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Exil – Transfer – Gedächtnis / Exil – Transfert – Mémoire

Deutsch-französische Blickwechsel / Regards croisés franco-allemands

von Marion Picker (Band-Herausgeber:in) Dorothee Kimmich (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 294 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge dieses Bandes verbindet die Überzeugung, dass die deutsch-französischen Verhältnisse nicht in Begriffen wie Identität und Differenz abgehandelt werden können. Ihre Analysen zeigen, wie sich das Exil in eine begrüßte Lebensform verwandeln, mit Mobilität verschwimmen und sogar Verbrecher schützen kann. Anstatt mit «Transfer» ökonomische Tauschprozesse zu beschreiben, betonen sie Komponenten von transkulturellen Übertragungen wie Schwellenbewusstsein und Zeugenschaft.
Die von Marion Picker und Dorothee Kimmich versammelten Beiträge ehren den deutsch-französischen Germanisten Thomas Keller. Dorothee Kimmich und Thomas Keller haben gemeinsam den Studiengang Interkulturelle Deutsch-Französische Studien (Aix-en-Provence – Tübingen) betreut.
Une commune conviction unit les dix-sept contributions ici présentées : refuser d’appréhender les interactions franco-allemandes en termes d'identité et de différence. Leurs analyses montrent comment l'exil peut se transformer en mode de vie apprécié, transiter vers la mobilité, et assurer l’asile, non seulement aux réfugiés mais aux fugitifs en général. Elles s’attachent aux transmissions transculturelles asymétriques en valorisant le seuil, le garant et le déplacement. De la fécondité de la distance. Les contributions de ce recueil, rassemblées par Marion Picker et Dorothee Kimmich, honorent les travaux du germaniste franco-allemand Thomas Keller, qui a dirigé avec celle-ci le cursus intégré « Aire Interculturelle Franco-Allemande » (Aix-en-Provence – Tübingen).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Exil – Transfer – Gedächtnis
  • Exil und Engagement
  • Exil als Metapher
  • Paul Ludwig Landsberg und die Deutsch-Französische Union. Zur Kontextualisierung seines Denkens im Exil
  • Le Comité américain de secours après l’expulsion de Varian Fry
  • Exile on back street: Célines Poetik des Exils
  • Ecrire l’exil (sur Paul Celan et quelques autres)
  • Transfer
  • Über Kulturschwellen
  • Der bewegte Kartengrund. Von einer Metapher in der deutschen Geographie von 1814–1928
  • Lacan avec Heidegger : le dépassement du paradigme linguistique
  • Die moderne Magie der Fetische
  • Zwischen Welten Schreiben – Überlegungen zur Metalepse in Texten von Autoren mit deutsch-französischen Biographien
  • Gedächtnis
  • Geteiltes Schicksal, getrennte Erinnerung. Die Evakuierungen an der deutsch-französischen Grenze 1939/40
  • L’Amicale de Buchenwald : un acteur mémoriel au-delà du cadre national (1945–1955)
  • En Allemagne, c’est-à-dire nulle part ?
  • Reenacting Waterloo 200 Jahre nach der Schlacht: eine Chance für dialogisches europäisches Gedächtnis?
  • Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche
  • Regards croisés
  • Rückblick, von der „Stelle der Übertragung“ ausgehend
  • Auswandern, durchqueren und (?)

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Einleitung: Exil – Transfer – Gedächtnis

Elend.
Land ohne Band,
neues Land,
ohne Hauch
der Erinnerung,
mit dem Rauch
von fremdem Herd.
Zügellos!
wo mich trug
keiner Mutter Schoß.

