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Gesellschaftskritik in Wilhelm Genazinos Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten»

von Matthias Hoffmann (Autor:in)
©2015 Dissertation 246 Seiten

Zusammenfassung

In Wilhelm Genazinos Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten wird nichts Geringeres verhandelt als die existenzielle Suche des Protagonisten nach einem sinnvollen Leben. Matthias Hoffmann untersucht das Buch als kritischen Gegenwartsroman und verbindet die Lektüre mit subjektphilosophischen und poetologischen Aspekten. Die entscheidende Frage dabei ist: Wie wollen wir in Zukunft leben? Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen und Entwicklungen fehlen dabei ebenso wenig wie Elemente aus verschiedenen theoretischen Positionen. Zu diesen zählen u. a.: Stéphane Hessel, Michel Foucault, Oskar Negt, Martin Heidegger und Slavoj Žižek.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Der Kontext gesellschaftlichen Unbehagens
  • II.1 Komplexität und Intransparenz des gesellschaftlichen Ganzen
  • II.2 Empörung und Protest
  • III. Kritik und/oder Utopie
  • III.1 Was ist Kritik? Der Verlust des archimedischen Punktes
  • III.2 Wie wollen wir leben? Potenziale utopischen Denkens
  • IV. Das Subjekt und seine philosophische Verknüpfung
  • IV.1 Das Subjekt als flüchtige Instanz
  • IV.2 Das Konzept des Daseins bei Martin Heidegger
  • IV.3 Die Tücke des Subjekts bei Slavoj Žižek
  • V. Das Subjekt in der Arbeits- und Konsumwelt
  • V.1 Die Paradoxie der Konsumtionsidentität
  • V.2 Effizienz in der modernen Arbeitsstruktur
  • V.3 Verantwortung im Kontext moderner Machtstrukturen
  • VI. Die Grenzen des Normalen
  • VI.1 Der symbolische Tod als Verstehensanfang
  • VI.2 Der Wahnsinn innerhalb einer symbolischen Ordnung
  • VII. Poetologische Reflexionen
  • VIII. Fazit
  • Literaturverzeichnis

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I. Einleitung

Im 2009 erschienenen Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten wird nichts Geringeres verhandelt als die existenzielle Suche des Protagonisten Gerhard Warlich nach (s)einem sinnvollen Leben. Die literarische Auseinandersetzung mit der Komplexität der Lebensverhältnisse in der modernen Gesellschaft ist dabei eine besondere Form von Reflexion gegenwärtiger Um- oder Missstände, die in diesem Fall neue Ausdrucksformen sucht, um die Realität in einer Perspektivverschmelzung anhand des Protagonisten zu dechiffrieren. So stehen in dieser Arbeit vor allem die gesellschaftskritischen Aspekte des Romans im Vordergrund. Es soll ausgelotet werden, welche Thematiken in den Fokus gerückt wurden und welche spezifische Umsetzung diese innerhalb des Romans erfahren. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den Aspekt des Scheiterns gelegt, der vor allem im Kontext einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung eine große Rolle spielt. Zunächst wirft ein kritischer Zeitroman aber zwei grundsätzliche Fragen der Verfahrensweise auf: zum einen die Frage danach, was eigentlich Kritik ist und welcher Gegenstand gewählt wird, in dessen Kontext die thematische Auseinandersetzung betrieben wird, und zum anderen, ob es in der eigentümlichen literarischen Umformung der Realität durch spezifische literarische Mittel eine Korrelation mit derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen gibt. Mit anderen Worten: Welches Problem herrscht vor, wie erkennt man es, gibt es einen konkreten Realitätsbezug, und welche Gestaltungsmöglichkeiten bietet die Form des Romans dafür an? Um die Offenheit mit dem Umgang des Romans zu wahren, wird in der Analyse keine einseitige Theorie als Erörterungsgrundlage verfolgt. In den sich eröffnenden Diskursen sollen vielmehr die potenziellen Möglichkeiten des Denkens ausgeschöpft werden. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, den Roman und vor allem den Protagonisten in den Mittelpunkt zu stellen und von diesem Blickwinkel aus unter Zuhilfenahme verschiedener Theorien die (vermeintliche) gesellschaftliche Wirklichkeit zu reflektieren.

