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Bildung und Schlüsselqualifikationen

Zur Rolle der Schlüsselqualifikationen an den Universitäten

von Ursula Konnertz (Band-Herausgeber:in) Sibylle Mühleisen (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 254 Seiten

Zusammenfassung

Können Schlüsselqualifikationen mehr als nur berufliche Handlungsfähigkeit (Employability) fördern? Sind sie Teil eines erweiterten Bildungsbegriffs oder nur die Bedingung der Möglichkeit von Bildung? Der Tagungsband dokumentiert Perspektiven aus Bildungswissenschaften, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaft, Soziologie und Hochschulforschung zum Spannungsverhältnis von Schlüsselqualifikationen und Bildung. Diskutiert werden zeitgemäße Ansätze von Bildung u.a. anhand geschichtlicher Konzepte wie Studium Generale und Orientierungswissen. Viele Beiträge beziehen sich unterschiedlich auf den Begriff der Persönlichkeitsentwicklung, analysieren die gesellschaftliche Rahmung der Lehre und geben Einblicke in die Lehrpraxis anhand von Lehrformaten wie in «Service Learning» und «Forschendes Lernen».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Ursula Konnertz - Einleitung
  • Karin Amos - Statt eines Grußworts Nationale Traditionen, internationale Bezüge und Bildung
  • Andreas Dörpinghaus - Der Schlüssel zur Halbbildung Der Verlust der politischen Tugend
  • Andrea Liesner - Der Verzicht auf politische Tugend als Managementstrategie? Beispiele aus der Universität
  • Ralf Becker - Wilhelm von Humboldts Idee der Bildung
  • Hans-Klaus Keul - Bildung, Schlüsselqualifikationen und die kulturelle Moderne Zur Rolle der Schlüsselqualifikationen an den Universitäten
  • Ludwig Huber - „Studium Generale“ oder „Schlüsselqualifikationen“? Ein Orientierungsversuch im Feld der Hochschulbildung
  • Caroline Y. Robertson-von Trotha, Miriam Friedrichs und Marco Ianniello - Die Verantwortung der Universitäten im Spannungsfeld von Spezialwissen und Schlüsselqualifikationen: die Rolle des Studium Generale
  • Jens J. Rogmann - „Persönlichkeitsentwicklung“ als „Qualifikationsziel“ an deutschen Universitäten?
  • Sebastian Jünger - Bildungsziel Persönlichkeitsentwicklung? Lehrer/innenbildung durch Kompetenzorientierung am Beispiel des Moduls Personale Kompetenz (MPK) für Lehramtsstudierende
  • Stefanie Enderle und Alexa Maria Kunz - „Gibt’s da einen Schein für?“ Einblicke in studentische Lebenswelten
  • Frank Multrus - Befunde aus dem Studierendensurvey und dem Studienqualitätsmonitor
  • Anne Sliwka und Britta Klopsch - Service Learning als hochschuldidaktische Arbeitsform: Innovative Wege zu fachlicher Expertise und professioneller Handlungskompetenz
  • Julia Gerstenberg - Humboldt reloaded: Ein Beispiel zur Umsetzung Forschenden Lernens
  • Janine Wiese und Petra Kleinser - Forschungsnahes Lehren und Lernen im Service Learning an der Universität Tübingen
  • Sibylle Mühleisen - Das Forum SQ Baden-Württemberg
  • Dank
  • Autor/innen

| 7 →

Ursula Konnertz

Einleitung

Ausgangsfrage

„Können Schlüsselqualifikationen bilden?“ – der Titel der Tagung des Forum Schlüsselqualifikationen in Hegne 2014 weist auf ein nicht geklärtes Verhältnis hin, auf eine Frage, die seit dem Beginn der Umsetzung der Reform im Zentrum der Bolognakontroversen hierzulande steht.

Mit Schlüsselqualifikationen1 werden diejenigen Ziele der Reform verbunden, die jenseits von Forschung und Wissenschaft, jenseits der disziplinären Studieninhalte auf die Berufsbefähigung der Studierenden zielen und den Ausbildungsaspekt eines wissenschaftlichen Studiums unterstreichen. Zusammen mit dem politischen Rahmen der Reform, mit dem institutionellen Umbau der Universitäten und der Studiengänge war dies von Beginn der Reform an nicht unumstritten.

