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Artikel 2 Europäische Menschenrechtskonvention im Lichte der Terrorismusbekämpfung

von Natalie-Emilienne Florack (Autor:in)
©2015 Dissertation 225 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht das Spannungsverhältnis zwischen einer effektiven Terrorismusbekämpfung und der Achtung des Rechts auf Leben nach Artikel 2 EMRK. Sie zeigt den Umfang sowie die Grenzen der sich aus Artikel 2 EMRK ergebenden Rechte und Pflichten auf und beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Abwehr- und Schutzfunktion dieses elementaren Menschenrechts. Dabei beschränkt sich die Autorin nicht auf die Untersuchung anti-terroristischer Maßnahmen im eigenen Staatsgebiet bzw. im Raum des Europarates. Sie beschäftigt sich auch am Beispiel des Afghanistan-Konflikts mit Fragen nach dem räumlichen Geltungsbereich der Konvention sowie dem Verhältnis der Konventionsrechte zum humanitären Völkerrecht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Kapitel: Einleitung
  • A. Das Spannungsverhältnis zwischen effektiver Terrorismusbekämpfung und der Einhaltung der Menschenrechte
  • B. Artikel 2 EMRK und Terrorismusbekämpfung als Forschungsgegenstand
  • 2. Kapitel: Terrorismus – Begriffsdefinition
  • A. Was ist Terrorismus?
  • I. Die Entwicklung des Verständnisses von Terrorismus
  • II. Die Schwierigkeit einer Definitionsfindung mit universeller Akzeptanz
  • III. Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht
  • 1. Regionale Abkommen: Europa
  • 2. Internationale Abkommen
  • IV. Die einzelnen Elemente des Terrorismus
  • 1. Der Vorsatz zur Begehung einer rechtswidrigen Tötung oder schweren Körperverletzung als Mittel
  • 2. Die zivile Allgemeinheit als Adressat terroristischer Akte
  • 3. Das politische Ziel der Einschüchterungs-bzw. Zwangswirkung
  • 4. Die grundlegende Umwälzung der Verhältnisse als Ziel
  • B. Terrorismus im Raum des Europarates
  • I. Die Hauptformen des Terrorismus in Europa in den vergangenen Jahrzehnten
  • II. Die aktuellen Formen von Terrorismus und Terrorismusbekämpfung als neue Herausforderung?
  • III. Die bedeutendsten Konflikte in der Rechtsprechung von EKMR und EGMR im Raum des Europarates zu Terrorismusbekämpfung
  • 1. Der Nordirlandkonflikt und die IRA
  • 2. Der Kurdenkonflikt und die PKK
  • 3. Der Nordkaukasuskonflikt am Beispiel Tschetscheniens
  • 3. Kapitel: Bedeutung, Auslegung und Geltungsbereich von Artikel 2 EMRK
  • A. Bedeutung und Rang der EMRK im nationalen Recht und im Völkerrecht
  • B. Die Entstehungsgeschichte von Artikel 2 EMRK
  • C. Die besondere Bedeutung von Artikel 2 EMRK
  • E. Die Auslegungsmethoden der EMRK
  • I. Die grammatikalische Auslegung
  • II. Die teleologische Auslegung
  • 1. Das Prinzip der effektiven Auslegung („effet utile“/“principle of effectiveness“)
  • 2. Das Prinzip der evolutiven Auslegung
  • III. Die historische Auslegung
  • IV. Die systematische Auslegung
  • 1. Das Regelungsumfeld der EMRK
  • 2. Die autonome Interpretation
  • F. Die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten für Verletzungen von Artikel 2 EMRK
  • I. Der räumliche Geltungsbereich der EMRK
  • 1. Die Bedeutung des Begriffs „Hoheitsgewalt“ im Sinne von Artikel 1 EMRK: Territoriales Verständnis als Grundsatz
  • 2. Ausnahme: Extraterritoriales Verständnis
  • 3. Ergebnis
  • II. Der persönliche Geltungsbereich
  • III. Der zeitliche Geltungsbereich
  • 4. Kapitel: Umfang und Grenzen der sich aus Artikel 2 EMRK ergebenden Rechte
  • A. Schutzgut: Das Leben
  • B. Der sachliche Schutzbereich von Artikel 2 EMRK
  • I. Die verschiedenen Schutzbereiche von Artikel 2 EMRK: Abwehrrecht und Schutzpflicht
  • II. Das Recht auf Leben als Abwehrrecht gegen den Staat
  • III. Allgemeiner Schutzanspruch
  • C. Die staatlichen Schutzpflichten aus Artikel 2 EMRK im Lichte der Terrorismusbekämpfung
  • I. Herleitung und dogmatische Begründung von Schutzpflichten
  • 1. Die Schutzpflichten der EMRK im Allgemeinen
  • 2. Die Schutzpflicht aus Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 EMRK
  • II. Inhalt der staatlichen Schutzpflichten
  • 1. Primärer Schutz: Die gesetzgeberische Schutzpflicht
  • 2. Sekundärer Schutz: Die Verpflichtung zum effektiven Gesetzesvollzug
  • a) Die strafrechtliche Verfolgung von Verletzungen des Rechts auf Leben
  • b) Die präventiven Schutzmaßnahmen
  • c) Die Organisationspflichten