Zunächst aber soll demnach die Bekundung des Autors, dass dieses Werk in der Genealogie des kritischen Zeitromans steht, genauer spezifiziert werden: ← 9 | 10 →

Dafür steht Das Glück in glücksfernen Zeiten sozusagen zu hundert Prozent in der Ahnenreihe des deutschen kritischen Zeitromans. Mit kritischen Zeitroman meine ich die Herkunftslinie: Heinrich Mann – Hans Fallada – Lion Feuchtwanger – Alfred Döblin – Erich Kästner. Natürlich ist Das Glück in glücksfernen Zeiten nicht nur eine Fortschreibung mit den traditionell gegebenen Mitteln. Der Glücks-Roman ist ein Versuch, die Außen- und die Innenperspektive eines Protagonisten so miteinander und ineinander zu verschmelzen, daß wir nicht nur die äußerlich sichtbaren Umrisse der Handlungen einer Figur sehen können, sondern ebenso die inneren Zwänge, die im Bewußtsein der Figur die Handlungen ausgelöst haben.1

Der hier angesprochene kritische Zeitroman2 verortet sich also nicht nur in einer bestimmten Historienchronologie, sondern Wilhelm Genazino verweist explizit auf den Versuch, eine neue Darstellungsform für die gesellschaftliche Situationsbeschreibung zu finden. Die Konstruktion und Verknüpfung der Innen- und Außenperspektive des agierenden Protagonisten ermöglicht es, soziale, psychologische und philosophische Überlegungen einfließen und die Komplexität eines Sachverhalts nicht nur als Gegenstand sichtbar werden zu lassen, sondern zugleich die Folgeerscheinungen im kognitiven Konstrukt des Protagonisten in ihrer Diversität offenzulegen. Diese Akkumulation der Perspektiven ist ein fließendes Ineinandergreifen von Problematisierungen, ohne das auslösende Moment als einzige Ursache für etwa eine Handlung zu verifizieren. In diesem Punkt ist demnach auch die analytische Vorgehensweise begründet, sich nicht auf eine wissenschaftliche Disziplin oder eine Theorie zu beschränken, sondern durch die Öffnung des theoretischen Rahmens den Verstehensanfängen3 als Prozess gerecht zu werden. Das heißt jedoch nicht, ← 10 | 11 → dass die Stringenz in der Argumentation unterwandert, sondern vielmehr die einseitige Logikkonzeption der Deutungseinheit des menschlichen (Zusammen-)Lebens auf den Prüfstand gestellt wird. Dies kann wiederum erfolgen, da durch die Perspektivverschiebungen auch das hinlänglich psychologisch Uneinsichtige in literarischer Form eben anhand der Figur Gerhard Warlichs sichtbar gemacht wird. Hierzu heißt es weiter im Anschluss der oben angeführte Passage bei Wilhelm Genazino:

Das heißt, der Glücks-Roman ist ein neuer Anlauf, im Roman den gläsernen Menschen zu erschaffen, eine Konstruktion dessen, was uns nicht einsichtig ist: erstens eine Nachbildung der Kräfte, die einen Menschen in psychischer Hinsicht steuern, und zweitens eine Nachbildung der äußerlichen sozialen Zwänge, die auf die psychischen Gegebenheiten eines Menschen antworten – und ihn damit auch gefährden. Gerhard Warlich, der ‚Held‘, hat, wie er anfangs glaubt, beste soziale Voraussetzungen, um in unserer komplexen Wirklichkeit eine gute Figur zu machen. Er ist akademisch gebildeter Philosoph (mit einer Promotion über Heidegger) und insofern hervorragend geeignet, unserer Gesellschaft das zu vermitteln, woran es dieser am meisten mangelt, nämlich Selbsttransparenz, kritische Distanz, philosophische Erleuchtung.4

