept vom offenen Sinn des Werks der jüngeren Generation der tschechischen Strukturalisten, welches Umberto Eco in systematische semiotische Formen unterschied, sowie Jurij Lotmans Modell der dynamischen Prozesse als Grundlage der Kultur, stützte ich mich dabei auf die Konzeption nichtlinearer Prozesse Ilya Prigogines, die Theorie synergetischer Prozesse Hermann Hakens sowie auf Untersuchungen zu Zufall und Chaos von Manfred Eigen, Fritjof Capra und James Gleick. Als gemeinsamen Nenner für diese analytischen Betrachtungen verwendete ich den Begriff der Kreativität der Literatur. Die Ergebnisse dieser Arbeit fasste ich 1990 in der Publikation „Tvorivosť literatúry“ [Kreativität der Literatur] zusammen. Der Begriff der Kreativität hatte für mich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht allein eine literaturtheoretische Bedeutung, ich setzte ihn damals auch der Rigidität offizieller theoretischer Überlegungen in der Tschechoslowakei der siebziger und achtziger Jahre entgegen.

Zu Beginn der neunziger Jahre wurde mir bewusst, dass sich nichtlineare Prozesse in Literatur und Kultur als Oszillation, Resonanz, ein Pulsieren charakterisieren lassen, und dass der Begriff der Kreativität sich als allzu optimistisch darstellt, da er nur aus einer kreativen Reaktion auf die große semiotische Krise hervorgeht. Meine zweite theoretische Publikation nannte ich daher „Pulzovanie literatúry“ [Pulsieren der Literatur] (1993). Darüber hinaus erkannte ich, dass A-Versionen gegen die Kreativität nicht nur eine dekonstruierende Sub-Version sind, wie es der Poststrukturalismus beschrieb, sondern gleichzeitig den Vorgang einer Re-Version, Kon-Version und Per-Version der Originalversion ausdrücken, der nicht einen großen kreativen Systemwandel darstellt, sondern auch epiphane Impulse, die ganz plötzlich ← 7 | 8 → auftauchen, flimmern und unwiederbringlich verschwinden. Metaphorisch umschrieb diesen Prozess Hugo von Hofmannsthal im Chandosbrief mit dem Bild des Wirbels, das zur Entstehung der modernen Ästhetik des 20. Jahrhunderts hinführte. Walter Benjamin beschreibt dieses Merkmal schwingender Prozesse später mit dem Begriff der Jetztzeit, Theodor W. Adorno benutzte in diesem Zusammenhang den Begriff der apparition und Karl Heinz Bohrer den der Plötzlichkeit. Gerade die Schwingungen dieser epiphanen Momente bilden die Grundlage der Ästhetik des Schwingens als eine zeitgenössische Ästhetik des Erhabenen. Die Ästhetik des Erhabenen, welcher wie der Ästhetik des Sublimen Edmund Burkes und Kants Ästhetik des Erhabenen als Ehrfurcht vor der Unvorstellbarkeit der Gewaltigkeit, Erstaunlichkeit und des Schreckens der Natur mannigfaltigste Arten des Schwingens zwischen der Überwältigung des Entsetzens, des Nichts, der Leere, aber auch des Grotesken und der Banalität immanent sind, bildet in der neuzeitlichen Ästhetik eine Gegenbewegung zur modernen Ästhetik der Schönheit und des Hässlichen, die im 20. Jahrhundert in der Ästhetik des Schockierenden und des Blasphemischen der Avantgarde gipfelte.

In den letzten zwanzig Jahren widmete ich mich nicht allein den Prozessen des Schwingens in literarischen Texten und der Poetik des Schwingens, sondern auch Bewegungen des Schwingens in literarischen und kulturellen Verfahren. In diesem Zusammenhang untersuchte ich synoptische Prozesse in literarischen Ereignissen, auf welche auch Pavel Matejovič seine Aufmerksamkeit richtete. Von ihnen aus war es nur ein kleiner Schritt zum Begriff der Interferenz und zur interferentiellen Ästhetik. Ich betrachte sie als den Schlüsselbegriff der gesamten Ästhetik des Schwingens, nach der ich die vorliegende Publikation benannt habe.

In der letzten Zeit stellten sich im Zusammenhang mit der Ästhetik des Schwingens noch einige weitere Begriffe als hilfreich heraus. Für besonders wichtig halte ich den Begriff der Latenz von Hans Ulrich Gumbrecht, da dieser die allerfeinste Differenz reflektiert, Änderungen und Bewegungen, die im Wesentlichen Nuancen sind, gleichsam unmerkliche Unterschiede. Gerade diese unmerklichen Bewegungen sind jedoch spezifisch für jene Impulse, Schwingungen oder Blicke, welche das epiphane Wesen der Ästhetik der Schwingungen verkörpern.

