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Katholische Aufklärung und Ultramontanismus, Religionspolizey und Kultfreiheit, Volkseigensinn und Volksfrömmigkeitsformierung

Das rheinische Wallfahrtswesen von 1826 bis 1870 - Teil 1: Die kirchliche Wallfahrtspolitik im Erzbistum Köln - 2., aktualisierte und erweiterte Auflage

von Volker Speth (Autor:in)
©2015 Dissertation X, 755 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch schildert den Kampf zwischen der katholischen Aufklärung und dem Ultramontanismus um die Haltung der Kirche zum Wallfahrtswesen, einer beliebten Form der Volksfrömmigkeit. Während der Kölner Erzbischof Spiegel (1825–1835) Wallfahrtsprozessionen mit staatlicher Exekutivhilfe durch Verbote ausmerzen wollte, entschied sich nach wiederholten Kurswechseln Erzbischof Geissel 1842 für die Wiederzulassung und Wiederverkirchlichung der Wallfahrtszüge. Bezog sich diese Tolerierung zuerst nur auf die Wallfahrten nach Kevelaer anlässlich der dortigen 200-Jahr-Feier, wurde sie im folgenden Jahr stillschweigend entfristet und auf alle anderen Wallfahrtsorte ausgedehnt. Ab 1843 war der Wallfahrtskult unter klerikaler Regie im Erzbistum Köln schließlich wieder kirchenamtlich legalisiert und akzeptiert, was sein rasches Wiederaufblühen zur Folge hatte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangabe
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Thema, Fragestellungen, Vorbemerkungen
  • 2. Begriff und Wesen des Ultramontanismus als kirchengeschichtliches Interpretationsparadigma
  • 3. Die aufklärerische Gottesdienst- und Volksfrömmigkeitsreform des Kölner Erzbischofs Spiegel (1825 – 1835): die Eliminierung des Wallfahrtswesens und die Purifizierung des Prozessionswesens
  • a)   Das Wallfahrtswesen
  • i. Die dekanatsweise Verpflichtung des Pfarrklerus zum Boykott auch der eintägigen Wallfahrtszüge
  • ii. Die Haltung des Bischofs von Trier
  • iii. Die Haltung und Disziplinierung des Pfarrklerus
  • iv. Die Lenkung und Disziplinierung des Kirchenvolks
  • v. Die Bedeutung des Pfarrprinzips als Motiv für die Wallfahrtsrepression
  • vi. Die Auswirkungen der Wallfahrtsrepression auf das Wallfahrtswesen und das Wallfahrerverhalten
  • b)   Das Prozessionswesen
  • i. Der Kampf gegen das Schützenbrauchtum und Militärzeremoniell im Prozessionswesen
  • ii. Der Kampf gegen die Mitführung von Heiligenfiguren und Reliquien in Sakramentsprozessionen
  • iii. Der Kampf gegen eine Mehrzahl von jährlichen Sakramentsprozessionen
  • iv. Der Kampf gegen vermeintliche Unschicklichkeiten und Unzuträglichkeiten bei Prozessionen
  • v. Der Kampf gegen Predigten im Freien bei Prozessionen
  • vi. Der Kampf gegen den Gymnicher Ritt
  • vii. Fazit: Grundzüge der Volksfrömmigkeit
  • c)   Zwischenbilanz: die Problematik der aufklärerischen Gottes dienstreform und Volksfrömmigkeitsformierung
  • 4. Die kirchliche Wallfahrtspolitik im Erzbistum Köln von 1836 bis 1843 zwischen katholischer Spätaufklärung und Ultramontanismus: wiederholter Kurswechsel und letztendliche Wiederverkirchlichung des Wallfahrtswesens
  • a)   Das Pontifikat von Erzbischof Droste-Vischering (1836/37): die einzelfallbezogene Wiedergestattung von Wallfahrtszügen mit Priesterbegleitung
  • i. Erzbischof Droste-Vischering
  • ii. Die Wiedergestattung eintägiger Wallfahrtszüge
  • iii. Der Weg zur Genehmigung von mehrtägigen und transdiözesanen Wallfahrtszügen
  • iv. Widerstände im Pfarrklerus gegen den Kurswechsel in der erzbischöflichen Wallfahrtspolitik
  • v. Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt
  • vi. Fazit
  • b)   Die Diözesanadministration der Generalvikare Hüsgen und Iven (Ende 1837 – Anfang 1842): die Rückkehr zum amtskirchlichen Wallfahrtsboykott
  • i. Die geschäftsführenden Generalvikare Hüsgen und Iven
  • ii. Rechtsunsicherheiten, Handlungsdivergenzen, Konflikte und Denunziationen
  • iii. Die Wallfahrtspolitik der Generalvikare Hüsgen und Iven
  • iv. Der Ruf im Pfarrklerus nach Rechtsklarheit und Handhabungseinheitlichkeit
  • v. Die Implementierungsschwäche der Generalvikare und die Zunahme von Laienwallfahrten ohne kirchliche Billigung und klerikale Beteiligung
  • c)   Die Anfangsphase der Amtszeit von Koadjutor Geissel (1842/43): die endgültige Relegalisierung und Reekklesialisierung des Wallfahrtswesens
  • i. Der Koadjutor und spätere Erzbischof Geissel
  • ii. Der von der Kevelaerer Jubiläumsfeier von 1842 ausgehende Problemlösungs- und Entscheidungsdruck
  • iii. Die Haltung des Pfarrklerus und dessen Ruf nach Rechtsklarheit
  • iv. Die oberhirtliche Wallfahrtspolitik im Jahr 1842
  • v. Die oberhirtliche Wallfahrtspolitik im Jahr 1843
  • vi. Die Position und Reaktion des Pfarrklerus
  • vii. Fazit
  • 5. Die kirchliche Wallfahrtspolitik im Erzbistum Köln von 1843 bis 1870: die Protegierung und Klerikalisierung des Wallfahrtswesens im Zeichen des Ultramontanismus
  • a)   Generalvikar Baudri
  • b)   Der oberhirtliche Umgang mit wallfahrtsrelevanten Großereignissen
  • c)   Die amtskirchliche Regeladministration des Wallfahrtswesens
  • i. Die Anträge, Eingaben und Bittgesuche
  • ii. Die von der Kölner Kirchenleitung beanspruchten Reservatrechte und Regulierungskompetenzen
  • iii. Die Begründung von Wallfahrtstraditionen und die Abhaltung von Sonderwallfahrten
  • iv. Die Priesterbegleitung von Wallfahrtszügen
  • v. Die Riten- und Gottesdienstapplizierungen an Wallfahrtszüge
  • vi. Die Sicherstellung des Pfarrgottesdienstes und dessen Vorrangs
  • vii. Die Wallfahrtsmodalitäten
  • viii. Die Wahrung von Schicklichkeit und Wohlanständigkeit
  • d)   Konflikte zwischen wallfahrtsabholden Pfarrern und wallfahrts erpichten Gemeinden
  • e)   Fazit
  • 6. Gesamtbilanz: die ultramontane Reintegration der Volksfrömmigkeitsformen in den kirchenamtlichen Kultkanon als Anpassungsreaktion auf die Herausforderungen der Moderne
  • Quellenanhang
  • Quellenverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

