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Graphisches Erzählen von Adoleszenz

Deutschsprachige Autorencomics nach 2000

von Felix Giesa (Autor:in)
©2015 Dissertation 412 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie befasst sich mit den sogenannten Adoleszenzcomics, eine in der deutschsprachigen Comiclandschaft neuartige Gattung. Seit Beginn des neuen Jahrtausends entwirft eine Generation junger deutschsprachiger ZeichnerInnen innovative Bild-Text-Narrative. Fast alle diese Arbeiten befassen sich mit dem Thema Adoleszenz und zeichnen sich durch avancierte visuelle Erzählstrukturen aus. Der Autor untersucht erstmals die historische Entwicklung des graphischen Erzählens von Adoleszenz. In grundlegenden Einzelanalysen unterzieht er außerdem bedeutende Vertreter dieser neuen Gattung einem close-reading. Dafür entwirft er ein bildnarratologisches Instrumentarium, mit welchem die erzählerischen Eigenheiten beschrieben und analysiert werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Zur Theorie und Analyse von Comics
  • 2.1 Anstelle einer Definition: Diskussion des Comicbegriffs
  • 2.2 Forschungsstand und Ausgangsüberlegungen
  • 2.3 Das Narrative der Comics
  • 2.3.1 Die ‚Stimme‘ in den Comics – Wer ‚erzählt‘?
  • 2.3.2 Der ‚Modus‘ in den Comics
  • 2.3.3 Die Darstellung von Zeit in den Comics
  • 2.3.4 Die Raumdarstellung in den Comics
  • 2.3.5 Die Darstellung von Bewegung in den Comics
  • 3. Adoleszenz heute
  • 3.1 Zum Begriff ‚Adoleszenz‘
  • 3.2 Altersstrukturen der Adoleszenz
  • 3.3 Wege zum Erwachsenenstatus – Adoleszente zwischen Bildung und Freizeit
  • 3.4 Felder adoleszenten (Er-)Lebens
  • 3.5 Adoleszenz in den 1990er Jahren
  • 3.6 Adoleszenz zu Beginn des 21. Jahrhunderts
  • 3.7 Adoleszente Identitäten in den Comics
  • 4. Adoleszenz in den Comics: Von 1900 bis 2000
  • 4.1 Darstellung von Adoleszenz in den amerikanischen Comics: Von den Zeitungscomics bis zum Ende des ‚Golden Age‘ der Comics in den 1950er Jahren
  • Zwischenfazit Darstellung von Adoleszenz in den amerikanischen Comics
  • 4.2 Darstellung von Adoleszenz in den amerikanischen Comics: Von den Underground Comix der 1960er Jahre bis zu den ‚Alternative Comics‘ der 1990er Jahre
  • Zwischenfazit Darstellung von Adoleszenz in den amerikanischen Comics
  • 4.3 Darstellung von Adoleszenz in den frankobelgischen Comics
  • Zwischenfazit Darstellung von Adoleszenz in den frankobelgischen Comics
  • 4.4 Darstellung von Adoleszenz in den deutschsprachigen Comics
  • Zwischenfazit Darstellung von Adoleszenz in den deutschsprachigen Comics
  • 5. Analysen
  • Teil I: Autobiographische Adoleszenzcomics
  • 5.1 Mawil Wir können ja Freunde bleiben (2003)
  • 5.1.1 Einleitung und Thema
  • 5.1.2 Inhalt
  • 5.1.3 Paratext
  • 5.1.4 Erzähltextanalyse
  • 5.1.5 Freundschaft und Peergroup
  • 5.1.6 Coming-of-Age/ (Sexuelle) Identität
  • 5.1.7 Die Darstellung des anderen Geschlechts
  • 5.1.8 (Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung
  • 5.1.9 Musik/ Subkultur
  • 5.1.10 Intermedialität/ -textualität
  • 5.2 Flixens sag was (2004)
  • 5.2.1 Einleitung und Thema
  • 5.2.2 Inhalt
  • 5.2.3 Paratexte
  • 5.2.4 Erzähltextanalyse
  • 5.2.5 Freundschaft und Peergroup
  • 5.2.6 (Sexuelle) Identität
  • 5.2.7 Die Darstellung des anderen Geschlechts
  • 5.2.8 (Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung
  • 5.2.9 Musik
  • 5.2.10 Intermedialität/ -textualität
  • 5.2.11 Zeichnen im Kontext der Ich-Findung
  • 5.3 Kati Rickenbachs Jetzt kommt später (2011)
  • 5.3.1 Einleitung und Thema
  • 5.3.2 Inhalt
  • 5.3.3 Autobiographie
  • 5.3.4 Paratexte
  • 5.3.5 Erzähltextanalyse
  • 5.3.6 Intra- und Intertextualität
  • 5.3.7 Freundschaft und Peergroup
  • 5.3.8 Coming-of-Age/ (Sexuelle) Identität
  • 5.3.9 (Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung
  • 5.3.10 Musik/ Subkultur
  • 5.3.11 Zeichnen im Prozess der Ich-Findung
  • Teil II: ‚Freie‘ Adoleszenzcomics
  • 5.4 Naomi Fearn Dirt Girl (2004)
  • 5.4.1 Einleitung und Thema
  • 5.4.2 Inhalt
  • 5.4.3 Paratext
  • 5.4.4 Erzähltextanalyse
  • 5.4.5 Freundschaft und Peergroup
  • 5.4.6 Coming-of-Age/ (Sexuelle) Identität
  • 5.4.7 Die Darstellung des anderen Geschlechts
  • 5.4.8 (Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung
  • 5.4.9 Musik/ Subkultur
  • 5.4.10 Intermedialität/ -textualität
  • 5.5 Arne Bellstorf acht, neun, zehn (2005)
  • 5.5.1 Einleitung und Thema
  • 5.5.2 Inhalt
  • 5.5.3 Paratext
  • 5.5.4 Erzähltextanalyse
  • 5.5.5 Freundschaft und Peergroup
  • 5.5.6 Coming-of-Age/ (Sexuelle) Identität
  • 5.5.7 Die Darstellung des anderen Geschlechts
  • 5.5.8 (Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung
  • 5.5.9 Musik/ Subkultur
  • 5.5.10 Intermedialität/ -textualität
  • 5.6 Aisha Franz Alien (2011)
  • 5.6.1 Einleitung und Thema
  • 5.6.2 Paratext
  • 5.6.3 Inhalt
  • 5.6.4 Die Protagonistinnen
  • 5.6.5 Erzähltextanalyse
  • 5.6.6 Musik/ Subkultur
  • 5.6.7 Intertextualität
  • 6. Schlussbetrachtungen
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Abbildungsverzeichnis