Wilhelm Genazino offeriert in dieser Ausführung zu seinem Roman die Vorgehensweise, es nicht bei der bloßen Darstellung des Gegebenen zu belassen, sondern die psychologische Rückkopplung des Protagonisten als Ineinandergreifen verschachtelter Prozesse miteinzubeziehen. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob nicht bei dieser Verfahrensweise ein rein individueller kritischer Moment herauskristallisiert wird, der das Problem nicht als ein gesamtgesellschaftliches zu umreißen vermag. Es wird im Folgenden darauf zu achten sein, ob die psychologischen Folgeerscheinungen und Dissonanzen mit der Außenwelt dazu dienen, eine ← 11 | 12 → individuelle oder eine individuell-kollektive exemplarische Erfahrung zu veranschaulichen. In gewisser Hinsicht deutet aber die Herangehensweise Wilhelm Genazinos schon auf ein erstes gesellschaftliches und zugleich das Subjekt betreffende Grundproblem hin, nämlich die Frage, ob das Subjekt nicht schon in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozessen eben jenem beschriebenen Paradox einer zugleich opaken als auch gläsernen Struktur unterliegt. So scheinen individuelle Meinungsbildung5 sowie Erlebnisorientierung6 ausschlaggebende Elemente unserer Gesellschaft zu sein, und zugleich werden eben diese als nur scheinbare entlarvt, da sie durch (zuweilen kapitalistische) Machtstrukturen gelenkt und somit wieder aufoktroyiert werden. Das heißt, der angesprochene gläserne Mensch verweist schon selbst auf ein durchaus kritisches Moment. Denn in der folgenden Analyse wird untersucht, ob nicht die psychologischen Prozesse und Parameter in einer kapitalismusorientierten Außenwelt zugleich auch einen durchaus schon gesteuerten Bewusstseinszustand kreieren respektive inkludieren, sodass die Reaktionen auf bestimmte Aussagen und Handlungen im Vorhinein kalkuliert werden können.7 Auch Gerhard Warlich unternimmt den Versuch der Antizipation, als er sich auf das Gespräch mit Dr. Heilmeier aus dem Kulturamt vorbereitet, wo er um Unterstützung für sein Vorhaben, die Schule der Besänftigung zu gründen, bitten möchte: „Ich werde etwa zwanzig Minuten brauchen, um mich innerlich auf den Besuch bei Dr. Heilmeier vorzubereiten. Ich möchte die Ereignisse, bevor sie eintreten, sozusagen vorab erleben.“8 Der hier beschriebene Versuch, ← 12 | 13 → schon vor dem eigentlichen Gespräch alle Möglichkeiten durchzuspielen, misslingt, weil sich Gerhard Warlich mit einer in Gänze disparaten Argumentationsstruktur und einem derart großem Missverständnis von Seiten Dr. Heilmeiers konfrontiert sieht, dass er dieser Fehlinterpretation seines Anliegens nicht wirklich etwas entgegenzusetzen hat.

Mit einem derartigen Mißverständnis habe ich nicht rechnen können. Wahrscheinlich bin ich schockiert. All die Sätze, die ich mir im Café zurechtgelegt habe, sind mit einem Schlag unbrauchbar geworden. Wahrscheinlich müßte ich, mit höchstem diplomatischen Geschick, ein paar Tatsachen ins rechte Licht rücken. Allerdings bin ich so verdattert, daß mir jegliches Geschick abhanden gekommen ist.9