← xi | 1 → 1. Einleitung: Thema, Fragestellungen, Vorbemerkungen

Die vorliegende Untersuchung thematisiert die kirchliche Wallfahrtspolitik im Erzbistum Köln von 1826, dem Jahr des Verbots mehrtägiger oder die Diözesangrenzen überschreitender Wallfahrtszüge, bis zur Reichsgründung sowie die kirchliche Prozessionspolitik vornehmlich während des Pontifikats von Erzbischof Spiegel (1825 – 1835). Zwei leitende Erkenntnisinteressen stehen im Vordergrund: Erstens soll anhand der kirchlichen Behandlung einer solch zentralen Volksfrömmigkeitsartikulation, wie sie das Wallfahrts- und Prozessionswesen darstellte, die Trendwende von der katholischen Spätaufklärung zum Ultramontanismus nachgezeichnet werden. Hintergrund ist die kirchengeschichtliche Grundtatsache, dass im Rheinland wie auch in anderen deutschen Regionen die Revitalisierung des Kirchenlebens nach 1815 zunächst noch auf der Basis der Leitwerte der katholischen Aufklärung gesucht wurde, bevor im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf dem ‚religiösen Feld’ die geistig-mentale Großwetterlage umschlug und die vorherrschenden handlungsorientierenden Wertvorstellungen der kirchlichen Amtsträger sich grundlegend wandelten, was üblicherweise mit dem Begriff ‚Ultramontanisierung’ chiffriert wird. Nachdem sich dieser Prozess in der Auswahl des kirchlichen Führungspersonals niedergeschlagen hatte, konnten die Vorkämpfer der ultramontanen Strömung, die nach der Jahrhundertwende zunächst in informellen Kreisen von Priestern und Laien Gestalt gewonnen hatte, die katholische Aufklärung in heftigen kircheninternen Kämpfen, aber im Ganzen doch relativ rasch zurückdrängen und die kirchliche Erneuerung gemäß den ultramontanen Prinzipien weiter vorantreiben, weshalb häufig – freilich zu Unrecht – die moderne Historiographie den katholischen Neuaufbruch mit der Ultramontanisierung der deutschen Kirche einfach gleichsetzte. Im Erzbistum Köln personalisierte sich der Umbruch von der aufklärerisch zur ultramontan geprägten Kirche im Übergang von Erzbischof Spiegel, der noch ganz die kirchentreue katholische Spätaufklärung repräsentierte, zu seinem Nachfolger Droste-Vischering, der bereits einen militanten Ultramontanismus verkörperte, und weiter zu dessen Koadjutor und Nachfolger Geissel, der gar zur Führungsfigur des deutschen Ultramontanismus avancierte. Dieser Paradigmenwechsel und ein wesentlicher Grund für ihn lassen sich besonders gut anhand des Wallfahrtswesens aufzeigen, weil der Versuch zur Umgestaltung der popularen Frömmigkeitspraxis, in der die öffentlichkeitswirksamen ‚Straßenkulte’ einen prominenten Platz einnahmen, ein zentrales Aktionsfeld der katholischen Aufklärung war, wie umgekehrt die Wiederzulassung und Förderung der traditionellen, konfessionsdemonstrativen Volksfrömmigkeitsformen, darunter des identitätsstiftenden Wallfahrtskults, ein wichtiges Anliegen des Ultramontanismus war. Daher ist das Wallfahrtswesen ein besonders gut geeigneter Indikator, um den Austausch der Leitziele und -werte der katholischen Erneuerungsbewegung, die Marginalisierung der katholischen ← 1 | 2 → Aufklärung und den Aufstieg des Ultramontanismus zur dominanten, das Erscheinungsbild des neuzeitlichen Katholizismus bis in die 1960er Jahre bestimmenden Kulturformation zu verfolgen.