In welchem Verhältnis stehen die beiden so unterschiedlichen Begriffe Schlüsselqualifikationen und Bildung zueinander? Wie wird dieses Verhältnis ← 7 | 8 → in der überfachlichen und fachlichen Lehre der Universitäten verstanden, umgesetzt und gelebt? Gibt es, im Verhältnis von Bildung und Schlüsselqualifikationen selber begründet, normative Zielsetzungen der heterogenen Lehrinhalte jenseits der von Bologna geforderten Förderung der beruflichen Handlungsfähigkeit der Studierenden? Welche Qualitätskriterien müssen die Veranstaltungen erfüllen?

So fragen und darüber streiten wir im Forum Schlüsselqualifikationen, seitdem wir durch die Umsetzung der Bologna Beschlüsse damit beauftragt sind, für die Bachelorstudiengänge Lehrveranstaltungen im Bereich der Schlüsselqualifikationen (oder Schlüsselkompetenzen) zu entwickeln und zusätzlich anzubieten.

Die Tagung planten wir, weil wir uns an der öffentlichen Klärung der Fragen beteiligen wollen. Wir wollten uns gemeinsam mit möglichst vielen KollegInnen auch von Hochschulen aus anderen Bundesländern einerseits in einer wissenschaftlichen Reflexion deskriptiv über die Praxis, über Inhalte, Formate und Abläufe, über heterogene Zielsetzungen, die Wünsche und die Lebenswelten der Studierenden, über die Gründe der Veränderungen der Inhalte in den letzten zehn Jahren sowie die politischen, institutionellen, strukturellen und diskursiven Rahmenbedingungen der Reform verständigen. Andererseits ist die Klärung der zentralen Begrifflichkeiten und ihrer Bedeutungen und Verwendungen immer dringlicher geworden, das wurde auf der Tagung sehr deutlich.

Im Zentrum der kontroversen Diskussionen allerdings stand das Nachdenken über die aktuellen und historischen Konzeptionen der akademischen Bildung selber und damit implizit über die diesen Konzeptionen inhärenten anthropologischen Bilder vom Menschen. So wurde in vielen Beiträgen mit Referenz auf die theoretischen Grundlagentexte der Geschichte des Bildungsbegriffs das Verhältnis von Schlüsselqualifikationen zum Bildungsanspruch nach Bologna thematisiert und mit einer Diskussion über die Universität, die wissenschaftliche (Aus)Bildung und die Frage nach dem, was Bildung der Persönlichkeit an der Universität theoretisch und praktisch bedeuten kann, verbunden.

Krise der Universität – Krise der Bildung

In der ersten Podiumsdiskussion rückte der Begriff der Krise als adäquate Beschreibung des aktuellen Zustands der Universität in den Vordergrund, ← 8 | 9 → eine Krise allerdings, die die Universitäten selber öffentlich nicht als Krise und damit auch nicht als Chance zur Veränderung begreifen.

„Eine Krise“, so schreibt Hannah Arendt 1958 in „Die Krise in der Erziehung“, „ist die Chance, gerade auf Grund der Krise, welche die Fassaden wegreißt und die Vorurteile vernichtet, dem nachzufragen und nachzudenken, was sich in ihr von dem Wesen der Sache selbst offenbart hat. Der Verlust von Vorurteilen heißt ja nur, daß wir die Antworten verloren haben, mit denen wir uns gewöhnlich behelfen, ohne auch nur zu wissen, daß sie ursprünglich Antworten auf Fragen waren. Eine Krise drängt uns auf die Fragen zurück und verlangt von uns neue oder alte Antworten, auf jeden Fall aber unmittelbare Urteile. Eine Krise wird zu einem Unheil erst, wenn wir auf sie mit schon Geurteiltem, also mit Vor-Urteilen antworten. Ein solches Verhalten verschärft nicht nur die Krise, sondern bringt uns um die Erfahrung des Wirklichen und um die Chance der Besinnung, die gerade durch sie gegeben ist.