Der hier unternommene Versuch, das Gespräch und die Argumentationsstruktur vorherzusehen, scheitert an der Unkalkulierbarkeit des Gegenübers. Die Ironie dieser Begebenheit ergibt sich aus dem Fakt, dass Dr. Heilmeiers Interesse eigentlich auf der Gründung einer Pop-Akademie beruht, die das komplette konzeptionelle Gegenteil des Ansinnens Gerhard Warlichs darstellt. Auch wenn dies ein Beispiel einer fehlgeschlagenen Kommunikation ist, so werden im weiteren Verlauf Beispiele genannt, bei denen mit einer bewussten Steuerung des Gesprächs bzw. der Handlungen und einer impliziten Beeinflussung des Gegenübers agiert wird. Diese Textstelle einer misslungenen Kommunikationsstruktur wurde auch aus dem Grund gewählt, weil sich in ihr exemplarisch das Scheitern des Protagonisten manifestiert, der zuweilen mit den gegebenen Strukturen bzw. Konventionen seine Schwierigkeiten hat und in diesem Fall an der absurden Konzeptionsauslegung des Dr. Heilmeier und seiner eigenen Erklärungsnot scheitert.10 Ironisch ist der Gesprächsverlauf auch, weil Gerhard Warlich in dem Wäschereibetrieb ← 13 | 14 → gleichzeitig als Akquisiteur von Neukunden eine Werbe- bzw. Vertretertätigkeit ausführt, die ihn eigentlich für Gesprächsführungen und antizipierte Denkmuster prädestinieren sollte.11 Es ist gleichsam die Idee einer strukturierten Welt, in der versucht wird, die Kontingenz und das Unvorhersehbare des Gegenübers mitzudenken, um Anliegen oder Interessen durchzusetzen. Um auf die Eingangsüberlegung zurückzukommen: Allein der Versuch Gerhard Warlichs zeigt, dass der vermeintlich gläserne Mensch schon durch antizipierte Handlungs- bzw. Kommunikationsmuster in der Außenwelt als psychologisches Moment präsent und ein Teil des zwischenmenschlichen Miteinanders ist, ohne dass dies immer in dieser Klarheit bewusst wäre.