Zweitens möchte die vorliegende Arbeit zusammen mit den beiden anderen Teile des dreiteiligen Werkes einen Beitrag leisten zur Rekonstruktion einer untergegangenen Lebenswelt, nämlich des ‚klassischen‘ ultramontanen Katholizismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie will das kirchliche Innenleben, die katholische Binnenwelt, den „Katholizismus von unten und von innen“1 ausleuchten, wie ein immer wieder erhobenes, aber zu selten eingelöstes Postulat lautet. Das bedeutet in diesem Fall, dass sie die Interrelation und Interaktion zwischen den Gläubigen, dem Pfarrklerus und der Kölner Diözesanleitung in sozialgeschichtlicher und herrschaftstheoretischer Perspektive herauspräparieren will. Wie begegneten sich Gemeindemitglieder und Pfarrgeistlichkeit? War die Gemeinde eine gehorsame Herde, die sich der Amtsautorität ihres Hirten widerspruchslos unterordnete, oder degradierte sie ihn zum ‚ersten Gemeindediener’, der sich den Wünschen seiner eigenwilligen und selbstbewussten Pfarrangehörigen fügen musste, wenn er in Frieden und mit Erfolg seelsorgerlich wirken wollte? Herrschte zwischen Pfarrer und Gemeinde eitle Harmonie oder waren sie in permanente, vom Klerus-Laien-Antagonismus geschürte Grabenkämpfe verstrickt? Wie gestaltete sich sodann das (Macht-)Verhältnis der Diözesanleitung zum Kirchenvolk? Waren die Gläubigen – wie manchmal mit Blick auf die religiöse Volkskultur gerade des 19. Jahrhunderts suggeriert wird – das hilflose Opfer einer rabiaten kirchenobrigkeitlichen Disziplinierungs- und Domestizierungskampagne oder galt das Prinzip der ‚Macht der Beherrschten’, wonach sich die Kirchenführung mangels Verfügung über direkte weltliche Gewaltmittel letztlich den kultisch-religiösen Volksinteressen willfährig beugen musste, wenn sie ihren Einfluss auf ihre Massenklientel und damit ihre Herrschaftsposition nicht aufs Spiel setzten wollte? Wie nahm schließlich der Pfarrklerus seine intermediäre Rolle zwischen Gläubigen und Kirchenführung wahr? Fungierte er als verlängerter Arm der Letzteren in ihrem Bemühen um die aufklärungsmotivierte Repression bzw. um die ultramontane (Wieder-)Verkirchlichung von religiösen Volksbräuchen oder solidarisierte er sich mit seiner Gemeinde, indem er als ihr Sprachrohr deren Bedürfnisse gegenüber der Kirchenobrigkeit artikulierte? Konnte der Pfarrherr auf dem Lande, fern der Zentrale, gleichsam als Gemeindemonarch weithin selbständig agieren und seinen persönlichen Auffassungen gerade auf dem Kultsektor Geltung verschaffen oder war er einer bis ins letzte Dorf reichenden pastoralnormierenden Oberaufsicht der Diözesanleitung unterworfen? Diese idealtypischen dichotomischen Gegenüberstellungen umreißen das zweite Problemfeld, um das es in der vorliegenden Untersuchung gehen soll. Dazu ist das Wallfahrtswesen ebenfalls besonders gut als Sonde geeignet, weil gerade seine Umstrittenheit und Konflikthaftigkeit ← 2 | 3 → einen tiefen Einblick in die Dreiecksbeziehungen zwischen Laien, Pfarrklerus und Diözesanleitung gewähren, wie ihn eine unproblematische Routineangelegenheit nicht bieten könnte. Dieselben Gründe haben auch dafür gesorgt, dass für die vorliegende Epoche im Archiv des Erzbistums Köln eine umfängliche zentrale Überlieferung vorliegt, die eine systematische Beantwortung der genannten beiden Fragestellungen auf einer hinreichend dichten und repräsentativen Quellenbasis gestattet, sodass man nicht, wie es bei einer solch ‚weichen’, um den Umgang von Statusgruppen miteinander kreisenden Thematik bisweilen der Fall ist, bei der anekdotenhaften Schilderung von nicht verallgemeinerbaren Einzelvorfällen stehenbleiben muss.

Die vorliegende Arbeit baut auf der historischen Dissertation des Autors2 auf und möchte sie fortführen. Um unnötige Wiederholungen und missliche Selbstzitierungen zu vermeiden, sei ein für allemal verwiesen auf die dortigen Ausführungen und Literaturangaben zu den theoretischen Grundlagen, insbesondere zu Begriff und Wesen der Wallfahrt (S. 8–16), der aufklärerischen Volksfrömmigkeitsreform (S. 17–58), der Sozialdisziplinierung (S. 216–220) und der kirchlich-klerikalen Herrschaft (S. 244–248). Ebenso wird auf die Wiederholung der dort aufgeführten Literatur zu den rheinischen Wallfahrtsorten sowie zur Geschichte des rheinischen Wallfahrtswesens im 19. Jahrhundert (S. 5f) verzichtet. (Die Seitenangaben beziehen sich wohlgemerkt auf die 2. Auflage.)

Um nicht die Untersuchung mit dauernden Hinweisen auf dasselbe Werk zu belasten, sei gleichfalls ein für allemal auf das vornehmlich von P. Dohms verfasste Werk ‚Die Wallfahrt nach Kevelaer zum Gnadenbild der Trösterin der Betrübten’. Diese verdienstvolle Arbeit listet unter dem Namen der alphabetisch geordneten Ausgangsorte die Grunddaten der von dort ausziehenden Kevelaer-Wallfahrten nach einem fixen Schema (Träger, Beginn, besondere Ereignisse, Anliegen, jährliche Termine, Weg und Gestaltung, Aufenthalt in Kevelaer) auf. Unter dem dritten Punkt werden viele historische Quellen, darunter auch einige der in der vorliegenden Untersuchung ausgewerteten Schriftstücke, mit vielen eingestreuten Zitaten referiert. Die vorliegende Untersuchung stützt sich jedoch durchgängig nicht auf diese Quellenreferate, sondern auf die Originalquellen selbst.