  • 3. Die Untersuchungs- und Aufklärungspflicht
  • a) Allgemeines
  • b) Die Herleitung der Untersuchungspflicht
  • c) Die Ausgestaltung der Untersuchungspflicht
  • d) Dogmatische Konsequenzen der Untersuchungspflicht
  • e) Der Umfang der Untersuchungspflicht
  • f) Exkurs: Die Untersuchungspflicht nach Artikel 13 EMRK
  • 4. Die gesteigerte Verantwortung des Staates für Personen in Haft
  • 5. Die Beweislastumkehr durch den Gerichtshof
  • 6. Ergebnis
  • III. Die Adressaten der Schutzpflichten aus Artikel 2 Absatz 1 EMRK
  • 1. Der Staat
  • 2. Unmittelbare Drittwirkung von Artikel 2 EMRK zwischen Privatpersonen?
  • 3. Ergebnis
  • IV. Die Schutzpflicht des Staates und der rechtspolitische Gestaltungsspielraum („margin of appreciation“)
  • D. Exkurs: Die staatlichen Schutzpflichten in Hinblick auf das Recht auf Leben und Terrorismusbekämpfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • 5. Kapitel: Der Eingriff in das Recht auf Leben
  • A. Verneinung eines Eingriffs durch Einwilligung der Betroffenen?
  • B. Unbeabsichtigte Tötung
  • C. Eingriff in den Schutzbereich durch bloße Lebensgefährdung?
  • D. Eingriff in den Schutzbereich durch Auslieferung oder Ausweisung?
  • 6. Kapitel: Die Schrankendogmatik von Artikel 2 EMRK
  • A. Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 EMRK
  • I. Vollstreckung der Todesstrafe
  • II. Die Bedeutung von Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 EMRK für europäische Demokratien
  • III. Verstoß gegen Artikel 3 EMRK
  • B. Artikel 2 Absatz 2 EMRK
  • I. Allgemeines
  • II. Die Anwendbarkeit von Artikel 2 Abs. 2 EMRK auf absichtliche Tötungen
  • III. Die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewalt – Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a EMRK
  • 1. Der Begriff der rechtswidrigen Gewalt
  • 2. Die Bedeutung von Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a EMRK für das nationale Notwehrrecht
  • 3. Der finale Rettungsschuss
  • 4. Ergebnis
  • IV. Die rechtmäßige Festnahme und Fluchtverhinderung einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person – Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b EMRK
  • 1. Anforderungen der Norm und Anwendungsfälle
  • 2. Ergebnis
  • V. Die Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstandes
  • 1. Begriffsklärung
  • 2. Ergebnis
  • VI. Die Erforderlichkeit der Gewaltanwendung im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 EMRK – Unbedingte Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
  • 1. Die Anforderungen an eine unbedingte Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung
  • 2. Das Problem der Anscheinsgefahr am Beispiel Jean Charles de Menezes
  • 3. Ergebnis
  • C. Das Verhältnis der Abwehr- und Schutzfunktion von Artikel 2 EMRK
  • I. Rechtsstaatliches Dilemma
  • II. Vorrangigkeit einer der beiden Grundrechtsfunktionen?
  • III. Lösung des Konflikts anhand der Schrankendogmatik von Artikel 2 EMRK
  • 1. Erste Situation
  • 2. Zweite Situation
  • IV. Ergebnis
  • D. Artikel 15 EMRK
  • I. Begriff und Voraussetzungen der Derogation
  • II. Ausnahme nach Artikel 15 Absatz 2 EMRK
  • E. Immanente Schranken
  • 7. Kapitel: Das Recht auf Leben und Terrorismusbekämpfung in Auslandseinsätzen am Beispiel des Afghanistan-Konflikts
  • A. Vorliegen einer Situation in der sowohl die EMRK als auch das humanitäre Völkerrecht anwendbar sind
  • I. Bewaffneter Konflikt
  • 1. Definition
  • 2. Die Lage in Afghanistan
  • 3. Die Rechtsgrundlagen für den Lebensschutz
  • a) Internationaler bewaffneter Konflikt
  • b) Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt
  • 4. Rang der Terroristen und die Herausforderungen asymmetrischer Kriegsführung
  • II. Die Hoheitsgewalt des Verletzer-Staates im konkreten Fall
  • III. Die Zurechnung von Handlungen im Rahmen von Operationen der Vereinten Nationen oder des Nordatlantik-Paktes
  • 1. Die Operation Enduring Freedom
  • 2. Das ISAF-Mandat
  • 3. Ergebnis
  • B. Das Verhältnis der Regelungskomplexe internationale Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht
  • I. Theoretische Überlegungen
  • II. Die praktische Ausgestaltung des Verhältnisses
  • III. Ergebnis
  • C. Bedeutung für das Recht auf Leben
  • 8. Kapitel: Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit
  • A. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • B. Fazit
  • Literaturverzeichnis