1.  Einleitung

Abb. I:   Flix: held, 21:1

img1

Abb. II:  Markuss Golschinski: Die zweite Hälfte des Himmels. Krmkrm 4, 2:3f.

img1

Der Blick auf die eigene Vergangenheit, das Sich-in-Erinnerung-Rufen von Bildern des bisherigen Lebens, wie es in zeitgenössischen deutschsprachigen Comicerzählungen geschieht, stellt einen neuen erzählerischen und thematischen Ansatz in dieser graphischen Erzählform dar. Flixens (d. i. Felix Görmanns) Sorge um das ‚Vergessen‘ der eigenen Erinnerungen wird zu einem Zeitpunkt geäußert, an dem die eigene Biographie zum erzählerischen Ausgangspunkt wird. Dass ← 11 | 12 → hierbei insbesondere die Phase der Adoleszenz als Zeitraum der Identitätsbildung von erzählerischem Interesse ist, wird in den Zeilen Markuss Golschinskis deutlich: „Alles dreht sich um Identität.“ In diesen Beispielen wird eine neue Sicht auf Comics ermöglicht, welche eine gänzlich neue Perspektive eröffnet.

Galten Comics noch bis in das späte 20. Jahrhundert als ‚minderwertige‘ Lektüre hauptsächlich von Kindern, hat sich diese Wahrnehmung seither grundlegend geändert. Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung wurde ab 2002 mit Volker Reiches Strizz ein erfolgreicher Comicstrip veröffentlicht. Seit etwa demselben Zeitpunkt bietet das Internet einfache und schnelle Publikationsmöglichkeiten für junge Zeichnerinnen und Zeichner, die teils große Fangemeinden um sich scharen. Weiterhin werden deutschsprachige Comics mittlerweile auch in ‚traditionellen‘ Comicnationen wie Frankreich und den USA publiziert. Der damit einhergehende Wandel in der kulturellen Wahrnehmung von Comics hierzulande bedingt darüber hinaus ein verändertes Selbstbild der Comicschaffenden sowie eine veränderte Erzählhaltung in den Bilderzählungen.

Die seit der Jahrtausendwende vermehrt erscheinenden Adoleszenzcomics sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit, in welcher folgende Arbeitshypothese erkenntnisleitend sein soll: Im Vergleich zu den historischen und transnationalen Adoleszenzerzählungen präsentieren sich die Adoleszenzcomics der zeitgenössischen deutschsprachigen Comiczeichnerinnen und -zeichner als eigenständige Bilderzählungen. Diese Art der Darstellung geht einher mit einem differenzierten (Selbst-)Bild der adoleszenten Figuren, das sich deutlich von dem in soziologischen und publizistischen Diskursen gezeichneten Bild von Jugend und Adoleszenz unterscheidet.

In der bisherigen Forschung sind diese Aspekte der Adoleszenzdarstellung in den internationalen Comics bisher kaum, in den deutschsprachigen Comics noch gar nicht untersucht worden. Zwar ist ‚Adoleszenz‘ beziehungsweise ihre Darstellung in der Vergangenheit als (allgemeines) Thema der Jugendsoziologie, der Jugendliteraturforschung, der bildenden Kunst, eher selten auch des Films behandelt worden, in der Comicforschung ist ‚Adoleszenz‘ als eigener Untersuchungspunkt jedoch bisher weitestgehend vernachlässigt worden. Als Ergänzung zur bisherigen Adoleszenzforschung kann eine Analyse von Comics aufgrund der Verschränkung von textueller und visueller Ebene zusätzliche Erkenntnisse liefern: In den Adoleszenzcomics wird den medial zirkulierenden Jugendbildern ein differenzierteres Bild hinzugefügt.