Schwerpunktmäßig in den Fußnoten wurden umfangreiche Quellenauszüge wiedergegeben, um die historische Darstellung zu belegen, ihr größere Farbigkeit zu verleihen und sie mit zusätzlichen Detailinformationen anzureichern, die in der sich auf die Herausarbeitung der großen Linien konzentrierenden ← 3 | 4 → Darstellung nicht alle berücksichtigt werden konnten. Die Ausführlichkeit der Quellenzitate liegt aber auch in der Tatsache begründet, dass die Mehrzahl der benutzten Akten mittlerweile in Mikrofilmen vorliegen, die nur äußerst umständlich zu benutzen und schlecht lesbar sind, während die Originale nicht mehr oder nur noch mit Sondererlaubnis zugänglich sind. Der Autor dankt an dieser Stelle dem Archiv des Erzbistums Köln und dem Landesarchiv NRW dafür, dass er noch die Originalakten benutzen durfte. Ohne dieses Entgegenkommen wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen.

Zum Schluss noch einige Vorbemerkungen zur Zitierweise und zu den Quellenzitaten: Allgemein wurde bis auf die nachfolgend genannten Ausnahmen keine Modernisierung der Schreibweise in Quellenzitaten vorgenommen; allerdings wurde versucht, mittels Einfügungen, die mit eckigen Klammern gekennzeichnet sind, das richtige Verständnis und die Verständlichkeit der Zitate herzustellen oder zu verbessern. Ohne Kennzeichnung wurden in Zitaten die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung sowie die Zeichensetzung vorsichtig modernen Standards angepasst; außerdem wurden die – auch nach den damaligen Regeln – offensichtlichen (Recht-)Schreib- und Grammatikfehler korrigiert, sofern sie zum Textverständnis wesentlich sind. Grundsätzlich wurden zeitgenössische Quellenzitate kursiv, eigener Text des Autors sowie moderne Zitate aus der Sekundärliteratur (20./21. Jahrhundert) recte gesetzt. Bei Einfügungen in geschlossene Zitate wurde folgendermaßen verfahren: Bemerkungen, Erläuterungen und Kommentierungen zum richtigen oder besseren inhaltlichen Verständnis werden recte, zur sprachlichen Verständlichkeit angebrachte oder notwendige Korrekturen und Ergänzungen kursiv gesetzt (und beide Kategorien natürlich eckig geklammert). Zur ersten Kategorie zählen auch die zum elementaren Verständnis notwendige Auflösung von Personal- und Demonstrativpronomina. Insgesamt hat die Wiedergabe der Quellen Kompromisscharakter, insofern ein Ausgleich zwischen Verständlichkeit und Treue zur Schreibweise gesucht wurde; den Maßstäben einer historischkritischen Edition wollen und können die Quellenzitate nicht genügen.

Häufig vorkommende Abkürzungen in den Quellenzitaten sind:3

v. M. oder v. Mts. vorigen Monats
l. M. oder l. Mts. laufenden Monats
c., cr., cur. oder curr. currentis [anni] d.h. des laufenden Jahres
d. d. de dato

Die vorliegende zweite Auflage wurde stark überarbeitet und deutlich erweitert. Die wichtigste Änderung gegenüber der Erstauflage besteht darin, dass die ← 4 | 5 → Ortsakten des Bistumsarchivs Aachen systematisch ausgewertet wurden und die Auswertung der Ortsakten des Archivs des Erzbistums Köln vervollständigt wurde. Überdies wurde verstärkt Quellenmaterial aus staatlicher Provenienz eingearbeitet. Teilweise auf dieser erweiterten Quellenbasis wurden einige Unterkapitel neu verfasst und eingefügt (3,a,vi; 3,b,iv; 3,b,vii), insbesondere dasjenige über die Auswirkungen der Wallfahrtsrepression während des Pontifikats von Erzbischof Spiegel.

_________________

1       U. Altermatt: Katholizismus und Moderne, S. 28.

2       Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und ‚Religionspolicey’. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1814 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbots von 1826. Ein Beitrag zur aufklärerischen Volksfrömmigkeitsreform. 2., überarb. u. erw. Aufl. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang, 2014. (Europäische Wallfahrtsstudien ; 5).

3       Ein leicht zugängliches Abkürzungs(auflösungs)verzeichnis ist: Dülfer, Kurt / Korn, Hans-Enno: Gebräuchliche Abkürzungen des 16. – 20. Jahrhunderts. 9., überarb. Aufl. Marburg 2004. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg ; 1)

← 5 | 6 → ← 6 | 7 → 2. Begriff und Wesen des Ultramontanismus als kirchengeschichtliches Interpretationsparadigma

Der ursprünglich rein geographisch gebrauchte Terminus ‚ultramontan’1 gewann seine moderne Bedeutung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert im Umkreis der Debatten um die nationalkirchlichen und episkopalistischen Selbständigkeitsbestrebungen. ‚Ultramontanismus’ war ein polemischer Kampfbegriff, geboren aus antirömischem Affekt, gebraucht zur Diskreditierung aller den päpstlichen Primat, den kurialen Zentralismus und die Maßgeblichkeit der römischen Theologie akzentuierenden Richtungen. Konnotiert waren damit servile Romhörigkeit, intolerantes Zelantentum, rückständiger Obskurantismus, nationale Unzuverlässigkeit und unpatriotische Gesinnung. Die Ultramontanen waren Schildknappen der römischen Despotie, Römlinge, Papisten, geistige Vaterlandsverräter.