Das Problem der Evidenz und der Identifikation sehr feiner Unterschiede führte mich zu Martin Heideggers Philosophie des Seins, auf die auch der Begriff des Schwingens selbst, die existenzielle Befindlichkeit und ← 8 | 9 → die Stimmungen zurückgehen, sowie zur Phänomenologie der Wahrnehmung Maurice Merlau-Pontys, welche direkt den Weg zur Ästhetik der Wahrnehmung weist. Wie der Poststrukturalismus, besonders im Werk von Paul de Man, vor allem von der Frage nach der Welt des Textes und deren Selbstreferentialität fasziniert war, führten Heideggers Philosophie des menschlichen Seins und Daseins wie auch Merleau-Pontys Betrachtungen zur Philosophie und folglich zur aisthetik als Ästhetik der Wahrnehmung zu einer neuen Verbindung der Welt des Texts mit der Welt im Text.

Die Rückkehr zur Ästhetik der Wahrnehmung stellt eine grundlegende methodologische Wende hin zu dem dar, was untrennbar mit den Emotionen und deren Skalierung verknüpft ist. Der Strukturalismus verdrängte die Emotion aufgrund der Unzuverlässigkeit ihrer Evidenz aus dem wissenschaftlichen Denken. Die Erforschung der Wahrnehmung und der Emotionen eröffnet jedoch in den letzten Jahrzehnten einen weiträumigen Bereich von Prozessen, die in der strukturalistischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts außen vor blieben. Die Verfahren zu deren feiner Ausdifferenzierung und Skalierung stellen dabei im Grunde eine Möglichkeit verlässlicherer Evidenz dessen dar, was František Miko in seinem ursprünglichen Konzept des Stils als Schattierung des Ausdrucks bezeichnete. Dieses umfasst alle Skalen von Prozessen, die sich zwischen zwei gegensätzlichen Dichotomien, zwischen binären Oppositionen bewegen, und öffnet den Raum für die wissenschaftliche Konstituierung einer modalen Semiotik und einer interferentiellen Ästhetik. Es zeigt die Bewegung von sich gegenseitig ausschließenden binären Gegensätzen hin zum Komplementären der beiden elementaren Vorgänge, die sich auf der Grundlage binärer Oppositionen (entweder – oder) und umfassender skalierter Prozesse (mehr – weniger), zwischen ihnen abspielen.

Die Studien in der vorliegenden Monographie verstehe ich in diesem Sinne auch als einen Weg, den ich von der Ästhetik der Kreativität über das Pulsieren der Ästhetik zur interferentiellen Ästhetik des Schwingens und von der Semiotik, basierend auf den sich gegenseitig ausschließenden binären Oppositionen, zur interferentiellen Semiotik modaler Intervalle gegangen bin.

Bratislava, im September 2015

Peter Zajac ← 9 | 10 → ← 10 | 11 →

         Ästhetik des Schwingens – eine Antwort auf die Avantgarde-Ästhetiken des 20. Jahrhunderts?

Die moderne Geschichte der Ästhetik beginnt, ebenso wie jene der modernen Kunst, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Aufspaltung der klassischen Ästhetik der Schönheit, die das 19. Jahrhunderts bestimmt hatte. Baldine Saint Girons beginnt ihre Betrachtung über die Risiken des Hässlichen und die Verstörung aus der Ruhe der Schönheit mit einem Zitat aus de Sades „Hundertzwanzig Tagen von Sodom“:

Schönheit, Frische beeindrucken nur einfache Gemüter; Hässlichkeit, Verkommenheit schlagen viel heftiger zu, der Zusammenprall ist um vieles kräftiger, und die Verstörung fällt umso lebhafter aus (zit. nach Zuska 2003, 283).