1914

Paul Klee1

Paul Klees Gedicht zeigt, wie innig Exil, Übertragung und Gedächtnis miteinander verwoben sind. Für Klee war 1914 sowohl das Jahr der Tunesienfahrt mit August Macke und dem Schweizer Künstler Louis Moilliet – eine künstlerische Initiationsreise unter Freunden –, als auch das Jahr, in dem Macke bei Souain fiel. Das „Elend“, in dem die Idee des Exils ausbuchstabiert wird, mit dem es auch etymologisch zusammenhängt, zeichnet sich vor allem durch Abwesenheit aus – die Abwesenheit von Bindungen, von lebendigem Gedächtnis, von Herkunft und Eigenem. Das „neue[…] Land“ des Exils ist ein Nicht-Ort, ein unmöglicher Ort, insofern es keinen Ort und kein Territorium bezeichnet, sondern nur eine unbegrenzte Frist eines unhaltbaren Zustands, der mit einer in sich gekehrten Normalität konfrontiert wird: „Wo“ das Exil des einen sich befindet, ist zugleich der heimische Herd eines ungenannten anderen. Dieser ist zwar mit Fremdem assoziiert, das aber nur aus der Perspektive des lyrischen Ichs, welches aus diesem Kontrast von „mit“ und „ohne“ keinen eigenen Ort gewinnen kann – es sei denn, das Gedicht selbst gewährt das Exil, die elende Frist, in der sich noch etwas sagen lässt.

So sehr das Gedicht alles Verbindende in Frage stellt, so bleibt ihm ein Rest an Übertragung und Vermittlung wesentlich, wenn auch in der Rücknahme, in der Komplikation: Das Exil ist hier auch das, was alles Vermittelnde zurücktreten und schwierig werden lässt. Dem lyrischen Ich verbleibt die Nennung unter negativen Vorzeichen: Was Bindung, Kind-einer-Mutter-Sein und Erinnerung sind, ist als ← 7 | 8 → bekannt vorauszusetzen, muss aber unter den Bedingungen des „neuen Landes“ leer bleiben. Hier tritt nun das dritte Element der Kette Exil – Transfer – Gedächtnis in den Vordergrund. Die Hohlform eines Gedächtnisses bleibt in ihrer Negativität bestehen, auch wenn der lebendige „Hauch / der Erinnerung“ fehlt. Der, welcher spricht, ist nicht absolut, sondern nur unter den Bedingungen des Exils als ungeboren zu sehen: er ist nicht dort geboren, er ist wie ungeboren, noch nicht geboren, auf unbestimmte Zeit noch nicht, kurz: er gehört nicht dazu. Auf die politische Dimension des Exils hin gedeutet, fehlt ihm die „Gebürtigkeit“ im Sinne Hannah Arendts,2 das Geborensein in einen politischen Zusammenhang – eben das „neue Land“, das im Gedicht genannt wird. Dass es zu diesem Land des Exils, in dem Exilierten und Flüchtlingen die Gebürtigkeit abgesprochen ist, ein anderes geben könnte, nicht nur ein „altes“, sondern vielleicht sogar ein „neues Land“, das nicht elend wäre, deutet sich allenfalls im subtilen Querschläger „Zügellos!“ an, der verhalten etwas Befreiendes, wenn nicht gar Entfesseltes, Anarchisches verheißt: ohne deutliche Wertung, aber mit der Emphase des Ausrufezeichens und über die politische Bedingung des Exils hinausweisend. Dass „Exil“ nicht nur in diesem engeren Sinne zu verstehen ist, wie ihn die auf Ovids Tristia3 zurückgehende literarische Tradition darstellt, auch das gibt das Gedicht Elend zu bedenken: Hier sind politisches, existentielles, künstlerisches, ekstatisches Exil gleichsam evoziert; es geht nicht zuletzt auch um das beginnende moderne Exil einer dichterischen, künstlerischen Sprache, die von einer ambivalenten Zeitzeugenschaft geprägt ist.