Wegen dieses pejorativen Odiums von vielen Historikern aus ihrem Vokabular verbannt,2 gewann der Begriff in den letzten Jahrzehnten zögernd neue Respektabilität als deskriptives historisches Interpretationskonzept und analytische Bezeichnung einer kirchengeschichtlichen Strömung, avancierte gar zum Epochenbegriff.3 Dieser Tendenz zur Historisierung, Wertneutralisierung und partiellen Umdefinierung des Begriffs, die allerdings bisweilen durch eine emotional getönte, die Verdikte des früheren Antiultramontanismus4 repetierende Negativbewertung des Denotats gebremst wird, ist die vorliegende Untersuchung verpflichtet und will sie weiterführen. Da der Umschlag von der katholischen Aufklärung zum Ultramontanismus ihr zentrales Thema ist, soll ← 7 | 8 → Letzterer, da Erstere schon im Vorgängerband thematisiert wurde, im Folgenden definiert, seine wesentlichen Merkmale beschrieben, seine Entstehungsgeschichte an Hand eines Beispiels aus dem Rheinland analysiert und schließlich sein Verhältnis zur modernen Welt bestimmt werden.

Der Begriff ‚Ultramontanismus’ wird in der modernen Historiographie in einer engeren und einer weiteren Bedeutung verwendet. Im engeren Sinn bezeichnet er ein Strukturprinzip der katholischen Kirchenverfassung, im weiteren Verständnis eine allgemeine innerkatholische Strömung, die eine das Erscheinungsbild des Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert bestimmende Kulturformation schuf. Beide Bedeutungen hängen zwar dergestalt eng zusammen, dass die engere Bedeutung eine Teilmenge der weiteren ist, sodass bei der weiteren – wie häufig bei Begriffsbildungen – ein hervorstechender Charakterzug zur Bezeichnung des Ganzen dient; trotzdem müss(t)en sie aber doch auch um der Klarheit der Rede willen (stärker) geschieden und vor allem müsste deutlich(er) gemacht werden, mit welcher Fassung operiert wird. Beide Bedeutungsgehalte sollen nun näher definiert werden.

Ultramontanismus im engeren Sinne bezeichnet eine ekklesiologisch-kanonistische Lehre und zugleich innerkirchliche Richtung, welche die monarchische Kirchenverfassung, insbesondere ihre Zuspitzung im päpstlichen Universalprimat mit seinen beiden Ausprägungen des Jurisdiktionsprimats und der lehramtlichen Unfehlbarkeit, propagierte und alle der institutionellen Zentralisierung und Monarchisierung entgegenstehenden nationalkirchlichen, konziliaren und episkopalistischen Tendenzen bekämpfte.5 Damit einher ging in der Regel die Anerkennung der Normativität der römischen Theologie, Liturgie, Kanonistik und Frömmigkeitspraxis. In dieser Fassung fand der Begriff – wie erwähnt – erstmals breite Verwendung in Deutschland zur Feindstigmatisierung im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Febronianismus, Jansenismus, Nuntiaturstreit und Emser Kongress.6

← 8 | 9 → Ultramontanismus im weiteren Sinne bezeichnet eine autiaufklärerische, romorientierte, strengkatholische, die Konfessionsidentität betonende Bewegung innerhalb des nachrevolutionären Katholizismus, welche regionabhängig im zweiten Drittel des 19. Jahrhundert gegenüber der katholischen (Spät-)Aufklärung, deren Vorherrschaft in innerkirchlichen Machtkämpfen beendend und deren geistesverwandte Erben (liberaler Katholizismus, Reformkatholizismus, Modernismus) intolerant zurückdrängend, eine bis zur Zäsur der 1960er Jahre währende kirchenpolitische wie theologisch-geistig-mentale Dominanz (freilich nie Alleinherrschaft) innerhalb des modernen Katholizismus gewann und deshalb zur kirchengeschichtlichen Epochensignatur wurde, sodass er gar zum Epochenbegriff taugt. So gesehen löste das Zeitalter des Ultramontanismus das Zeitalter der Katholischen Aufklärung ab.7 In dieser Arbeit wird der Begriff künftig in dieser weiten Fassung verwendet.

Im Folgenden soll eine Phänomenologie des mit dem Begriff ‚Ultramontanismus’ chiffrierten Kulturformation versucht werden,8 wobei die deutschen Verhältnisse im Vordergrund stehen sollen und die geschichtliche Entwicklung weitgehend unberücksichtigt bleiben soll, um das Kapitel nicht zur Strukturgeschichte des Katholizismus im 19. Jahrhunderts ausufern zu lassen9. Beabsichtigt ist eine stark schematisierende, von Wandlungen, Besonderheiten und Personen abstrahierende Beschreibung der Strukturmerkmale des Ultramontanismus in seinem weiteren Begriffsverständnis.