Friedrich Schlegel nannte diese Aufspaltung Ironie im Sinne eines selbstreflexiven Phänomens der Verdopplung des Subjekts hin zu einem handelnden und einem betrachtenden Subjekt. Dessen spezifische Form bildet die Ästhetik des Grotesken, so wie sie Victor Hugo in seiner „Einleitung zu Cromwell“ formulierte (Jauß 1977, 385). Hässlichkeit und Abscheu sind mit dem begrifflichen Ausdruck der „nicht mehr schönen Künste“ und mit Heinrich Heine verknüpft. Den grundsätzlichen Wandel bei der Entstehung der modernen Ästhetik stellte jedoch Charles Baudelaires Konzept von einer Ästhetik des ← 11 | 12 → Hässlichen dar. Er setzte sie in Gegensatz zu einer Ästhetik des Schönen als deren Gegenteil, Kehrseite, Revers. Dabei ist die Ästhetik des Hässlichen untrennbar mit der Ästhetik des Schönen verbunden wie deren abgewandtes Gesicht; so wie romantische Ruinen einer Burg die abgewandte Seite der klassischen Geometrie eines Schlosses darstellen und die wilde englische Natur das Revers der Kultiviertheit eines französischen Parks bildet.

Indem Baudelaire den Damm zu einer modernen Ästhetik des Hässlichen brach, öffnete er den Weg zu deren vielfältigsten Ausprägungen. Exzessive Formen erlangte sie in der Ästhetik der Gewalt. Hugo von Hofmannsthal betonte in seinem „Chandos-Brief“ aus dem Jahr 1902 ein Ungenügen an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Lord Chandos bekennt darin, dass einige Wörter wie Wirbel seien, die sich beständig um sich selbst drehten, und man durch sie ins Leere träte. Dadurch gerate das Subjekt in den wortlosen Zustand einer Art fieberhaften Denkens, in eben jene Wirbel, die nicht wie sprachliche Wirbel ins Bodenlose führten sondern in den tiefsten Schoß der Ruhe.

Im „Chandos-Brief“ bemühte sich Hofmannsthal, die Ästhetik durch Sprachlosigkeit zu retten. Im Theaterstück „Elektra“ überschritt er diese Grenze und ging in die Sphäre einer zersplitterten Gewalt des Schreckens über. „Elektra“ ist ein Drama exzessiven Neids, in dem nichts mehr den Menschen mit dem Grauenhaftesten und Widerlichsten aussöhnen kann.

In der „Elektra“ erreichte Hofmannsthal das, was Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ als eine Befindlichkeit außerhalb der Grenzen des Grauens und Mitleidens bezeichnete. Die Ästhetik der Gewalt bedeutete ein Aufbrechen jener Grenzen, die ansonsten Paradoxien, Widersprüche und Ambivalenzen im Zaum zu halten vermögen. In der Ästhetik der Gewalt gerieten beide Pole – das Schöne und das Hässliche – in extreme Lagen, isolierten und verselbständigten sich.

Die Ästhetik der Gewalt nahm in der Avantgarde radikale Gestalt an. Radikale Asketisierung, Revolutionierung, Provozierung, Schockierung, Skandalisierung, Blasphemie und Exzessivität sind für sie bezeichnend. Die Avantgarde-Ästhetik ist katastrophisch und apokalyptisch. Sie ist eine agonistische Ästhetik des Kampfes und eine der Artaudschen „Ästhetik der Grausamkeit“. Ihr grundlegendes Schlüsselthema ist der Tod und dessen Ästhetisierung. Sie ist eine Ästhetik des Kriegs, des Horrors und des Thrillers.

Eine ihrer spezifischen Ausprägungen ist die Ästhetik des Hungers in seiner ganzen Bandbreite, vom selbstgewählten Hungerstreik als Zeichen von Ungehorsam und Widerwillen über die Haltung eines hungernden Künstlers als Zeichen ästhetischen Entsagens bis hin zum Hungertod an zwei zeitgenössischen Wendepunkten – als Ergebnis unzureichender Nahrung und ← 12 | 13 → Flüssigkeit infolge von Armut, sowie als anorektische Form des Hungerns als radikale Folge einer zivilisatorischen Ästhetisierung des täglichen Lebens, die es jedem geradezu zur Pflicht auferlegt, „schön zu sein“. Aufgrund der Ästhetisierung des Alltagslebens drang die Ästhetik der Gewalt massiv in die Gebrauchskunst vor, wobei die Werbung hier eine der Schlüsselformen der Dominanz von Meinung über Wissen darstellt.

Im 20. Jahrhundert hatte die Ästhetik der Gewalt jedoch zweierlei Gestalt – die harte der Penetration und die weiche der Verführung. Doch auch die avantgardistische Ästhetik des Hässlichen hat ihre Kehrseite. Es ist dies die Gebrauchsästhetik des Angenehmen. Zwischen zwei Extrempunkten – der Reality-Show und dem Porno-Film – bewegen sich alle Formen der Verführung: Sie bedienen sich dabei der Ideen und der Macht, des Konsums, menschlicher Körper, der Gesundheit, eines sorglosen Lebens sowie dem Versprechen von der Unsterblichkeit. Eine schlüsselhafte semiotische Form des Wandels von harter zu weicher Gewalt bildet der Sport, wo sich das Getötetwerden zum Verlieren abmildert.