Den in diesem Band unter dem Titel Exil – Transfer – Gedächtnis vereinten Aufsätzen ist gemeinsam, dass sie die Erweiterung und Metaphorisierung der drei Begriffe sowie ihre möglichen Beziehungen untereinander unter verschiedensten Vorzeichen erproben: Nicht zufällig steht „Transfer“ als mittlerer Term. Im Gegenzug geht es jedoch gerade auch um das Hinterfragen von solchen Transfer-Vorstellungen, die von kultureller Zirkulation und Austausch nach dem Modell des globalen Marktes geprägt sind. Es erscheint vielmehr wesentlich, dass die Übertragung jeweils nur in einer Richtung verläuft und einem Gefälle der Wertigkeiten unterliegt. Eine Rückkehr oder gar eine Heimkehr aus dem „neuen Land“ des Exils ist nur unter der Bedingung von Konflikt und Fremdheit, ja Entfremdung denkbar: dem ersten Exil folgt stets ein zweites. Diese Asymmetrie des Vermittelns ← 8 | 9 → tritt besonders durch den deutsch-französischen Rahmen dieser Untersuchungen hervor, dessen Besonderheit es ist, dass sich mit der französischen und der deutschen zwei Kulturen, so wenig sie als sich selbst identische erfasst werden können, auf Augenhöhe begegnen. Es gibt hier eine jeweils dominierende Kultur – den Aufnahmekontext –, jedoch keine wesentliche Hegemonie, wie sie für die Untersuchung postkolonialer Diskurse zu berücksichtigen ist.

Eine weitere Tendenz des hier vertretenen Ansatzes ist, den Transfer von Zeichen, Ideen, Konzepten und Werten immer in die historische Konkretion zurückzuführen, was auch heißt: auf die Erfahrung von Einzelnen, ob diese Erfahrung nun einsam, repräsentativ für oder auch gegen eine Gruppe gewonnen wurde, historisch oder literarisch archiviert ist. Die Figur des Mittlers, die sich in weitere wie den Bürgen, den Zeugen oder den Boten auffächert, begibt sich in das „Elend“ eines ethischen und existentiellen Niemandslands zwischen den Kulturen. Historische Inkarnationen des Mittlers umfassen daher sowohl Helden und Heilige wie auch Verbrecher. Dem Limbus des nicht akkreditierten Zeichengebrauchs entsteigend, ist die Figur sowohl Objekt als auch Träger des kollektiven Gedächtnisses und somit ein potentieller Störenfried.

Die hier versammelten Arbeiten repräsentieren einen akademischen und intellektuellen Raum, der nicht nur von den angesprochenen Themen abgesteckt wird, sondern auch einen bestimmten Kreis von Personen und Institutionen markiert. Zentral ist hierfür die Arbeit von Thomas Keller an der Université d’Aix-Marseille und die davon ausgehenden vielfältigen Beziehungen an andere französische und deutsche Universitäten und zu den jeweiligen Kolleginnen und Kollegen. In besonderer Weise verbunden sind zudem die deutschen Seminare der Universität Tübingen und der Université d’Aix-Marseille durch einen seit 2004 bestehenden Studiengang, ein seit 2012 bestehendes Graduiertenkolleg und nun auch durch einen an Thomas Keller 2015 verliehenen Humboldtpreis.

Forschung und Lehre ergänzen sich hier auf eine besondere Weise, weil nicht nur die Studierenden in den binationalen Lehr- und Arbeitsformen etwas wie einen Transfer von Themen, Biographien, Methoden und Theorien erleben und erarbeiten, sondern auch Dissertationen in diesem Denkraum entstehen.

Auch der Humboldtpreis an Thomas Keller ist etwas wie eine „Transferleistung“: Seine jahrelangen Forschungen werden damit nicht nur honoriert, sondern auch weiter gefördert. Der vorliegende Band bekommt damit einen Doppelcharakter: Er ist ein Beitrag zur Transferforschung selbst und zugleich eine Würdigung der Leistungen von Thomas Keller im Bereich von Transferforschung, aber auch im Bereich der Ausbildung und Lehre. ← 9 | 10 →

Die Herausgeberinnen sprechen den Forschungsgruppen ECHANGES an der Université d’Aix-Marseille und CEREG an der Université Paris Ouest Nanterre Dank für ihre Unterstützung aus. Ein besonderer Dank für die Einrichtung des Manuskripts geht an Sara Bangert.


1 Klee, Paul: Gedichte, hg. von Felix Klee. Die Arche: Zürich 1960, S. 87.

2 Arendt, Hannah: The Human Condition. The University of Chicago Press: London / Chicago 1958, S. 9.

3 Cf. P. Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige. Artemis: München 1990; cf. Hall, John B. (Hrsg.): P. Ovidi Nasonis Tristia. Teubner: Stuttgart / Leipzig 1995.