Allgemein ging es dem Ultramontanismus um die Verteidigung und Selbstbehauptung des Katholizismus in einer als feindlich erfahrenen Welt,10 was sich ← 9 | 10 → in einer verketzernden Kampfrhetorik äußerte11. Das ultramontane Grundgefühl war dasjenige der Bedrohung durch die alternativen philosophisch-säkularreligiösen Weltdeutungssysteme Materialismus, (Evolutions-)Biologismus, Atheismus, Rationalismus und Positivismus, den auf seine rückbindungsfreie, absolute Souveränität pochenden Machtstaat, die loyalitätseifersüchtigen Nationalbewegungen, die voraussetzungslose Wissenschaft, die säkularistische, religionsemanzipierte Kultur, die traditionskritische Aufklärung, die autoritätenverschlingende Revolution, den kulturkämpferischen Weltanschauungsliberalismus, die Wahrheitsansprüche der Mehrheitsentscheidung unterwerfende politische Demokratie, den nach innerweltlicher Erlösung strebenden Sozialismus, die stabile traditionale Lebenswelten auflösende kapitalistisch-industrielle Wirtschaftsweise, wodurch die Kirche – vielfach nicht zu Unrecht – ihr Lehrgebäude, ihr Wertesystem, ihre Glaubenstradierungschancen, ihre Internationalität, ihre Einflussmöglichkeiten auf Staat und Gesellschaft in Frage gestellt sah. Selbst die triumphalistischen ‚Anmaßungen’ müssen vor dem Hintergrund tiefsitzender Beraubungs-, Verlust- und Untergangsängste gedeutet werden. Hauptgegenstand und zugleich Kernursache der Verunsicherung war der sozialstrukturelle Fundamentalprozess der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in eigengesetzliche, semiautonome, gleichgeordnete Funktionsbereiche, die sich nicht nur von kirchlich-religiösen Imperativen emanzipierten, sondern von der Kirche reklamierte Hoheitsbereiche (Schule, Ehe) – aus kirchlicher Sicht widerrechtlich – okkupierten. Auf diese gefühlte Bedrückung und Bedeutungsdegradierung durch die fremden Subsysteme (Politik, Wissenschaft, Ökonomie usw.) reagierte der ultramontan transformierte Katholizismus mit der Verfestigung sowohl seiner organisatorischen Strukturen wie seines geistig-kulturellen ‚Überbaus’, mit dem Ziel, innerhalb des ‚religiösen Feldes’ ein distinktes, institutionszentriertes Gesellschaftssegment zu etablieren, das identitätsstark, widerstandsfähig und abwehrbereit ist. Verfolgt wurde dieses Ziel mit der Doppelstrategie, die Befestigung der Außengrenzen mit einer Stärkung der Binnenkohäsion zu verknüpfen. Der so entstandene Katholizismus wird mit den Metaphern ‚Burg’, ‚Bollwerk’, ‚Bastion’, ‚Turm’ oder ‚Festung’ chiffriert, die eine unter Druck geratene, sich aber auch – freilich auf Kosten der Binnenpluralität und -liberalität – im Ganzen erfolgreich behauptende und verteidigende sozialkulturelle Formation trefflich symbolisieren.

← 10 | 11 → Die Forcierung der Abgrenzung nach außen richtete sich in Deutschland historisch zuerst gegen den Staat.12 Kampf für die Kirchenfreiheit gegen das Staatskirchentum war Ursprungsmovens und anfängliche Hauptstoßrichtung des Ultramontanismus, weshalb seine Charakterisierung als staatsfromme Ruhigstellungsideologie im Dienste der Restauration irreführend wäre. Ihm eignete ursprünglich vielmehr ein ausgesprochenen antietatistischer Impetus, der die einengende Bevormundung der Kirche durch den Staat zugunsten einer größeren Autonomie der Kirche vor allem im Bereich der Stellenbesetzung, der Vermögensverwaltung, der Rechtsetzung, der Binnenkommunikation und der Priesterausbildung aufzusprengen trachtete, ohne doch auf eine Unterstützung der Kirche durch staatliche Machtmittel verzichten zu wollen oder gar eine Trennung von Staat und Kirche anzustreben. Obwohl sich dieser staatskritische Zug vor allem nach der Gewährung eines größeren kirchlichen Handlungsspielraums nach der 1848er Revolution abschwächte und der Ultramontanismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt das Bündnis mit dem monarchischen Obrigkeitsstaat gegen den Sozialismus und Weltanschauungsliberalismus suchte, blieb ihm eine innere Distanz zur Staatsgewalt erhalten, die in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts vorübergehend wieder zur Konfrontation eskalierte.

Der zweite Hauptadressat der Außenabgrenzung waren die anderen Konfessionen, an erster Stelle natürlich der Protestantismus. Diese wechselseitigen, polemisch ausgetragenen konfessionellen Abschottungsprozesse gebaren einen das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Konfessionsantagonismus, der in den letzten Jahren verstärkt Beachtung gefunden hat.13 Der katholische Konfessionalismus ← 11 | 12 → befestigte nicht nur die Trennwand gegenüber den protestantischen Kirchen, sondern spaltete auch nichtreligiöse Sphären sachlogikfremd nach konfessionellen Gesichtspunkten, was man „externe Konfessionalisierung“14 nennen mag. Es entstanden katholische Vereine, katholische Parteien, katholische Zeitungen, katholische Krankenhäuser, katholische Schulen, katholische Büchereien usw. Selbst auf die Verkehrskreise, die Partnerwahl und das Konsumverhalten erstreckte sich der konfessionelle Separierungsdrang. Insgesamt also eine polarisierende Dramatisierung der Differenzen zwischen katholischer Innen- und nichtkatholischer Außenwelt, in deren Sog auch eigentlich religionsneutrale gesellschaftliche Funktionssphären konfessionalisiert, d.h. nach konfessionellen Kriterien strukturiert wurden.