Die hedonistische Ästhetik des Genießens ist ein Märchen, in dem nicht die Guten, sondern die Erfolgreichen siegen. Die weiche, „softe“ Gewalt ist verführerisch, sie drängt sich nicht auf, aber sie bietet sich an. Sie bleibt nach wie vor Gewalt, ihr Ziel ist jedoch im Unterschied zum harten, buchstäblichen Töten des Gegners eine weiche Eroberung mittels Design und Werbung. Die Ästhetisierung der Wirklichkeit führt jedoch nicht zu Schillers ästhetischer Gesellschaft, sondern zu einer Gesellschaft des Genusses und Erfolgs, die als Ereignis und Performanz dargestellt werden. Sich außerhalb des Ereignisses zu befinden, sich nicht vorführen zu dürfen, bedeutet den semiotischen Tod.

Die Ästhetik der Gewalt hat in ihren weichen und harten Formen das 20. Jahrhundert beherrscht. Zum einen weil es ein Jahrhundert des Tötens war, zum anderen deshalb, weil es sich mit dem Problem der Sterblichkeit aussöhnen musste. Die bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts beziehen ihre Authentizität daher, dass sie der menschlichen Zielgerichtetheit auf den Tod gewidmet, wenn nicht gar geweiht sind. Es scheint, als ob die Ästhetik der Gewalt jene der Erhabenheit allein durch die Tatsache überwunden hätte, dass der Tod die Ewigkeit ausschließt und infolge dessen auch das Erstaunen und die Ehrfurcht davor. Als hätte das Nichts definitiv den Sieg davongetragen.

*

Die Avantgarde-Ästhetiken haben auf diese Weise der zweiten grundlegenden Linie der modernen Ästhetik widersprochen, die neben ihr ← 13 | 14 → bestand und sich aus Edmund Burkes Ästhetik des Sublimen entwickelt hatte. Immanuel Kant hatte sie als moderne Ästhetik des Erhabenen formuliert. Als ob es nicht möglich wäre, Erhabenheit, die Immanuel Kant als Ehrfurcht vor der Unvorstellbarkeit der Gewaltigkeit, Erstaunlichkeit und des Schreckens der Natur begriff, mit dem Hässlichen zu korrelieren, das sich mit der Banalität des Alltags verband. Und dennoch war es Burke, der schrieb, dass „das Hässliche gleichermaßen vereinbar ist mit der Idee des Erhabenen. Damit möchte ich jedoch entschieden nicht andeuten, dass das Hässliche selbst eine erhabene Idee darstellt. Es ist dies lediglich dann, wenn es in Verbindung mit bestimmten Qualitäten tiefen Schrecken hervorruft“ (Burke 1989, Teil III, Kapitel 21).

Neben Burkes Sublimem und Kants natürlicher Unendlichkeit und Unbegrenztheit, die einen Affekt des Unheimlichen, des Ungeheuren hervorrufen, formulierte die moderne Ästhetik des Erhabenen weitere Formen. Dazu gehören Schillers Unheimlichkeit (im Sinne von ungeheuerlich, aber auch unheimlich) der Geschichte, Schellings überwältigende Macht des Chaos und Nietzsches Erfahrung des Nichts. Nietzsche fragte in seiner dionysischen Ästhetik der Erhabenheit: Wozu brauchten die alten Griechen, Menschen mit solch rauschhafter Freude und Erstaunen, die Tragödie? Warum wollten die offenkundigen Verfechter von Schönheit und Gleichmaß abscheulichen Taten und ungebändigtem Schrecken zusehen? Und im Gegenteil, waren es nicht Schmerz und Angst, mit denen zu hadern bedeutete, erst das rechte, „griechische“ Vergnügen zu entdecken? Nietzsche fragte über den Umweg eines historisch „naiv“ begriffenen Hellenentums nach den tiefsten Paradoxa der Seele, nach dem Pendelschlag einer jeden lebendigen seelischen Erscheinung sowie eines künstlerischen Werks und auch nach dem Drama seines teilweise qualvollen, teilweise euphorischen Lebens. Er war der Spannung als einem grundlegenden Seelenzustand auf der Spur, wo der eine Pol zum Überleben dringend des anderen, weit entfernten, ja diametral entgegengesetzten bedarf. Im Licht der olympischen Metapher von den inneren psychischen Zwistigkeiten gesehen bedeutet dies: Weder kann Apoll ohne Dionysos sein, noch jener ohne Apoll (Cieslar 2004, 24). Bedeutend ist in dieser Formulierung die Verbindung der Unbändigkeit von Schmerz und Angst, die innere Verknüpfung des Überwältigenden mit der Ehrfurcht. Eine Ästhetik der Erhabenheit, im Sinne einer Ästhetik des Erschreckens als äußerstem Ausdruck von Ehrfurcht, stellte schließlich auch Hofmannsthals Vorstellung von „den Wirbeln, die nicht wie sprachliche Wirbel ins Bodenlose führen, sondern in den tiefsten Schoß der Ruhe“ dar.

