«Ärgernis» und «moderner Klassiker»
Zur Autorenrolle Wolfgang Koeppens in der Literatur nach 1945
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Onur Kemal Bazarkaya
1. Einleitung
Extract
1. Einleitung
1.1 Zum Forschungsstand
In Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) wird ein gefeierter US-Schriftsteller, Mr. Edwin genannt, durch eine vom Krieg verwüstete und im Wiederaufbau begriffene deutsche Stadt chauffiert, in die er gereist ist, um seine sinnstiftende Botschaft zu verkünden. Sinn, das ist für ihn die Teilhabe an etwas Ganzheitlichem, der „unvergängliche[n] Seele des Abendlandes“, dem „Geist der Jahrtausende“,1 kurz: der Wahrheit. Nun aber beginnt er, an seiner Mission zu zweifeln. Ist die Wahrheit, die er anbieten kann, nicht lediglich eine Wahrheitsversion, „die Deutung der Geschichte nur“ und „schließlich auch diese Deutung fragwürdig“?2 Beim Anblick der von der Historie „heimgesucht[en]“3 Stadt begreift Edwin, dieser Gralshüter der christlich-abendländischen Tradition, dass auch die Wahrheit geschichtsbedingt ist. Trotz dieses Schocks hält er am Abend im Amerikahaus, dem ehemaligen Führerbau,4 seinen Vortrag; doch wird seine Beschwörung des „creator spiritus“5 konterkariert von den Störgeräuschen einer dysfunktionalen Lautsprecheranlage, also einem Produkt des technischen Fortschritts oder eben: der Geschichte.
Edwins antiquierter Wahrheitsanspruch ist auf seine spezifische Werkvorstellung zurückzuführen. Für ihn ist das Werk Homers, Vergils, Dantes oder Goethes ein Hort unvergänglicher und somit: wahrer Werte, er selbst der Adept, der zu ihrer Vermittlung berufen ist. Innerhalb dieses exklusiven Verhältnisses verweist der Tribut, den er dem „creator spiritus“ entrichtet, letztlich auf ihn selbst. Mit Pierre Bourdieu lässt sich diese Einstellung Edwins als „charismatische Ideologie...
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