← 10 | 11 → 1.Kapitel: Einleitung

A.Das Spannungsverhältnis zwischen effektiver Terrorismusbekämpfung und der Einhaltung der Menschenrechte

Das vermehrte Auftreten terroristischer Anschläge durch fundamentalistische islamistische Gruppen in den letzten Jahren, welche unzählige Opfer gefordert haben, hat das Problem des (internationalen) Terrorismus in den Köpfen der Menschen und in den Medien wieder vermehrt ins Bewusstsein gerückt. Vor allem die Anschläge vom 11. September 2001 in New York City und Washington D.C. mit fast 3000 Todesopfern haben ein Ausmaß an Gewalt- und Zerstörungsbereitschaft gezeigt, welches vorher unbekannt war. Der 11. September 2001 gilt daher als Wendepunkt für das Bewusstsein einer terroristischen Bedrohung in der (westlichen) Gesellschaft. Es folgten der Bombenanschlag auf der tunesischen Insel Djerba am 11. April 2002 mit 21 Todesopfern, die Anschläge auf der indonesischen Insel Bali mit insgesamt rund 220 Todesopfern am 13. Oktober 2002 und am 1. Oktober 2005 sowie die Serie von Anschlägen im indischen Mumbai, welche über 170 Opfer gefordert hat. Mit dem Bombenattentat von Madrid am 11. März 2004 mit über 190 Todesopfern, den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in London, die über 50 Todesopfern gefordert haben und dem versuchten Bombenanschlag in Regionalzügen in Dortmund und Koblenz am 8. Juni 2006 hat der radikal-islamistische Terrorismus sichtbar Einzug in Europa gehalten.

Das Vorgehen terroristischer Vereinigungen und deren Bekämpfung war auf regionaler Ebene bereits Gegenstand kontroverser Debatten innerhalb Europas. Die Anschlagsserien der Rote Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik Deutschland und der Brigate Rosse (BRRote Brigaden) in Italien sowie die separatistischen Kämpfer der Euskadi ta Askatasuna (ETABaskenland und Freiheit) im spanischen Baskenland und der Irish Republican Armee (IRAIrisch-republikanische Armee) in Nordirland stellten schon lange vor den Ereignissen des 11. Septembers 2001 eine Herausforderung für die Innenpolitik und Justiz der betroffenen Konventionsstaaten dar. Die terroristischen Aktivitäten werden teilweise von der Bevölkerung unterstützt, oder es wird ihnen zumindest Verständnis entgegengebracht – dies gilt vor allem für separatistische Bewegungen wie die der IRA oder der Partiya Karkeren Kurdistan (PKKKurdische Arbeiterpartei). Akte terroristischer Gewalt werden von der Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Regionen und im Ausland jedoch scharf verurteilt.