So sehr sich in einer Krise etwas Allgemeines zeigt, so wenig kann man dies Allgemeine je ganz und gar aus den konkreten und spezifischen Umständen lösen, unter denen es zum Vorschein kommt.“2

Die aktuelle Krise3 der Bildung zeigt sich in konkreten und spezifischen Umständen, die wir gerade auch im Innern der Universität im Bereich der Lehre beschreiben, explizieren und deren (verdeckt) normative Ausrichtung wir diskutieren und ohne Vorurteile neu justieren, bzw. (selbst)kritisch transformieren können. Die aktuelle Krise der Bildung ist zugleich auch und vielleicht vor allem eine Krise der Universität und des Wissens. Die aktuelle Krise ← 9 | 10 → hierzulande4 ist nun nicht vom Himmel gefallen, sie ist eine Antwort auf die Reformen von Bologna vor 15 Jahren. Die Bolognareform ihrerseits war eine Antwort auf eine lange schwelende Krise in vielen der unterschiedlichen europäischen Bildungssysteme, und auch davor gab es die Bildungskrisen der BRD, die in den 1980er Jahren, in den 1970ern und 1960ern, und die Zeit der Neu- und Rekonstituierung der deutschen Universitäten nach der NS-Zeit, also nach 1945 bis in die 1950er Jahre.

Auf alle diese Krisen, darauf wies Ludwig Huber in Hegne in der Podiumsdiskussion5 hin, kamen die Fragen und die Beschreibung der Problemlagen nur zum Teil, die Antworten, die die teils gravierenden strukturellen, institutionellen und inhaltlichen Transformationen nach sich zogen, nie aus dem Innern der Universität selbst, sie kamen von außen. In der Öffentlichkeit medial mehr oder weniger stark präsent, wird die aktuelle Krise, je nach Perspektive auf das Problem unterschiedlich, mit sich wiederholenden Schlagworten und historischen Referenzen auf nationale Bildungstraditionen dargestellt. Die Bildungsinstitutionen, die Universitäten selber, die Wissenschaftlerinnen und akademischen Verantwortlichen jedoch mischen sich, politisch betrachtet, wenig in ihrem eigenen konkreten Umfeld der Lehre öffentlich als kritische Intellektuelle und Experten ein. Sie diskutieren nicht öffentlich das Konkrete ihres Bereichs im Hinblick auf allgemeine Fragen der akademischen Bildung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Problemlagen. Wenige gehen reflexiv mit der Krise um, wie auch Andreas Dörpinghaus am Ende seines Beitrages konstatiert. Damit wird der Bildungsdiskurs in der Öffentlichkeit weitgehend staatlichen Institutionen, Wirtschaftsverbänden und Stiftungen, in Europa den Europäischen ← 10 | 11 → Organisationen, Interessenvertretungen und dem Feuilleton überlassen.6 Die Fachverbände (mit Ausnahme der der Erziehungswissenschaften7 und einzelner Philosophen) und die einzelnen WissenschaftlerInnen sind eher still. Erstaunlich ist zudem, auch dies betonte Huber, das Ausbleiben eines wahrnehmbaren Widerstands bei den Studierenden. Zuletzt gab es 2009 unterstützt von der GEW den großen, gegen die Auswirkungen der Bologna Reformen gerichteten Bildungsstreik, in dem an den einzelnen Universitäten über mehrere Tage sehr viele inhaltliche Diskussionen stattfanden.8

Was aber sind, Arendts Aufforderung aufgreifend, die Fragen, auf die die Reformen seit 1945 jeweils welche Antworten gaben? An welche der Antworten und Diskurse lässt sich, eingedenk ihrer Geschichtlichkeit und ihrer anderen (gesellschaftspolitischen) Kontexte, anknüpfen? Wo lässt sich das, mit Arendt gesprochen, „Wesen der Sache selbst“ auffinden, das als regulative Idee für eine heutige kritische Zeitanalyse und für Transformationen des Bestehenden gleichermaßen beerbt werden kann?