Bevor ich mich im Zentrum meiner Arbeit der Analyse von Comics mit Adoleszenzthematik widme, ist es aus verschiedenen Gründen nötig, sich dem Gegenstand der Untersuchung von unterschiedlichen Seiten zu nähern: ← 12 | 13 →

Für ein formal-analytisches Beschreibungsinstrumentarium von Comics werde ich mich in dieser Arbeit erzähltheoretischer Parameter bedienen. Jedoch besteht in der derzeitigen Diskussion comicnarratologischer Aspekte kein Konsens in Grundfragen der Narrativität von Comics und ihren Parametern. Entsprechend ist es notwendig, zunächst die vorhandenen Ansätze zu sichten und für die Untersuchung geeignete Analyseverfahren und Parameter auszuwählen beziehungsweise aufzustellen. In der Auseinandersetzung mit der bisherigen Comicforschung wird sich zeigen, dass sich solch grundlegende Konzepte wie ein ‚Erzähler‘ oder die ‚Fokalisierung‘ nicht ohne Weiteres auf Comics übertragen lassen. Ausgehend von der strukturalistischen Erzähltheorie und in Verbindung mit Befunden der kunsthistorischen Bildwissenschaft sowie der transmedialen Narratologie wird so in Kapitel 2 ein Untersuchungsinstrumentarium für die vorliegende Arbeit erarbeitet.

Erstmals werden in dieser Arbeit adoleszenzthematisierende Comics junger Comiczeichnerinnen und -zeichnern analysiert, die teils von ihrer eigenen Adoleszenz in den 1990er Jahren erzählen. In Kapitel 3 sollen daher ausgewählte Studien zu den Lebensumständen von Jugendlichen während dieser Dekade ausgewertet werden, um einen entsprechenden Referenzrahmen zu schaffen.

Um etwaige Entwicklungslinien im Erzählen von Adoleszenz in den Comics seit deren Aufkommen in den amerikanischen Zeitungscomics aufzeigen zu können, ist es zudem nötig, themenrelevante Aspekte der historischen und transnationalen Entwicklungen von Comics nachzuzeichnen. Daher werden in Kapitel 4 vorhandene nationale diachrone Comicstudien ausgewertet. In Hinblick auf den vorliegenden Forschungsgegenstand ist dabei zu berücksichtigen, dass die bisherigen Untersuchungen teilweise stark überblicksartig angelegt sind. Lediglich wenige, thematisch enger gefasste Untersuchungen gelangen zu konkreteren Ergebnissen. Aus diesem Grund werden für das weitere Vorgehen die vorliegenden Erkenntnisse durch eigene Quellenforschung ergänzt und kontextualisiert. Der transnationale, wenn auch auf Länder der westlichen Welt beschränkte, Ansatz dieser Untersuchung nimmt dabei einen länderübergreifenden Blick für eine thematische Untersuchung von Comics ein und soll etwaige Traditionslinien herausarbeiten.

Im Anschluss an diese ‚Vorarbeit‘, folgt in Kapitel 5 der thematische Schwerpunkt der Arbeit: die Detailanalysen von sechs einschlägigen Comics. Ausgewählt wurden drei autobiographische und drei ‚freie‘ Adoleszenzcomics, wobei jeweils ein Titel dieser Auswahl exemplarisch den Beginn beziehungsweise die Mitte oder die Gegenwart der Erzählung von Adoleszenz in den deutschsprachigen Comics seit der Jahrtausendwende markiert. Ausgehend von den erarbeiteten ← 13 | 14 → Analyseparametern und historischen Erkenntnissen zum Erzählen von Adoleszenz sollen die narratologische Analysen offenlegen, mit welchen Verfahren in den Werken von Adoleszenz erzählt, diese dargestellt und inszeniert wird; gleichzeitig soll das adoleszente Leben und Erleben mit den Befunden der jugendsoziologischen Studien abgeglichen werden, und es sollen schließlich auch die unterschiedlichen Ausprägungen etwaiger historischer Entwicklungslinien und intertextueller Verweise herausgearbeitet werden. Mit der vorliegenden Untersuchung lassen sich somit Aussagen über die medialen Besonderheiten des Erzählens von Adoleszenz in den Comics treffen.

In der Zusammenschau in Kapitel 6 wird überprüft, ob sich (analog zu den Befunden der erzählenden Literatur) mit einer veränderten Selbstwahrnehmung von Heranwachsenden auch die Darstellung derselben in den Comics verändert hat. Vorab steht die Vermutung, dass die breitere Ausprägung der adoleszenten Lebensphase ein reflektiertes Selbstbild ermöglicht, welches moderne Erzählverfahren zur Darstellung der psychologischen Figurenprozesse notwendig macht. Es zeigt sich, dass sich diese formalen und inhaltlichen Änderungen im Erzählen von Adoleszenz in den Comics insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Erzähltraditionen der eigenen Gattung und deren Weiterentwicklung finden lassen.