In der Auseinandersetzung mit dem Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten sollen in dieser Arbeit demnach vor allem Themen wie das ökonomische System, Selbstreflexion und Individualität, die Leistungsgesellschaft, Kritik, Verortung sowie Sinnfindung und die Komplexität von Prozessen im Mittelpunkt stehen. Diese Bereiche tangieren sogleich auch die Postmodernismusdebatte, wenn nach Wolfgang Welsch radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaft verstanden wird und der Verlust von Ganzheit eine positive Konnotation – nämlich den Gewinn von Vielheit – erfährt.12 Bedeutsam wird in diesem Zusammenhang, dass mit der Vielheit auch der archimedische Punkt bzw. die Metaerzählung als Orientierungmaßstab verloren gegangen ist.13 Es stellt sich demnach die Frage, wie der Protagonist Gerhard Warlich sich in den heterogenen Verhältnissen und zwischen den Polen des Sinnverlusts sowie des Verstehensanfangs zu verorten versucht. Es sei an dieser Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass er am Ende des Romans verlautbaren lässt: „Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will.“14 Wie dieser Weg dorthin gestaltet ist und welche Überlegungen zu der Erfahrung der Freiheit und Wahlmöglichkeit führen, wird in dieser Arbeit im Folgenden nachgezeichnet. Zunächst aber soll ← 14 | 15 → der Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten mit realpolitischen Diskussionen in Verbindung gebracht werden, um herauszufinden, ob sich die im Roman angesprochenen Missstände und zeitkritischen Diagnosen auch in aktuellen Debatten widerspiegeln. Diese Auseinandersetzung soll vor allem anhand des imaginären Autorenkollektiv namens ‚Unsichtbares Komitee‘ und Stéphane Hessel vollzogen werden. Letzterer hat mit seiner Schrift Empört Euch! enorme öffentliche Aufmerksamkeit erlangt und gesellschaftliche Diskussionen angeregt. Bei beiden Beispielen ist virulent, dass insbesondere das kapitalistische System Gegenstand der kritischen Analyse ist. Diesbezüglich stehen somit der Flexibilitätsgedanke sowie der Verlust von Wahrheit und Werten innerhalb einer Gesellschaft im Mittelpunkt der Überlegungen. An die Kontextualisierung des Romans schließen sich die grundsätzlichen Fragestellungen an, was überhaupt Kritik15 ist, in welcher Form sie sich in dem Roman darbietet und ob einer kritischen Idee oder Auseinandersetzung zumeist ein utopischer Gedanke inhärent ist bzw. sich in einem dynamischen Verfahren zwangsläufig entwickelt. Es muss demnach überlegt werden, ob kritische und utopische Konzepte im Pluralismus obsolet geworden sind bzw. welche neuen Parameter und Kriterien für diese gelten müssen. Von Interesse ist hierbei vor allem der Wandel utopischer Ideen bzw. Vorstellungen im Hinblick auf die potenzielle Realisierbarkeit und die totalitäre Ausrichtung. Nach diesen Überlegungen wird dann der Fokus auf das Subjekt gerichtet, weil im Vordergrund des Romans die Person Gerhard Warlich verhandelt wird und zu überlegen ist, ob die heterogenen Anforderungsprofile innerhalb gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen zu einer neuen Subjektauslegung oder einem anderen Verständnis von Subjektivität führen. Diesbezüglich sind vor allem Konzepte von Identität interessant, da Identitätsprobleme zugleich Orientierungsprobleme sind, aber auch Selbstreflexion und Selbstvergewisserung hervorrufen und somit Prozesse ← 15 | 16 → erst in Gang setzen.16 Um diese Überlegungen fortzuführen, werden vor allem Martin Heidegger und Slavoj Žižek in die Analyse miteinbezogen, weil Martin Heidegger explizit im Roman Erwähnung findet, da Gerhard Warlich über diesen seine Dissertation verfasst hat und zugleich existenzphilosophische Begriffsbestimmungen wie z. B. das Man, die Neugier, Eigentlichkeit und die Angst im Kontext des Todes sehr aufschlussreich für die Auseinandersetzung gesellschaftlicher Überlegungen innerhalb des Romans sind.17 Slavoj Žižek ist in diesem Kontext sehr bedeutsam, weil er mit seinem Werk Die Tücke des Subjekts das Subjekt aus seiner Versenkung holt und revitalisiert. Zudem sind die Ansätze dieser beiden Denker ebenso dynamisch gestaltet wie das Prinzip der Verstehensanfänge von Wilhelm Genazino. Nach der philosophischen Einordnung wird das Subjekt in Gestalt von Gerhard Warlich innerhalb verschiedener Konstellationen eingehender analysiert, um einen Einblick in den Werdegang und die Spielarten subjektiver Verfahrensweisen respektive Erfahrungsräume des Protagonisten zu erlangen. Insbesondere stehen dabei die Arbeits- und Konsumwelt im Mittelpunkt, um bestimmte Paradoxien aufzudecken, die sich sowohl aus dem zu untersuchenden Gegenstand selbst ergeben bzw. den Bereichen Arbeit und Konsum als Strukturmerkmale inhärent sind und damit die Schwierigkeit einer Verortung des Subjekts offenbaren. Zudem muss eingehender erläutert werden, wie sich innerhalb der bereits dargelegten komplexen Strukturen eine Verantwortung herausbilden kann sowohl aus subjektiver Perspektive als auch innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges. Besondere Aufmerksamkeit wird danach auf die existenzielle Sinnsuche anhand der Parameter Freiheit, Wahrheit und ← 16 | 17 → Tod gelegt, weil zur Verortung des menschlichen Daseins innerhalb des Romans auch eine Perspektive ausgelotet wird, die sich den zuvor untersuchten Zusammenhängen in der Arbeits- und Konsumwelt entzieht. Es gilt dabei zu prüfen, welche Referenzrahmen sich in diesem Zusammenhang ergeben und welche individuellen Eindrücke sowie psychologischen Erscheinungsformen durch den Protagonisten Gerhard Warlich gestaltet werden. Damit einhergehend muss auch analysiert werden, welche Folgen sich aus dem Zusammentreffen symbolischer Ordnungen und existenzieller Fragestellungen ergeben, was im Kontext der Einweisung Gerhard Warlichs in die Psychiatrie und deren Darstellungsform in den Blickpunkt genommen wird. Besonders in der Bestimmung des Wahnsinns lässt sich die Demarkationslinie ausloten, an der Gerhard Warlich manövriert und die letztendlich das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft charakterisiert. Zudem muss verifiziert werden, wie sich eine Differenzierung von privaten und öffentlichen Bereichen in der heutigen Gesellschaft gestalten lässt und ob diese Auseinandersetzung einen neuen Blickwinkel für die Wahrnehmung der Subjektperspektive öffnet, ohne dabei den gesellschaftlichen Kontext zu absorbieren oder zu verlassen. Zuletzt wird eben diese Auseinandersetzung auf das poetologische Verfahren von Wilhelm Genazino übertragen, welches deutliche Zusammenhänge mit den Ausführungen innerhalb des Romans erkennen lässt.