← 11 | 12 → Durch das aktuelle Maß der Bedrohung, die der Terrorismus – zumindest theoretisch – für alle Staaten und Bürger darstellt, können staatliche Organe zu harten Reaktionen verleitet werden. Die Mittel, um solch verheerende Anschläge zu verhindern und die Täter effektiv zu verfolgen, müssen rechtsstaatliche sein, das heißt sie müssen sich innerhalb des geltenden Rechts bewegen. Der Terrorismus stellt ein erhebliches Problem dar, das es ohne Frage zu bekämpfen gilt, da er gewalttätig und brutal vorgeht und zu einer Vielzahl unschuldiger Opfer führt. Auf der einen Seite ist es Aufgabe der Staaten und ihrer Regierungen, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten und ihre Bürger vor terroristischen Taten zu schützen. Auf der anderen Seite dürfen nicht wahllos Mittel im Namen der Terrorismusbekämpfung eingesetzt werden, die den Rechtsstaat an die Grenzen seiner Belastbarkeit führen. Der Terrorist bleibt trotz seiner Taten ein menschliches Wesen, dessen Menschenrechte im Kern zu respektieren sind.

Die terroristische Bedrohung ist kein Phantombild, sie stellt die Staatengemeinschaft vor tatsächliche Probleme. Jedoch stellt sich ebenfalls die Frage, wie groß das Risiko eines terroristischen Anschlags wirklich ist. Die Antwort auf terroristische Attentate findet sich für die Regierungen oftmals in einer Verschärfung der Gesetze zur Stärkung der inneren Sicherheit. In Deutschland etwa wurde, neben diversen präventiven so genannten Sicherheitspaketen1, das umstrittene und letztlich vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gescheiterte Luftsicherheitsgesetz2 verabschiedet, welches den Abschuss von entführten Flugzeugen ermöglichen sollte. Im Zuge der Terrorismusbekämpfung kann es bei der Verfolgung eines besonders „harten Kurses“ zu unschuldigen Todesopfern kommen, wie der Fall des Brasilianers Charles de Menezes zeigt, der nach den Terroranschlägen 2005 in London fälschlicherweise von der britischen Polizei als Selbstmordattentäter eingestuft wurde und durch fünf Kopfschüsse starb3. Fehler mit einer solchen Tragweite gilt es unbedingt zu vermeiden, denn die Terrorismusprävention und -verfolgung darf nicht dazu führen, dass Unbeteiligte aufgrund behördlichen Fehlverhaltens oder Fehleinschätzungen in diesem Umfang gefährdet werden. Deswegen müssen klare Vorgaben gelten an die sich ← 12 | 13 → von Terrorismus betroffene Staaten halten können. Es liegt im Interesse aller Beteiligten – der Zivilbevölkerung, der Strafverfolgungsorgane und der jeweiligen Regierungen sowie der (mutmaßlichen) Terroristen – wenn Klarheit darüber herrscht, welche Normen Anwendung finden und wie diese im konkreten Fall ausgestaltet sind.

Die Konventionsstaaten sind vertraglich an die in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)4 kodifizierten Menschenrechte und damit an das Recht auf Leben gemäß Artikel 2 EMRK gebunden. Sie unterliegen allen dort verkörperten Abwehrrechten und Schutzpflichten. Leider sieht die Wirklichkeit oft anders aus. Im Nordkaukasus und in der Südosttürkei beispielsweise werden im Zuge der Terrorismusbekämpfung Menschen entführt und verschwinden; Misshandlungen und willkürliche Exekutionen sind laut Presseberichten keine Seltenheit5. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial spricht von 29 Entführungen und 40 Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil in der nordkaukasischen Republik Inguschien allein für das Jahr 20076. Die Zivilbevölkerung wird in hohem Maße durch Angriffe der russischen Armee selbst zum Opfer der Terrorismusbekämpfung7. Dies sind nur einige Beispiele für die Diskrepanz zwischen Norm und Realität.