Comics treffen als Erzählform spezifische Aussagen über Adoleszenz. Diese Aussagen liefern ein vom öffentlichen Diskurs über Jugend und Adoleszenz durchaus abweichendes Bild und perspektivieren die adoleszenten Figuren als psychologisch profilierte Individuen. ← 14 | 15 →

2.  Zur Theorie und Analyse von Comics

Will man Comics analytisch und theoretisch beschreiben, sieht man sich einer Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Vorgehensweisen gegenüber. Auffällig ist an diesen Zugängen, dass hieraus bisher keine ‚verbindliche‘ Comictheorie hervorgegangen ist – was sich bereits in der Diskussion um die Gegenstandsbezeichnung abzeichnet.

2.1  Anstelle einer Definition: Diskussion des Comicbegriffs

Neben dem Begriff ‚Comic‘ findet sich eine Vielzahl weiterer Termini, die Erzählungen in Bildern begrifflich zu fassen versuchen. Grünewald notiert alleine für den deutschen Sprachraum: „Bildergeschichte, Bilderzählung, Bildroman, narrativer Zyklus, Fotoroman, Comic, Comicstrip, Comicstory, Pantomimenstrip, Manga, grafische Novelle, Autorencomic, Undergroundcomix etc.“1 Als allgemeingültiger Begriff sei der des ‚Comic‘ in den Sprachgebrauch eingegangen2.

Seit einigen Jahren gibt es zwar eine vermehrte Forschung zu den Comics, jedoch ist man bisher weit davon entfernt, eine einheitliche Definition für den Gegenstand zu verwenden. So stellen etwa Christiansen und Magnussen bereits im Jahr 2000 fest:

An ongoing feature in the history of comics research, […] is the question of how to define the term ‚comics‘. On the one hand, it seems somewhat strange that the definition of the actual phenomenon studied within the field of comics research is a recurring matter of dispute, embracing rather different, and in some cases incompatible, definitions. On the other hand, it is an obvious, and necessary, question to consider and it is becoming even more relevant with the emergence of new, interactive media.3

Ihr Befund kann im Kern auch noch heute aufrechterhalten werden. In diesem Unterkapitel werden daher die grundlegenden Ansätze der amerikanischen Comiczeichner und -forscher Will Eisner und Scott McCloud sowie in einem weiteren ← 15 | 16 → Schritt auch die europäischen Ausführungen zum Comicbegriff diskutiert. Das Ziel soll sein, eine Arbeitsdefinition für die vorliegende Arbeit zu erhalten.

Eine erste differenzierte und einflussreiche Definition findet sich in Will Eisners Bezeichnung von Comics als ‚sequentieller Kunst‘4. Eisner fasst die Comicrezeption „als eine Form des Lesens“5 auf und erkennt in den Comics die Verbindung von Bild und Text, die eine zeitgleiche Aufschlüsselung von Bild und Text nötig mache6. Später füllt Eisner den Begriff der ‚sequentiellen Kunst‘ noch weiter aus und definiert sequentielle Kunst als „eine allgemeine Bezeichnung für jede Erzählung, die Bilder verwendet, um eine Vorstellung zu vermitteln.“7 Er stellt jedoch fest, dass dieses Kriterium neben den Comics auch der Film erfülle. Abgrenzend bezeichnet er daher Comics als „die gedruckte Anordnung von Zeichnungen und Sprechblasen in Folge“.8 Diese Begriffsbestimmung führt zu einigen Problemen: So schließt sie jegliche Comicerzählung aus, die auf Sprechblasen verzichtet beziehungsweise ganz ohne Text arbeitet. Vom heutigen technischen Standpunkt her greift diese Definition von Comics auch deswegen zu kurz, da längst nicht mehr jeder Comic gedruckt wird. Die Zahl der digital veröffentlichten Comics wächst ständig9.

Von Eisners Begriff der sequentiellen Kunst ausgehend entwickelt Scott McCloud 1993 eine umfassendere Definition10. Comics seien „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/ oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen.“11 Das Kriterium ‚räumlich‘ führt McCloud ergänzend ein, um eine Abgrenzung zum (Animations-)Film zu erhalten. Die Filmsequenzen stellten einen zeitlichen Ablauf dar, seien dabei aber auf eine Fläche, die Projektionsfläche, begrenzt. Comics demgegenüber seien räumlich angeordnet, die Panelfolge schaffe dabei einen zeitlichen Ablauf. Wie Packard richtig konstatiert, ist besonders ← 16 | 17 → die Verwendung der Formulierung ‚bildliche oder andere Zeichen‘ auffällig12. McCloud verwendet den Begriff, um eine Abgrenzung zu Buchstaben zu erhalten; allerdings schließt der Zusatz ‚andere‘ Buchstaben wieder mit ein. Da jedoch das Gros der Comics neben der piktoralen Ebene mit Schrift arbeitet, ist der Zusatz zwingend nötig13. Diese Definition ist bewusst weit gehalten. McCloud beabsichtigt, mit ihr auf der Suche nach den Ursprüngen der Comics neue Erkenntnisse zu erlangen. Die logische Folge ist, dass er in den Höhlenzeichnungen von Lascaux oder auch in präkolumbischen Bilderhandschriften frühe Formen der Comics sieht14. Es ist richtig, dass hier piktographisch eine Geschichte erzählt wird, jedoch ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, die Bezeichnung ‚Comic‘ sowohl für Höhlenzeichnungen als auch für ein Micky Maus-Heft zu wählen15.