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Exil und Engagement

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Joseph Jurt

(Universität Freiburg)

Exil als Metapher

1999 veröffentlichte der aus Alexandria stammende und in New York lehrende Literaturwissenschaftler André Aciman einen Sammelband unter dem Titel Letters of Transit: Reflections on Exile, Identity, Language and Loss.1 Der Band enthielt neben einem Essay des Autors vier weitere Beiträge von namhaften Schriftstellern „im Exil“, Edward Said, vorgestellt als Palästinenser im Exil, Eva Hoffmann als Polin im Exil, Bharati Mukherjee als Bengalin im Exil und Charles Simic als Jugoslawe im Exil. Alle Autoren leben und lehren in den USA. Der in London lebende holländische Schriftsteller Ian Buruma schrieb zu diesem Buch eine kritische Besprechung unter dem Titel „Kult des Exils“.2 Er stellt vor allem fest, dass von den fünf Autoren nur zwei gezwungen waren, ihr Ursprungsland zu verlassen. Acimans Familie musste Ägypten verlassen und Simics Eltern konnten nicht mehr unter dem kommunistischen Regime im damaligen Jugoslawien leben. Die andern optierten freiwillig für ein Leben in den USA. Warum präsentieren sie sich als Exilierte? Eva Hoffman scheint darauf eine Antwort zu geben, wenn sie schreibt: „Im Gefüge postmoderner Theorie sind wir dahin gekommen, genau jene Qualitäten zu schätzen, welche das Exil verlangt – Unsicherheit, Entortung, eine gebrochene Identität. Innerhalb dieses Bezugsrahmens wird das Exil – nun ja sexy, glamourös und interessant.“3 Dieses Verständnis des Exils hat nichts mehr mit dem realen Elend der Vertriebenen zu tun. Das Exil ist zu einer Metapher geworden; das Exil ist dann, wie Edward Said schreibt, der „typische Zustand des modernen Intellektuellen“.4 Die Option für ein metaphorisches Exil kennzeichnet nach Buruma eine privilegierte Situation, von der nur diejenigen profitieren können, die keiner echten Gefahr ausgesetzt sind. ← 13 | 14 → Meistens genießt derjenige, der im selbstgewählten ‚Exil‘ lebt, dort eine größere Freiheit als in seinem Herkunftsland.

Das metaphorische Exil ist nach Buruma zu einer Mode geworden; es beschwört, so seine Formulierung,

Bilder eines kritischen Geistes herauf, der an den Rändern der Gesellschaft operiert; eines Reisenden, wurzellos und doch in jeder Metropole zu Hause; eines unermüdlichen Wanderers von Konferenz zu akademischer Konferenz; eines in mehreren Sprachen Denkenden; eines eloquenten Anwalts von Minderheiten; kurzum, eines romantischen Aussenseiters, der an der Peripherie der bürgerlichen Welt lebt.5

Der Autor unterstreicht dann aber, er wolle nicht verallgemeinern. Schriftsteller und andere Exilierte gingen nicht immer aus Spaß ins Ausland. Joyce etwa entschied sich freiwillig dafür. Aber Roth, Feuchtwanger, Stefan Zweig, Schönberg, Weill und andere mussten ihr Land verlassen, weil sie um ihr Leben fürchteten.