Wenn der Staat gegen Gewalt und Terror vorgeht, entsteht schnell ein Spannungsverhältnis zwischen der effektiven Bekämpfung des Terrorismus und der Einhaltung der Werte einer gerechten und freien Gesellschaft, dessen Regierung die Grundrechte jedes Einzelnen respektieren muss8. Die Gewährleistung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist im Laufe der Ereignisse der letzten Jahre deutlich schwieriger geworden. Der aktuelle Kampf gegen Al-Qaida oder nationale separatistische Bewegungen, wird als „Brennspiegel vieler Symptome der Erosion des Menschenrechtsschutzes“ wahrgenommen9. Insbesondere ← 13 | 14 → erscheint es bedenklich, dass es nicht mehr nur irgendwelche „Warlords“, sondern Politiker der „zivilisierten Welt“ sind, die den Anschein erwecken, das etablierte System der Menschenrechtskodifikationen sei obsolet oder zumindest von fraglichem Wert10. Dabei darf der hohe Wert der Menschenrechte und deren Errungenschaften, wozu die Kodifizierung der EMRK zählt, auch in Zeiten des Terrorismus keinesfalls vergessen und übergangen werden. Müssen wir uns wirklich Sorgen über den internationalen Menschenrechtsschutz machen11 oder ist es möglich anhand der gegebenen Rechtsinstrumente einen befriedigenden Ausgleich der Gewährleistung menschenrechtlicher Standards und effektiver Bekämpfung terroristischer Gewalt zu finden? Diese schwierige Balance zwischen scharfen staatlichen Kontroll- und Repressionsmaßnahmen und dem Schutz der Menschenrechte gilt es immer wieder neu zu finden. Denn ein Staat, der die zivilisatorischen Grundstandards der Menschenrechte nicht wahrt, wird tendenziell selbst zum Täter terroristischer Gewalt12.

B.Artikel 2 EMRK und Terrorismusbekämpfung als Forschungsgegenstand

Ziel dieser Arbeit ist es, den rechtlichen Umgang der Themen Terrorismus und Terrorismusbekämpfung im Raum des Europarates darzustellen und zu analysieren. Dabei richtet sich das Augenmerk auf das in Artikel 2 EMRK normierte Recht auf Leben. Weil der Staat zur Bekämpfung terroristischer Aktionen grundrechtsrelevante Maßnahmen ergreifen muss, welche möglicherweise die Gefahr staatlicher Überreaktionen bergen, stellt sich die Frage, inwieweit das Recht auf Leben nach Artikel 2 EMRK eingeschränkt werden darf, um eine effektive Terrorismusbekämpfung zu gewährleisten. Dabei sind einerseits die Rechte mutmaßlicher Terroristen und andererseits die Rechte und der Schutz der potenziell von Terrorismus bedrohten Bevölkerung von Relevanz. Anhand einer Analyse der Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR)13, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und der hierzu bestehenden Fachliteratur soll im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden, inwieweit die Maßnahmen der Konventionsstaaten ← 14 | 15 → gegen terroristische Gewaltakte in Hinblick auf Artikel 2 EMRK mit dem menschenrechtlichen Standard, den der Europarat mit Schaffung der EMRK und ihrer institutionalisierten Kontrollmechanismen gesetzt hat, in Einklang stehen.

Zu diesem Zwecke erfolgt zunächst eine kurze Begriffsbestimmung des Terminus Terrorismus anhand völkerrechtlicher Regelwerke und der völkerrechtlichen Literatur sowie eine knappe Darstellung der maßgeblichen Brennpunkte und bedeutendsten terroristischen Vereinigungen im Raum des Europarates (2. Kapitel). Hiernach werden Bedeutung und Rang der EMRK sowie ihre Auslegungsmethoden aufgezeigt, um dann auf die Entstehungsgeschichte und besondere Bedeutung von Artikel 2 EMRK einzugehen. Im Anschluss daran wird die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten für Verletzungen von Artikel 2 EMRK untersucht (3. Kapitel). Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK bei der Terrorismusbekämpfung außerhalb des eigenen Staatsgebiets sowie auf der Zurechenbarkeit der Handlungen im Rahmen von internationalen Operationen der Vereinten Nationen (VN) und der Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO). Des Weiteren wird der sachliche Schutzbereich von Artikel 2 EMRK und die Ausrichtung als Abwehrrecht auf der einen Seite und als Schutzpflicht auf der anderen Seite dargelegt (4. Kapitel). Hierbei erfolgt eine genaue Analyse der staatlichen Schutzpflichten aus Artikel 2 EMRK, die der EGMR im Bereich der Terrorismusbekämpfung herausgearbeitet hat. Anschließend werden einige Probleme zum Eingriff in das Recht auf Leben diskutiert (5. Kapitel). Schließlich wird die Schrankendogmatik in Artikel 2 EMRK erörtert (6. Kapitel). An dieser Stelle wird außerdem das Verhältnis zwischen der abwehrrechtlichen Funktion und dem Schutzpflichtcharakter von Artikel 2 EMRK problematisiert. Zudem erfolgt ein Überblick zu rechtlichen Fragestellungen des Afghanistan-Einsatzes einiger Konventionsstaaten in Bezug auf das Recht auf Leben. Diese Arbeit soll eine umfassende Übersicht zu den rechtlichen Problemstellungen des Rechts auf Leben im Rahmen der Terrorismusbekämpfung geben sowie mögliche Lösungsansätze erarbeiten und aufzeigen.