Eine rein formale Kategorisierung in Comic beziehungsweise Nicht-Comic findet sich bei dem Bildphilosophen Lambert Wiesing, der in seinem Aufsatz „Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild“ das Primat der Sprechblase als hauptsächliches Merkmal für Comics propagiert16. Die Sprechblase ermögliche es, das Comickorpus konkret einzugrenzen und zwischen unausgereiften Vorläufern und eigentlich Comics zu unterscheiden. Für Wiesing manifestiert sich dieses Primat konkret in der Beschaffenheit der Sprechblase, die er besonders auch im Unterschied zu mittelalterlichen Spruchbändern und Ähnlichem als collageartig in das Bild integriert beschreibt. Entsprechend seines phänomenologischen Bildbegriffs17 unterscheidet er so gezeigte und reale Schrift18. Gezeigte Schrift, ← 17 | 18 → eben Spruchbänder, die kulturgeschichtlich aus im Bild gezeigten Büchern und anderen Textmedien entstanden sind19, oder Schrift auf Gegenständen des Bildinventars existiere im Bildraum, sei also dort manifest. Reale Schrift hingegen sei nur in der Sphäre des Betrachters real, da sie als Collage in das Panel integriert worden sei. Um eben eine solche handle es sich bei der Sprechblase, die sich konkret zuerst bei Outcault finde und somit die Geburtsstunde der Comics begründe20. Der unbestreitbare Vorteil von Wiesings Ansatz ist, dass mit einem solch trennscharfen Werkzeug erstmals tatsächlich Comics exakt bestimmt werden können. Auch sind seine Überlegungen zur Sprechblase als ‚Hybridmedium‘ sehr gut anschlussfähig. Jedoch ist bestreitbar, ob die aus einem phänomenologischen Ansatz heraus entwickelte Kategorisierung den Comics tatsächlich gerecht wird, zumal Wiesing die Sprechblase separat betrachtet; eine Überlegung, ob sich seine Ergebnisse auch etwa auf Bewegungslinien im Comic übertragen ließen, wäre hilfreich. Beiden – der Bewegungslinie und der Sprechblase – eignet der Umstand, auf einer zweiten Ebene im Bild zu liegen, die offensichtlich nicht mit der primären Handlungsebene etwaiger Figuren zusammenfällt, auch wenn sich natürlich zahlreiche Comics finden, die mit diesen Formalia spielen. Die gewonnene Eindeutigkeit würde also nicht für mehr Klarheit sorgen, da sie bereits als Comic etablierte Bildgeschichten, die zum Beispiel ohne Sprechblasen oder komplett ohne Schrift auskommen, ausgrenzt.

In der Einleitung zu seinem Système de la bande dessinée behauptet Thierry Groensteen, eine Definition der Comics sei „impossible“21. Ein Großteil der vorliegenden Definitionen sei unzulänglich, lediglich fänden sich einige Versuche, die vielversprechende Ansätze enthielten. Grundlegender Ausgangsfehler aller Versuche, Comics zu definieren, seien falsche Ausgangsüberlegungen: Man müsse beachten, dass jeder Comic eine raffinierte („sophisticated“) Struktur habe und jeweils nur eine gewisse Anzahl der potentiellen Möglichkeiten des Mediums nutzen könne, was jedoch gleichzeitig die Nutzung anderer Möglichkeiten ausschließe22. Im Verlauf seiner Ausführungen widerlegt Groensteen sehr versiert eine ganze Reihe die bisherige Diskussion prägender Definitionsversuche beziehungsweise ihre Ausgangsaxiome. Die Betonung der Bedeutung von Sprache für Comics sei vernachlässigbar, viel eher sollten Comics als eigenständige ← 18 | 19 → Sprache begriffen werden („comics are well and truly a language“)23. Groensteens Überlegungen bezüglich einer eigenen Definition sind sehr aufschlussreich: Seine Grundannahme besagt, dass Bilder – als Panels – im Medium Comic in der Mehrzahl seien und untereinander in Beziehung stünden24. Dies sei ihr ‚gemeinsamer Nenner‘ und somit ihr zentrales Element25. Diese Gegebenheit bezeichnet er mit dem Terminus der ‚ikonischen Solidarität‘ („iconic solidarity“)26. Groensteen führt weiter aus, dass dieser Begriff nur eine erste Annäherung an das Wesen der Comics sein könne und daher auch keinen Absolutheitsanspruch erhebe. Vielmehr sei so die erste Bedingung genannt, eine ‚visuelle Botschaft‘ als Comic zu entschlüsseln27. Die weiteren Ausführungen seines ‚Systems der Comics‘ sind daher auch als Beschreibungsrahmen zu verstehen, der alle Ausformungen des Mediums aufgreifen und gegeneinander abgleichen möchte. Der Begriff des ‚Systems‘ dient ihm hierbei als Ausgangspunkt für seine Überlegungen28. So gesehen sind die gesamten gut 180 Seiten seines Werks Système de la bande dessinée ein umfassender Definitionsversuch. In der Hauptsache findet sich in der Folge die Betonung des ‚räumlich-topischen Systems‘ („the spatio-topical System“; im französischen Original „le système spatio-topique“), das die Beziehungen zwischen den einzelnen räumlichen Elementen – den Panels, den Zwischenräumen, den Sprechblasen, dem Seitenlayout – eines Comics beschreiben soll29. Die grundsätzliche Eigenschaft des ‚räumlich-topischen Systems‘ sei die der ‚Arthrologie‘ (abgeleitet von dem griechischen Wort ἄρθρον), die sich darauf bezieht, dass jedes gezeichnete Bild in Comics an einem festen Ort angezeigt sei30. Mit dem begrifflichen Bild des ‚Gelenks‘ scheint Groensteen auf die Beziehung zwischen die durch den Hiatus31 getrennten Panels zu rekurrieren.32 ← 19 | 20 → Es gelingt Groensteen mit dem Begriff ‚Arthrologie‘, Beziehungen zwischen linearen (benachbarten) Panels („restrained arthrology“) und Beziehungen zwischen nicht-linearen Panels („general arthrology“) zu beschreiben. Relevant ist hierbei die Erkenntnis, dass ein translineares Geflecht zwischen den Panels sowohl der Comicseite als auch eines Gesamtcomics existiere33. Diese Erkenntnis wird sich insbesondere für die Analyse des Seitenlayouts als hilfreich erweisen. Für eine Definition der Comics schaffen Groensteens Begriffe jedoch keinerlei Klarheit, da sie ähnlich wie McClouds Formulierung („zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/ oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“34) zu weit gefasst sind.