Komplementär zur scharfen Markierung der Außenbarrieren trat die Stärkung der Binnenkohäsion und -integration, ein Prozess, der eine „interne Konfessionalisierung“15 zur Folge hatte. Anvisiert, wenn auch nie ganz realisiert war die Herstellung von größtmöglicher Homogenität und Uniformität, von Geschlossenheit und Zusammenhalt. Im Folgenden seien in gebotener Kürze schlagwortartig wichtige Strategien zur internen Kohäsionsfestigung aufgezählt:

images   Zentralisierung, Monarchisierung und partielle Sakralisierung der Kirchenverfassung, kulminierend in der Dogmatisierung des päpstlichen Jurisdiktionsprimats auf dem I. Vatikanum.

images   theologische, liturgische und rechtliche Vereinheitlichung durch ‚Romanisierung’ im Sinne einer Orientierung des kirchlichen Lebens an römischen Normen. Eine Schlüsselrolle als Vermittlungsinstanzen spielten die Nuntiaturen, die international operierenden Orden, in erster Linie die Jesuiten, und das 1818 wiederbegründete ‚Collegium Germanicum’ in Rom16.

images   Etablierung der Neuscholastik als vorherrschendes theologisches Deutungssystem, weil dessen Naturrechtslehre die sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen, dessen Ekklesiologie die Amtsautorität und dessen Denkstruktur das kulturelle Abgrenzungsinteresse der ultramontan formierten Kirche fundierten.17

images   Ausgrenzung ← 12 | 13 → dissentierender innerkatholischer Strömungen (z.B. Hermesianismus, Güntherianismus, liberaler Katholizismus, Reformkatholizismus, Modernismus), welche in kritischer Wendung gegen die amtskirchlich protegierte Neuscholastik eine Versöhnung von zeitgenössischer Wissenschaft und Philosophie mit der überlieferten Glaubenslehre (z.B. durch Anerkennung der geschichtlichen Gewordenheit von Dogma und Kirchenverfassung, Bibelexegese mit Hilfe der historisch-kritischen Methode) und allgemein eine Bejahung der Leitwerte der Moderne (z.B. Religionsfreiheit) sowie eine Öffnung zur nationalen Kultur propagierten.18

images   Ausbau und Effektivitätssteigerung der diözesanen Verwaltungsbürokratie durch Entfeudalisierung und Professionalisierung der Amtsträgerschaft (Abschaffung des Adelsmonopols auf Bischofsstühle und Domkapitelssitze, Besetzung der Diözesanbehörden mit festangestelltem, festbesoldetem, hauptamtlichem, fachlich qualifiziertem Personal), durch Etablierung einer im monarchischen Episkopat zulaufenden Ämterhierarchie mit klarer Kompetenzenverteilung (Beschneidung der Mitwirkungsrechte des Domkapitels, Schlüsselposition des Generalvikars als dem Bischof unterstellter, weisungsgebundener Leiter der Bistumsadministration, Schaffung des Dechantenamtes als intermediäre Kontrollinstanz) sowie durch Verrechtlichung und Formalisierung des Amtshandelns wie der Beziehungen zwischen den Amtsinhabern (konsequente Schriftlichkeit, Herausgabe von kirchlichen Bekanntmachungs- und Verordnungsblättern, Erstellung von Dienstinstruktionen, Abschließung von Arbeitsverträgen); insgesamt also eine Modernisierung der kircheninternen Organisationsstruktur nach staatlichem Vorbild.19

images   (Uni-)Formierung des Pfarrklerus zu einem disziplinierten, homogenen Diözesanpresbyterium; Stärkung der autoritären Leitungsgewalt des Bischofs gegenüber dem Pfarrklerus u.a. durch Abbau der Laien- und Staatspatronate; Professionalisierung des Klerus mittels Institutionalisierung eines geregelten, obligatorischen, akademischen Ausbildungsgangs (Priesterseminar, Theologische Fakultäten) und mittels Konstituierung von Pastoralkonferenzen zwecks Weiterbildung.20

images   Intensivierung ← 13 | 14 → der Seelsorge beispielsweise mittels Volksmissionen21 und Revitalisierung einer kirchenfokussierten Massenreligiosität22 unter anderem durch Einführung neuer Gottesdienstformen23.

images   Stärkung der Volksverwurzelung und Massenbindekraft der Kirche. Dieser „Appell an das einfache Volk“24, diese „Wendung zu den Massen des Kirchenvolks als Basis des katholischen Handelns“25, diese partielle „Symbiose zwischen Unterschichten und Katholizismus“26 verliehen dem Ultramontanismus eine populistische Note, was aber nicht mit einer Demokratisierung der Entscheidungsprozesse oder gar der Kirchenstrukturen verwechselt werden darf. Aspekte dieser Volksnähe waren:

−   Rekrutierung des Pfarrklerus aus allen gesellschaftlichen Schichten, auch aus der Bauern- und Handwerkerschaft, Letzteres region- und epochenabhängig teilweise sogar überproportional.27 „Der katholische Klerus war also stärker als die evangelischen Geistlichen mit allen Sozialschichten verzahnt.“28

−   Sozialpolitisches Engagement von bekennenden Kirchenmitgliedern und wachsende Aufgeschlossenheit der Kirche für die soziale Frage, was zur Herausbildung eines Sozialkatholizismus führte.29 Dieser manifestierte sich unter anderem in den Kolping’schen Gesellenvereinen und in den katholischen Arbeitervereinen30, im sozialen Aktivismus vieler Kleriker (‚rote Kapläne’) und im Aufbau einer organisierten Caritas31, in der die ← 14 | 15 → neu gegründeten, meist weiblichen Armen- und Krankenpflegeorden eine zentrale Rolle spielten32.