Die Rechte der EMRK – insbesondere in Hinblick auf die Terrorismusbekämpfung – stellen in der deutschen Rechtswissenschaft eher ein „Randthema“ dar, welches bisher wenig Beachtung findet. Das mag zum einen daran liegen, dass die EMRK in Deutschland, im Unterschied zu Österreich, keinen Verfassungsrang genießt und ihr deswegen eine untergeordnete Rolle zugesprochen wird. Zum anderen erschließt sich das Recht der EMRK in erster Linie aus der Rechtsprechung der EKMR und des EGMR. Die Entscheidungen werden meist nur in englischer und französischer Sprache veröffentlicht, wenn keine ← 15 | 16 → Beteiligung Deutschlands an dem Verfahren besteht oder die Entscheidung nicht von besonders hoher Bedeutung für andere Konventionsstaaten ist. Der Menschenrechtsschutz auf Ebene des Europarates stellt eine erfreuliche und wichtige Ergänzung der nationalen Rechtssysteme dar und ist aus der heutigen Rechtswissenschaft nicht mehr weg zu denken. Dem EGMR ist es in zahlreichen Verfahren gelungen, den Menschenrechtsstandard der Konventionsstaaten auszubauen und den Konventionsstaaten deutlich zu machen, dass Menschenrechtsschutz kein rein nationales Anliegen ist, sondern in letzter Konsequenz in Straßburg überprüft wird.

_______

1Einen Überblick zu den legislativen Reaktionen des Bundestags geben Menzenbach/Janzen, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags – Aktueller Begriff, Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung seit dem 11. September 2001, Nr. 63/07 aktualisierte Fassung vom 19. Januar 2009.

2BGBl. 2005 I S. 78, geändert in BGBl. 2009 I S. 2424.

3Spiegel Online v. 24.07.2005, abrufbar unter <http://www.spiegel.de/panorama/terroristen-fahndung-brasilianer-verurteilen-todesschuesse-als-hinrichtung-a-366609.html>.

4BGBl. 2002 II S. 1055, in der Fassung durch die Protokolle Nr. 3 vom 06.05.1963 (BGBl. 1968 II S. 1116), Nr. 5 vom 20.01.1966 (BGBl. 1968 II S. 1120), Nr. 8 vom 19.03.1985 (BGBl. 1989 II S. 547) und Protokoll Nr. 11 vom 11.05.1994 (BGBl. 1995 II S. 579).

5Carmer, Spiegel Online v. 28.06.2008, abrufbar unter <http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,562663,00.html>; Steinforth, Spiegel Online v. 06.12.2008, abrufbar unter <http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,594759,00.html>.

6Carmer, Spiegel Online v. 28.06.2008, abrufbar unter <http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,562663,00.html>.

7ZEIT Online v. 12.11.2007, abrufbar unter <http://images.zeit.de/text/news/artikel/2007/11/12/2418523.xml>.

8Arden, in: Breitenmoser, FS Wildhaber, S. 22.

9So Oeter, AVR 2002 (40), 422, 423.

10Oeter, AVR 2002 (40), 422, 424.

Details

Seiten
225
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057744
ISBN (ePUB)
9783653963809
ISBN (MOBI)
9783653963793
ISBN (Paperback)
9783631665084
DOI
10.3726/978-3-653-05774-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Menschenrecht (international) Auslandseinsätze Terrorismus Völkerrecht (humanitäres)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 225 S.

Biographische Angaben

Natalie-Emilienne Florack (Autor:in)

Natalie-Emilienne Florack studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und absolvierte ihren Vorbereitungsdienst in Berlin und New York. Nach ihrer Tihrer Tätigkeit bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport in Berlin ist sie derzeit Referentin bei der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz.

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