Bei dem Versuch, ähnliche Problematiken, wie sie bei Groensteen auftauchen, zu umgehen, formulierte Dietrich Grünewald bereits in den 1980er Jahren allgemein das Prinzip Bildgeschichte35. Er schafft damit einen übergeordneten Begriff, der alle Formen des Erzählens mit Bildern in sich vereint und versteht die ‚Bildgeschichte‘ dabei als eine eigenständige Kunstform36. Grünewald begreift das ‚Prinzip Bildgeschichte‘ als „eine narrative statische Bildfolge, die autonom eine Geschichte erzählt resp. einen zeitlichen Prozess entfaltet.“37 Diese Definition greift für Grünewalds Überlegungen und schließt sowohl Höhlenmalereien als auch die Bilderzyklen des 18. Jahrhunderts und das Micky Maus-Heft mit ein. Dabei versteht er Comics als eine moderne Variante der Bildgeschichte38, deren Geschichte mit der Entstehung der ersten Zeitungscomics beginnt. Grünewald differenziert zwei Formen der Bildfolge, die sich anhand der zeitlichen Differenz zwischen ihnen unterscheiden ließen. Eine ‚weite Bildfolge‘ zeichne sich durch deutliche zeitliche Auslassungen zwischen den einzelnen Bildern aus, sie stelle die Tradition der Bilderzyklen dar. Eine ‚enge Bildfolge‘ hingegen sei ← 20 | 21 → gekennzeichnet durch kürzere zeitliche Phasen zwischen den einzelnen Bildern und repräsentiere das Gros der Comics, wie es seit Beginn des 20. Jahrhunderts auftritt39.

In der neueren, internationalen Comicforschung findet sich der Begriff der graphic narratives. Ähnlich wie bei Grünewald wird hiermit ein übergeordneter Begriff eingeführt, der den Comic als einen Teil des Erzählens in Bildern versteht, ohne dass dessen Formalia exemplifiziert werden40. Dies erlaubt größtmögliche Freiheiten bei der Zusammenstellung von Texten, ohne definitorisch von einem einengenden Begriff wie ‚Comic‘ abhängig zu sein.

Abschließend soll noch auf Stephan Packards Minimaldefinition eines Comics eingegangen werden. Packard geht von McClouds Cartoonbegriff aus: „ein Zeichen, das eine ikonische Form durch einen indexikalischen Bezug zur imitativen Körperimagination des Rezipienten füllt.“41 McCloud verstehe den Cartoon als eine Form der „Betonung durch Vereinfachung“.42 Diese Auffassung bedeute, dass das, was der Cartoon aussagen wolle, bereits durch den Zeichner festgelegt sei. Packard führt aus, dass jedoch die Imagination des Rezipienten das Cartoonzeichen mit Bedeutung fülle. Er definiert nun: „Den minimalen Comic können wir als eine Form sequentieller Kunst bestimmen, die in einem Vorgang primärer Hybridisierung wiederholte offene oder geschlossene Cartoons zu größeren ← 21 | 22 → Einheiten zusammenfasst.“43 Mit ‚offen‘ beziehungsweise ‚geschlossen‘ bezeichnet Packard dabei, inwieweit die Imagination durch die Abbildung gefördert wird oder in welchem Maße die Partizipation des Rezipienten gefordert wird44. Eine Aneinanderreihung solcher Cartoonzeichen wäre dann als ‚minimaler‘ Comic zu verstehen. Diese Auffassung von Comics hebelt die zuvor angesprochene Bindung an Narration bei Grünewald oder ein bestimmtes Trägermedium – wie etwa Zeitung, Buch oder Internet – aus. Ebenfalls wird Text als Konstitutivum ausgeschlossen. Werde jedoch Schrift hinzugefügt, kommentiere diese „das Bild und arretiert es damit in einer am Ende übermächtigen Weisungsgewalt.“45