−   Bestrebungen zur Integration der katholischen Arbeiterschaft in das Kirchenleben durch die Bereitstellung klassen- und standesspezifischer Kulte (z.B. Josefsverehrung) und Vergemeinschaftungen (z.B. St.-Barbara-Bruderschaften, Knappenvereine), welche die Zumutungen der Moderne mental verarbeitbar machten und die erfahrene Entwurzelung infolge von Industrialisierung und Urbanisierung kompensierten durch eine geistiglebensweltliche Wiederbeheimatung. Eine gemeinsame antibürgerliche, antiliberale, antikapitalistische, antietatistische und antiprotestantische Grundeinstellung vermochte die gefühlten Modernisierungsverlierer im Fall einer regionalen Kongruenz von Klassen- und Konfessionsbarrieren gar zu einer „proletarisch-klerikalen Allianz“33 zusammenzuschmieden.34

−   Adaptierung des kirchenoffiziellen Kultkanons an die popularen Kultbedürfnisse durch amtskirchliche Relegalisierung und Reekklesialisierung der traditionellen, barocküberkommenen Volksfrömmigkeitsartikulationen sowie durch die Kreierung neuer, volkskongenialer Devotionsformen. Der ultramontane Kult- und Devotionsstil war gekennzeichnet durch Kirchen- und Priesterzentriertheit, durch Betonung des Sakramentalen und Objektiven, durch eine Vorliebe für das Sinnenfällige und Sichtbare, durch einen Hang zu Wundergläubigkeit und Mirakelsehnsucht, durch die Häufung von Stigmatisierungen und (Marien-)Visionen, durch eine Tendenz zur Massivität und Demonstrativität, zur Ritualität und Zeremonialität, zur Expressivität und Emotionalität, welche Außenstehende leicht als süßliche Sentimentalität und veräußerlichten Ritualismus empfanden. Die Konvergenz von Eliten- und Volksreligiosität bekundete sich in der Popularität der Heiligen- und Marienverehrung, des Herz-Jesu-Kults, der Papstdevotion und der eucharistischen Frömmigkeit sowie in öffentlichen Kirchenfesten und Massenkulten, die Klerus und Kirchenvolk vereinten.35

images   Schaffung ← 15 | 16 → eines katholischen soziokulturellen Milieus im Sinne einer relativ geschlossenen, kirchenzentrierten, besonders verdichteten, bergenden Lebenswelt auf der Grundlage einer weitreichenden, konfessionell bestimmten Gesinnungs-, Werte- und Weltdeutungsübereinstimmung, welche die soziale Heterogenität des Milieus überbrückte.36 Die Milieukonstituierung war eine Reaktion auf die Moderne und setzte die modernitätsspezifische Fraktionierung der Gesellschaft in eigenlogische, verselbständigte, nicht mehr religionsüberwölbte Funktionsbereiche, die Bedeutungseinbuße der Kirche als gesellschaftsintegrierende und -durchdringende Instanz sowie die Enttraditionalisierung und Individualisierung der Lebensformen mit den daraus resultierenden Bedrohtheitsgefühlen voraus, denn sie suchte die identitätsstabilisierende Geschlossenheit einer beheimatenden, kirchenfokussierten Lebenswelt sekundär zu rekonstruieren und damit die genannten desintegrierenden Phänomene der Moderne zu neutralisieren. Kennzeichen dieses auch als ‚Subgesellschaft’ firmierenden Milieus war einmal eine gemeinschaftsstiftende Subkultur, deren geistige Dimension von einer verhaltensleitenden Weltanschauung, Wirklichkeitskonstruktion, Normenhierarchie und Religiosität gebildet wurde, deren materielle Dimension in religiösen Symbolen, Devotionalien und Sakralstätten bestand und deren Handlungsdimension von spezifischen Bräuchen, Festen, Zeremonien, Kulten und Riten konstituiert wurde, welche mit ihrer religiösen Durchformung des Alltags, des Jahresrhythmus und des Lebenslaufs die affektive Milieubindung festigten37. ← 16 | 17 → Das zweite Charakteristikum des katholischen Milieus war seine verklammernde Substruktur, welche sich wiederum zusammensetzte aus dem im Prinzip überkommenen, aber reorganisierten und revitalisierten Struktursegment Amtskirche und Ordenswesen sowie aus den neu hinzugekommenen Strukturkomponenten konfessionelle Vereine, Verbände, Parteien und Presseorgane, also dem gerade im 19. Jahrhundert für die Kommunikation und Interessenvertretung so wichtigen Assoziationswesen. Die innerkirchliche Durchsetzung des Ultramontanismus mit seinem Abschottungs- und Defensivhabitus bildete die Voraussetzung und eine Antriebskraft für die Entstehung des ebenfalls von Abgrenzung und Verteidigung gekennzeichneten katholischen Milieus, wenngleich umgekehrt der Ultramontanismus nicht notwendigerweise an die Existenz einer von der übrigen Gesellschaft separierten Subgesellschaft mit einem dichten Netzwerk von Organisationen gebunden war, sodass das Vorhandensein eines Milieus kein unverzichtbares Wesensmerkmal des Ultramontanismus darstellt.

Details

Seiten
X, 755
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055368
ISBN (ePUB)
9783653967029
ISBN (MOBI)
9783653967012
ISBN (Hardcover)
9783631663035
DOI
10.3726/978-3-653-05536-8
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prozessionswesen Volksfrömmigkeitsreform Spätaufklärung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. IX, 755 S.

Biographische Angaben

Volker Speth (Autor:in)

Volker Speth ist Bibliothekar und promovierter Historiker.

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Titel: Katholische Aufklärung und Ultramontanismus, Religionspolizey und Kultfreiheit, Volkseigensinn und Volksfrömmigkeitsformierung
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