Exil im nationalsozialistischen Kontext

Schon ab 1933 waren freie Schriftsteller in Deutschland gefährdet. Sie konnten nur noch im Exil frei sprechen. Viele Autoren glaubten, in Frankreich ein sicheres Refugium gefunden zu haben. Sie waren vom Süden des Landes angezogen, wo sie sich als Kurgäste und nicht als Emigranten fühlen konnten. Lion Feuchtwanger, Franz Hessel und Franz Werfel hatten sich in Sanary-sur-Mer niedergelassen. Joseph Roth, Heinrich Mann und Hermann Kesten mieteten ein Haus in Nizza. Doch mit dem Kriegsausbruch 1939 und vor allem mit dem Vichy-Régime wurde ihre Situation äußerst prekär. Sie mussten nach neuen Exil-Orten suchen. Ruth Werfel, eine Verwandte von Franz Werfel, die in Zürich aufwuchs, organisierte dazu in Zürich und Basel eine Ausstellung und gab im Anschluss daran einen Sammelband6 mit zahlreichen Original-Dokumenten zur Exil-Erfahrung der verfolgten Schriftsteller heraus. Behandelt wird nicht so sehr das Schriftsteller-Leben in Frankreich, sondern das Ende des Exils. Schon bei Kriegsausbruch wurden die Schriftsteller, obwohl sie in Opposition zu Hitler standen, in Frankreich schlicht als ‚feindliche Ausländer‘ eingestuft und interniert, so im berühmt gewordenen Ziegelwerk ‚Les Milles‘ in der Nähe von Aix-en-Provence, unter anderem auch Golo Mann, Max Ernst und Hans Bellmer. Mit dem Artikel 19.2 des Waffenstillstandsvertrags hatte sich Vichy-Frankreich verpflichtet, deutsche Staatsangehörige auf französischem ← 14 | 15 → Boden an das Reich auszuliefern. Damit wurde in Frankreich mit der seit dem 19. Jahrhundert geltenden Tradition gebrochen, politischen Emigranten Schutz zu gewähren. „Unholdes Frankreich“ lautete der bezeichnende Titel des Berichts von Lion Feuchtwanger aus dem Jahre 1942. Als Ausweg blieb bloß mehr die Flucht nach Übersee, die nur möglich war, wenn Aus-, Durch- und Einreiseerlaubnisse vorlagen. Die prekäre Situation der Betroffenen hielt Anna Seghers eindrücklich in ihrem Buch Transit fest.7

Das Ehepaar Hans und Lisa Fittko geleitete zusammen mit dem Bürgermeister von Banyuls, Azéma, viele Flüchtlinge über einen eigenen Fluchtweg über die Pyrenäen. Für Walter Hasenclever und Walter Benjamin wurde die Gefährdung zu groß – sie wählten den Freitod.

Die anthropologische Dimension des Exils

Der Unterschied zwischen selbst gewähltem Exil und der Verbannung hatte jedoch Buruma zufolge in vielen Fällen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgehört zu bestehen: „Das Exil war zu einer Haltung geworden, einer literarischen und intellektuellen Weise der Weltbetrachtung.“8 Der Autor erwähnt hier Baudelaire, der den Schriftsteller als distanzierten Flaneur sah, als spöttischen Dandy in der Großstadtmenge, „entfremdet, isoliert, anonym, aristokratisch und melancholisch“.9 Für Joyce und andere Schriftsteller waren Isolation und Distanzierung eine notwendige Bedingung geworden, um schreiben zu können. Joseph Brodsky, der die Sowjetunion kaum freiwillig verlassen hatte, schrieb, Schriftsteller im Exil zu sein, bedeute, wie ein Mensch in einer Kapsel in den Weltraum geschleudert zu werden: „Seine Kapsel ist die Sprache.“10 Wie Joyce glaubte er, das Exil sei gut für den Schriftsteller, weil er hier allein sei mit seiner eigenen Sprache: „Das Exil sorge für Distanz. Exil in diesem Sinne ist nicht so sehr metaphorisch als metaphysisch: Es verleiht einer bestimmten Lebensweise Bedeutung.“11

Das – erzwungene oder freiwillige – Exil ist in der Tat zu einer realen Erfahrung vieler Schriftsteller im 20. Jahrhundert geworden. Wenn Simone Weil oder Samuel ← 15 | 16 → Beckett darin ein Symbol der Leiderfahrung des modernen Menschen sahen,12 so legte Hannah Arendt eine positivere Interpretation vor. Sie akzeptiert das Exil als einen Übergangsritus, als Ausgang aus einer Vergangenheit, der es erlaubt, sich aus dem Gefängnis der eigenen Subjektivität zu befreien. In ihren Augen ist das Exil Symbol jener Reise, die der Mensch vollenden muss, um den Erwachsenen-Status zu erreichen, um sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien, um in der Gegenwart zu leben. In diesem Zusammenhang prägte sie den Begriff der ‚Natalität‘, der weder die Geburt im biologischen Sinn meint noch die Tatsache, an einem bestimmten Ort geboren und dort verwurzelt zu sein. Entscheidend in ihren Augen ist die zweite Geburt: der Wille, sich selber durch das Handeln als eigenständiger Erwachsener zu konstituieren. Politisch zu handeln ist für die Philosophin eine unabdingbare Erfahrung in einer Welt, in der man sich nicht damit begnügen kann, nur ein Erbe zu bewahren. Die Identität konstituiert sich nach ihr nicht durch ein Sein, sondern durch das Handeln, die „vita activa“.