Als Comics soll im Folgenden die Verwendung der engen Bildfolge des ‚Prinzips Bildgeschichte‘, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung findet, zur Vermittlung einer Handlung durch sequenzierte Bilder verstanden werden. Die Integration von Schrift ist dabei nicht zwangsläufig gefordert, auch wenn sich zeigen wird, dass sie in den meisten Comics des zu untersuchenden Korpus von Adoleszenzcomics verwendet wird.

Der Titel der vorliegenden Arbeit lautet Graphisches Erzählen von Adoleszenz. Deutschsprachige Autorencomics nach 2000. Unter ‚Autorencomic‘ soll ein Comic verstanden werden, bei dem der gesamte kreative Arbeitsprozess von einer Person geleistet wurde. Wo in der weiteren Untersuchung die Unterscheidung zwischen Comic und Autorencomic nicht zwingend gefordert ist, wird der Einfachheit halber der Begriff Comic verwendet.

2.2  Forschungsstand und Ausgangsüberlegungen

Die Analyse der Comics meines Textkorpus macht ein Analyseinstrumentarium erforderlich, welches diesem Gegenstand angepasst ist sowie die erzählerischen Besonderheiten der Erzählform berücksichtigt und beschreibbar macht. In den vergangenen Jahren wurden vereinzelt Ansätze zur Analyse von Comics vorgestellt, die großenteils im Bereich der Narratologie zu verorten sind. Jedoch konnten die Arbeiten von Ulrich Krafft46, Thierry Groensteen47, Stephan ← 22 | 23 → Packard48, Martin Schüwer49 und Jakob F. Dittmar50 bisher noch keine konsensfähige Systematik etablieren. Dies wird vereinzelt in der Auseinandersetzung mit besagten Arbeiten auch betont51, ohne dass jedoch der Kritik eine Weiterentwicklung gefolgt wäre. Dennoch lassen sich erste Ansätze eines weiterführenden Diskurses über eine Theorie der Comics finden, wie etwa in den Beiträgen des Tagungsbandes Erzählen im Comic52 oder der Anthologie Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums53. Insbesondere im ersten Werk werden in einigen Einzelstudien medienspezifische Aspekte des Erzählens in den Comics erörtert. Auf internationaler Ebene setzt sich Thierry Groensteen in dem zweiten Teil seiner Beschreibung der Comics, Comics and Narration, mit narratologischen Konzepten auseinander. Sein Ansatz integriert allerdings nicht bestehende Nomenklaturen, sondern setzt darauf, neue, vorgeblich aus den Comics abgeleitete Begriffe zu etablieren. Weiterhin erschien im Forschungsumfeld einer transmedialen Narratologie der Sammelband From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative54. Ausgehend vom cognitive turn in der Erzählforschung wird hier im Anschluss an die Arbeiten Marie-Laure Ryans der Versuch einer ‚medienbewussten‘ Narratologie unternommen. In einigen dezidiert narratologischen Beiträgen werden in Auseinandersetzung mit einem Teil der bisherigen Forschungsliteratur etwa Überlegungen zum Erzähler beziehungsweise zur Fokalisierung pointiert und weiterentwickelt. Auffallend ist jedoch die für den gewählten interdisziplinären Ansatz überraschende Vernachlässigung der kunsthistorischen Erzählforschung, die in den theoretischen Beiträgen von From Comic Strips to Graphic Novels zu ähnlichen Erkenntnissen wie in der kunsthistorischen Erzählforschung führt. ← 23 | 24 →

Ein konsensfähiger Entwurf einer Erzähltheorie der Comics steht somit nach wie vor aus, wobei die Ergebnisse der transmedialen Erzähltheorie vielversprechende Anschlussmöglichkeiten für meine Arbeit aufzeigen. In diesem Sinne versucht die vorliegende Arbeit, weiter abgleichend und integrierend zu systematisieren. Ich werde mich dafür in meinen Überlegungen zunächst an den Ansätzen der strukturalistischen Narratologie orientieren. Diese stellt eine strukturierte Ausgangsbasis dar, von der ausgehend ich narratologische Konzepte mit bestehenden Ansätzen der Comicforschung engführen werde.