Akademische Bildung als offenes Programm

1969 fragte, vier Jahre nach dem „Bürgerrecht auf Bildung“ von Dahrendorf und auf den ersten Blick erstaunlich aktuell, der Tübinger Pädagoge Andreas Flitner in einer Ringvorlesung zum Thema: „Was wird aus der Universität? Standpunkte zur Hochschulreform“ nach dem Sinn ‚akademischer Bildung‘.9 Er geht in seinem Vortrag den Fragen und Antworten der ← 11 | 12 → jeweiligen Bildungskrisen in der BRD nach. Das politische und moralische Versagen der Universitäten und der Akademiker während der NS-Zeit brachte, so Flitner, nach dem 2. Weltkrieg das „Thema menschlich-politischer Erziehung des künftigen Akademikers stark in den Vordergrund“, es bedurfte eines Gegengewichts zur Spezialisierung in einer Fachwissenschaft, eines „Gegengewichts gegen Funktionalismus und Spezialisation; menschliche und soziale Erziehung und akademische Allgemeinbildung machen darum die zusätzlichen großen Aufgaben der Universität aus.“10 Die Antwort, ausgeführt 1948 im „Blauen Gutachten“11, war die Bewegung des „Studium generale“12, die dann aber, so Flitner, aufgrund ihres (heute müsste man hinzufügen: damaligen) Allgemeinbildungsbegriffs, vor allem aber angesichts der hohen Spezialisierung in den Wissenschaften schnell nicht mehr zeitgemäß war und keine langfristig hinreichende Antwort auf die Frage geben konnte, was akademische Bildung denn nun genau sein sollte. Einen Kern allerdings traf sie mit dem Gegenmodell zum funktionalen Menschen sehr wohl. Gegen die Aufforderung Schelskys von 1960, an den Universitäten die „Bildungsaspirationen doch überhaupt aufzugeben“, und in Ablehnung einer „Technokraten Universität“ der Forschung und einer unkritischen Berufsschule, gegen die totale Verzweckung der Universität, mit der sie sich selber abschaffen würde, setzt Andreas Flitner Akademische Bildung als „Korrektiv des wissenschaftlichen Positivismus und des gesellschaftlichen Funktionalismus. In Auseinandersetzung mit studentischen Erwartungen und nur mit den Studierenden ← 12 | 13 → zusammen lösbar, sieht er 1969 drei Aufgaben für die (damalige) Zukunft: 1. eine kritische Auseinandersetzung mit der Berufs- und Arbeitswelt aus dem eigenen Fach heraus (ethische, soziale Fragen), eine Auseinandersetzung, die nicht zu verwechseln ist mit Praxis (und Praktika), die, so Flitner, nur das erfolgreiche Verhalten lehrt, 2. die politisch-soziale Bildung und das reflektierte Engagement und 3. die reflektierte Auseinandersetzung und der Umgang mit sich selbst. Letzteres mag oberflächlich betrachtet anschlussfähig klingen an die heutigen Optimierungsdiskurse, aber – weitergedacht – eher in Richtung Förderung ästhetischer Urteilskraft und eines Selbstsorge Konzeptes und der Frage nach dem ‚Guten Leben‘ zu zielen. Ethische und politische Urteilskraft in und außerhalb des eigenen Faches zu stärken, der Bildung ästhetischer Urteilskraft und der reflektierten Selbstsorge einen Raum innerhalb der Universität zu geben, das Festhalten an einer regulativen Idee der Universität, in der akademische Bildung konstitutiv neben der Ausbildung enthalten sein muss, das Festhalten an dem unhintergehbaren Zusammenhang von Demokratie, politischer Tugend und Bildung, all das entspricht gänzlich unpathetisch dem Versuch, die Kantischen Fragen nach dem, was wir wissen können, was wir tun sollen und nach dem, was ein Mensch ist, im Studium generell zu verankern. Dem aufklärerischen Ideal eines humanistischen Menschenbildes entspricht andererseits das Ideal einer Universität als öffentlichem Ort der Kritik im Sinn des Kantischen Aufklärungstextes.

Details

Seiten
254
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653055191
ISBN (ePUB)
9783653965407
ISBN (MOBI)
9783653965391
ISBN (Hardcover)
9783631664087
DOI
10.3726/978-3-653-05519-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Schlagworte
Studium generale Persönlichkeitsentwicklung Forschendes Lernen Orientierungswissen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 254 S., 3 s/w Abb., 5 Graf.

Biographische Angaben

Ursula Konnertz (Band-Herausgeber:in) Sibylle Mühleisen (Band-Herausgeber:in)

Sibylle Mühleisen ist Mitarbeiterin des SQ-Zentrums der Universität Konstanz. Ursula Konnertz leitet das «Studium Professionale und Orientierungswissen» der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist Dozentin für Philosophie am Leibniz Kolleg Tübingen.

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