Die Avantgarde drängte die späte Moderne an den Rand und mit ihr auch die Ästhetik der Erhabenheit. Deshalb eröffnete Wilhelm Weisschedel erst ← 14 | 15 → in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen zweiten Weg zur Ästhetik der Erhabenheit mit der Formulierung von „den bestimmten Qualitäten, bei denen die Verbindung von Erstaunen und Grauen ein Schrecken hervorruft, das man als Ehrfurcht bezeichnen kann“ (Weisschedel 1961, 335).

Als Folge einer Rehabilitierung der Ästhetik des Erhabenen wurden in den letzten Jahrzehnten einige entscheidende Schritte getan. Adorno knüpfte mit seiner dialektischen Konzeption des Erhabenen an Hegel an. Karl Heinz Bohrer entfaltete polemisch zu Hegel seine Ästhetik der Plötzlichkeit:

Werner Hofmann wies auf zwei Formen des Erhabenen bei Burke hin – die natürliche und die künstliche (Hofmann 1989, 360). Daraus leitete er das Prinzip des ästhetischen Minimalismus ab.

Einen weiteren Schlüssel zur Ästhetik des Erhabenen im 20. Jahrhundert bildete die Anknüpfung an Longinos‘ ursprüngliches Konzept von Erhabenheit als „der Vergegenwärtigung einer Überschreitung“, wo Longinos gegenüber dem Moment der Unvorstellbarkeit jenes der Vergegenwärtigung betont (Frank 1999, 34).

Die Diskussion entzündete sich aber vor allem an Jean-François Lyotards (1994) postmodernem Konzept der Ästhetik des Erhabenen. Christiane Pries (1989) hatte dessen Grundlagen bereits Ende der 1980er Jahre herausgearbeitet. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnte Vlastimil Zuska in seiner „Ästhetik“ bereits festhalten, dass „die Kategorie des Erhabenen für die sog. postmoderne Kultur zu einer bestimmenden Kategorie wird“ (Zuska 2001, 83).

*

Schon seit dem 18. Jahrhundert kommt dem Moment der Dynamik im gesamten Diskurs des Erhabenen eine Schlüsselrolle zu. Als Ergebnis des Verlusts der Mitte beschrieb Carsten Zelle das Erhabene im Zusammenhang mit der Ästhetik von Immanuel Jacob Pyra:

Details

Seiten
320
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055412
ISBN (ePUB)
9783653962949
ISBN (MOBI)
9783653962932
ISBN (Paperback)
9783631663073
DOI
10.3726/978-3-653-05541-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
synoptische Prozesse Interferenzen Epiphanie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 320 S.

Biographische Angaben

Peter Zajac (Autor:in)

Peter Zajac ist emeritierter Professor für Bohemistik und Slowakistik am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin und Senior Fellow am Institut für slowakische Literatur der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (SAV). Er verfasste die literaturtheoretischen Schriften Tvorivosť literatúry (Kreativität der Literatur, 1990), Pulzovanie literatúry (Das Pulsieren der Literatur, 1993) und Auf den Taubenfüßchen der Literatur (1996). Zur bildenden Kunst publizierte er die Monographie Marian Meško (2005) und gemeinsam mit Barbara Bodorová den Band Obrazy Oskára Čepana (Die Bilder Oskár Čepans, 2006) sowie die Gespräche mit dem Maler Rudolf Fila Maľovanie / Milovanie (Malen / Lieben, 2011). Aktuelle Fragen von Kultur und Gesellschaft reflektierte Peter Zajac in den Essaybüchern Sen o krajine (Traum von einem Land, 1996), Krajina bez sna (Land ohne Traum, 2004) und als Mitautor (mit Fedor Gál) in den Bänden 1+1 (1 + 1, 2004), Dvadsaťpäť (Fünfundzwanzig, 2014) und 2014 (2015).

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Titel: Ästhetik des Schwingens
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