Die strukturalistische Erzähltheorie geht von einer Dichotomie eines narrativen Textes aus: Das ‚Wie‘ behandelt die ‚Darstellung der Erzählung‘ und das ‚Was‘ untersucht die ‚Handlung‘ und die ‚erzählte Welt‘. Wie diese Aspekte mit den formalen Eigenheiten der Comics korrespondieren, wird Gegenstand des vorliegenden Kapitels sein. Für eine eigene Beschreibung der Handlungsdarstellung der Comics (‚Was‘) kann großzügig auf die Ausführungen bei Martínez und Scheffel zurückgegriffen werden55. In den Comics finden sich zahlreiche Erzählgenres, die aus der geschriebenen Literatur bekannt sind, wie zum Beispiel die Abenteuererzählung, die Liebeserzählung, die Science-Fiction- oder die Fantasy-Erzählung, wohingegen andere Genres comictypisch sind, wie etwa die Superheldenerzählung. Da die in dieser Arbeit zu untersuchenden Comics allesamt narrativer Natur sind, kann davon ausgegangen werden, dass auch die Handlungselemente der geschriebenen Literatur Gültigkeit für die Handlung der Comics haben.

2.3  Das Narrative der Comics

Erzählen als Akt des Hervorbringens von Geschichten geht weit über das Medium Literatur und verbale Textsorten hinaus: Erzählen ist intermedial.“56 Mit diesen Worten beginnt Werner Wolf seine grundlegenden Überlegungen zu einer intermedialen Erzähltheorie. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen analysiert er unter anderem die Möglichkeiten des Narrativen in der Malerei und der Musik. Dabei erkennt er auch das generell Narrative der Comics. Von Wolfs Gedanken ausgehend, ist festzustellen, dass die Schwierigkeit, Comics als eine ← 24 | 25 → genuin narrative Erzählform zu begreifen, konsequenterweise darin begründet ist, dass ihr nicht zwangsweise eine Erzählerinstanz inhärent ist. So liegen zahlreichen Comicerzählungen vor, in denen es keinen verbalsprachlichen Erzähler in Blocktexten gibt. Eine Handlung wird in solchen Fällen lediglich durch die Panelsequenz und die darin handelnden Figuren vermittelt. Dennoch scheint es mir legitim, auch bei solchen Comics von einer Erzählung auszugehen. Im Folgenden sollen einige kurze Ausführungen dies verdeutlichen: Werner Wolf begreift das Narrative als „ein kognitives Schema relativer Konstanz“57, beruhend auf lebensweltlichen Erfahrungen. Unter Narrativität versteht er die Eignung unterschiedlicher Medien, das Narrative vermittels des „Was“ hervorzurufen58. Diese Anbindung des Narrativen an die histoire-Ebene des Erzählten – konträr zur vormals gängigen Anbindung an die Ebene des discours59 – ermöglicht ihm zufolge eine Anerkennung des Erzählerischen auch von Werken ohne eine explizit kenntlich gemachte Erzählinstanz. Er prägt dafür den Begriff des „Narrativen“ beziehungsweise des „Erzählerischen“60. Die hier vorgenommene Ausrichtung an die histoire bedeutet auf Comics ohne Erzählerinstanz übertragen eine Bindung an dialogisch handelnde Figuren. Deren Handeln ist mit Wolf als ‚erzählerisch‘ zu verstehen.

Nachfolgend sind nun die wichtigsten narratologischen Aspekte auszuarbeiten, die es für die Comics anzupassen gilt. Wie aus der Diskussion des Narrativen von Comics bereits ersichtlich wurde, ist aufgrund des möglichen Nichtvorhandenseins einer sprachlichen Erzählinstanz ein zentraler Punkt die Frage nach der ‚Stimme‘ der Comics. Eng mit der Stimme und mit der visuellen Präsenz der Comicbilder verbunden ist auch die Frage nach der Mittelbarkeit und Perspektive (‚Modus‘). Hierbei wird zu klären sein, wie die Perspektive zu beurteilen ist, um in den Texten des Korpus Aussagen darüber treffen zu können, an wessen Wahrnehmung Gezeigtes gebunden ist. Die Untersuchung von Zeit, Raum und Bewegung erfordert in den Comics aufgrund deren bildnerischen Anteils ebenfalls eine Anpassung narrativer Konzepte. So gilt es, Handlungszeiträume abzuschätzen, um Aussagen über die Dauer des Geschehens und die Bedeutung im Figurenleben treffen zu können. Ähnlich lassen sich an einer Untersuchung des Raumes einerseits Aspekte des Handlungsraumes vermitteln und andererseits lassen sich weiterführende Informationen über Stimmungen durch die Inszenierung des Raumes vermitteln. Schlussendlich soll aufgezeigt werden, wie im ← 25 | 26 → Unterschied zu verbalsprachlichen Texten Bewegung in den Comics vermittelt wird.

Details

Seiten
412
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056341
ISBN (ePUB)
9783653964684
ISBN (MOBI)
9783653964677
ISBN (Hardcover)
9783631664544
DOI
10.3726/978-3-653-05634-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Comics Adoleszenz Bildwissenschaft Narratologie Graphic Novels
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 412 S., 24 farb. Abb., 103 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Felix Giesa (Autor:in)

Felix Giesa studierte Lehramt für die Grund- und Hauptschule. Er promovierte an der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI) der Universität zu Köln, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist.

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Titel: Graphisches Erzählen von Adoleszenz
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