Wenn Hannah Arendt im Exil eine anthropologische Symbolik sieht, so unterstreicht der Literaturkritiker Stéphane Mosès die konstitutive Funktion der Distanz für die moderne Literatur generell. Diese ästhetische Distanz definierte Walter Benjamin durch den Begriff der „Aura“, „die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“.13 Diese Distanz ermögliche es, erlebte Wirklichkeit in dichterische Sprache zu verwandeln, „als müsste der Dichter die von ihm dargestellte Welt erst einmal verlieren, um sie dann aus der Entlegenheit der Zeit oder des Raumes herauszuholen.“14 Nach Stéphane Mosès ist es darum kein Zufall, wenn man auf der Landkarte der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts viele der großen Namen von Autoren findet, „die im Exil gelebt und geschrieben haben – sei es im äußerlichen oder im innerlichen, fern von zu Hause oder fremd im eigenen Heimatland.“15 Stéphane Mosès unterscheidet nicht zwischen einem erzwungenen oder einem freiwilligen Exil, sondern unterstreicht die zentrale Bedeutung der Distanz, die durch eine Exilsituation geschaffen werden kann, aber keineswegs ausschließlich. Zu der ersteren Gruppe zählt er Schriftsteller, die ihre Heimat freiwillig verlassen haben wie Joseph Conrad, Joyce oder Beckett, vor allem aber die unzähligen Opfer von politischen Verfolgungen, die verbannt wurden oder ← 16 | 17 → die Flucht ergreifen mussten.16 Zur Gruppe des inneren Exils zählt Stéphane Mosès einige der größten Autoren unserer Zeit, „von Proust, Kafka oder Borges, die ihre Heimatstadt mit dem entfremdeten Blick des zur gleichen Zeit Innen- und Aussenseiters beobachteten, bis zu denjenigen, die, wie Ossip Mandelstamm oder Frederico García Lorca, in der eigenen Heimat umgebracht wurden.“17 Erst aus der Distanz des äußeren oder des inneren Exils, so derselbe Autor, „wird die heimatliche Landschaft zum imaginären Locus, nur in einer Dialektik der verlorenen und wiedergefundenen Zeit werden die durchgemachten Erfahrungen zu sprachlichen Bildnissen.“18

Zum Beispiel: Georges Bernanos in Brasilien

Zu den Schriftstellern im Exil kann man zweifelsohne auch den französischen Autor Georges Bernanos zählen. Sicher handelt es sich bei ihm nicht um das Exil eines politisch Verfolgten, sondern um ein freiwilliges Exil, ab 1934 auf Mallorca und dann ab 1938 in Brasilien und am Ende seines Lebens in Tunesien. Man findet bei ihm nicht die pathetische Geste des Exilierten, die Buruma kritisiert. Man findet bei ihm auch keine Hochstilisierung eines Bruchs, einer leidvollen Erfahrung, von der her er sich einen besonderen Status anmaßen würde. Darauf kam er am Anfang seiner Lettre aux Anglais (1942), die er in Brasilien verfasste, explizit zu sprechen:

Details

Seiten
294
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653057508
ISBN (ePUB)
9783653964042
ISBN (MOBI)
9783653964035
ISBN (Hardcover)
9783631664940
DOI
10.3726/978-3-653-05750-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Kulturwissenschaften Übertragung Zeugenschaft Moderne
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 294 S., 2 farb. Abb., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Marion Picker (Band-Herausgeber:in) Dorothee Kimmich (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Exil – Transfer – Gedächtnis / Exil – Transfert – Mémoire
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