Die folgende Analyse wird durch den offen gestalteten theoretischen Ansatz den propagierten Verstehensanfängen Wilhelm Genazinos folgen, um immer wieder einen neuen Blickwinkel in der Auseinandersetzung zu evozieren und der Perspektivverschmelzung in ihrem Facettenreichtum nachzugehen. Da die besondere Form der Wiederholung18 ein kennzeichnendes Merkmal des ästhetischen Prozesses bei Wilhelm Genazino ist und sich vielfältige Implikationen hieraus ergeben, wird die Studie auch dieses Verfahren aufgreifen, um die Möglichkeitsräume des Verstehens und des Missverstehens nachzuzeichnen.

1 Wilhelm Genazino: Der Roman als Delirium. In: Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Hrsg. von Andrea Bartl und Friedhelm Marx. Göttingen 2011, S. 21–31, hier S. 29.

2 Der Zeitroman ist weitgehend identisch mit dem Gesellschaftsroman und versucht, „ein möglichst umfassendes und anschauliches Bild der jeweiligen Gegenwart zu entwerfen […].“ Zeitroman: Artikel. In: Der Literatur-Brockhaus in acht Bänden. Grundlegend überarb. und erw. Taschenbuchausg. Band 8. Hrsg. von Werner Habicht, Wolf-Dieter Lange und der Brockhaus-Redaktion. Mannheim, Leipzig, Wien u. a. 1995, S. 394.

3 Der Verstehensanfang ist als eine (literarische) Suchbewegung zu verstehen, die jedoch keine abschließende Erkenntnis oder Wahrheit offeriert. Vgl. Andrea Bartl und Friedhelm Marx: Wiederholte »Verstehensanfänge«. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. In: Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Hrsg. von Andrea Bartl und Friedhelm Marx. Göttingen 2011, S. 7–20, hier S. 8. Diesbezüglich führt auch Jonas Fansa an: „Der hermeneutische Zirkel wird quasi scheinbar linear (geplättet!), es sieht ganz so aus, als gäbe es keine Rotation des Verstehens mehr, sondern nur noch aufeinander folgende Anläufe mit vorprogrammiertem Scheitern und dem folgenden Zwang, die Sprache dennoch immer wieder bemühen zu müssen.“ Jonas Fansa: Unterwegs im Monolog. Poetologische Konzeption in der Prosa Wilhelm Genazinos. Würzburg 2008, S. 42.

4 Genazino, Der Roman als Delirium (Anm. 1), S. 29.

5 Hartwig Schmidt führt diesbezüglich an, dass die Privilegierung subjektiver Freiheit zum alleinigen Maßstab erhoben werden soll, obwohl diese zugleich der Wertorientierung bedürftig ist. Vgl. Hartwig Schmidt: Postmoderne Aussichten. In: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs. Heft 4/ 1991, S. 352–358, hier S. 354f.

Details

Seiten
246
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057362
ISBN (ePUB)
9783653964127
ISBN (MOBI)
9783653964110
ISBN (Hardcover)
9783631664889
DOI
10.3726/978-3-653-05736-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Utopie Subjektphilosophie Identität Existenzialismus Entfremdung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 246 S.

Biographische Angaben

Matthias Hoffmann (Autor:in)

Matthias Hoffmann studierte Germanistik und Komparatistik und promovierte an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum.

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Titel: Gesellschaftskritik in Wilhelm Genazinos Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten»
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