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Rettung vor Bodenlosigkeit

Neues Anfangsdenken und kosmologische Metaphern bei Locke, Leibniz, Kant, Fichte, Novalis und Jean Paul

von Monika Tokarzewska (Autor:in)
©2015 Monographie 315 Seiten

Zusammenfassung

Monika Tokarzewska zeigt, wie Locke, Leibniz, Kant, Fichte, Novalis und Jean Paul Motive aus der nachkopernikanischen und newtonschen Astronomie in Schlüsselmetaphern verwandeln und mit ihrer Hilfe die Möglichkeiten eines neuen Grundlagendenkens und -handelns im Angesicht der Verwissenschaftlichung des Weltbildes an der Schwelle zur Moderne austaxieren. Die Autorin beschreibt auch die starken Veränderungen, denen das Metaphernnetz unterlag. So fand es im 20. und 21. Jahrhundert einen späten Niederschlag in den Überlegungen von Hannah Arendt und Bruno Latour.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Grundlagenkrise, Aufbrüche ins Neue und das kosmologische Metaphernfeld. Voraussetzungen und Ziele der Studie
  • Die wissenschaftliche Revolution, die Metaphern und das Ringen des Geistes um eine Wiedergewinnung des Weltbezugs
  • Metapher und Metaphernfeld
  • Kosmologie und Astronomie als wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund des neuen Anfangsdenkens
  • Aufbau und Gliederung der Studie
  • Bodenlosigkeit und Anfangsdenken. Von Weltschildkröten, archimedischen Punkten und Gravitationskräften: Locke, Leibniz und andere in Konfrontation mit dem neuen Weltbild
  • Worauf stützt sich das ganze Weltgebäude? Ein Bild aus der indischen Kosmologie als Metapher für den ungewissen Grund
  • Der archimedische Punkt als moderne Anfangsmetapher im kosmologischen Metaphernfeld
  • Die Geburt der Freiheit aus dem Geiste der „Newtonischen Anziehung“ bei Kant
  • Abheben wider die ganze Natur: die Freiheit als der einzig mögliche archimedische Punkt
  • Zwei Vorreden und ihre Metaphern; die Frage der kopernikanischen „Umänderung der Denkart”
  • Kosmologische Analogien in der Vorrede von 1787: Perspektivenwechsel, leerer Raum und die Kraft der newtonschen Anziehung
  • „Platz verschaffen“: leerer Raum als tertium comparationis zwischen Astronomie und Moral
  • Die Vorgeschichte des kantschen Gravitations-Gleichnisses in den „Träumen eines Geistersehers”
  • Von der Anziehungskraft als Anfangskraft hin zum moralischen Reich: die Anziehung als heuristische Metapher für die Möglichkeit der Gesellschaft
  • Ein moralisches Reich „an nichts geknüpft, durch nichts gestützt”
  • Forschung zum Problem der Gravitationskraft als Metapher bei Kant
  • Die Funktion der Gravitationsmetapher bei Kant: die Gesellschaft vor naturwissenschaftlicher Repräsentation in Schutz nehmen
  • Fichtes Suche nach absolutem Grundsatz und der Kampf der Bildfelder: Architektur- versus Gravitationsmetaphern
  • „Die Wissenschaft sei ein Gebäude…”
  • Die Suche nach absolutem Fundament
  • Die Erde als Brückenbild zwischen Architektur und Kosmologie
  • Die Hypothese und der archimedische Punkt: ,newtonsche' Metaphorik bei Fichte
  • Probleme der Forschung mit Fichtes Gravitationspoetik
  • Ob man aus der Anziehungskraft die Materie ableiten könne, oder: Das kosmologische Metaphernfeld im intellektuellen Denkkollektiv nach Kant und Fichte
  • „.. .so sei uns die Vernunft oder das lichte Ich keine selbstschaffende ziehende Sonne“: Jean Pauls Sehnsucht nach dem Vorkopernikanismus
  • Friedrich von Hardenbergs „moralische Astronomie”
  • Novalis und das kosmologische Metaphernfeld der, kopernikanischen Revolution
  • „Moralische Astronomie”
  • Das kopernikanische Modell verstehen, oder: Von Dingen, die beim Erklären vorausgesetzt werden müssen
  • Was die Optik uns von der verkehrten Welt lehrt
  • Die moralische Seite des Weltalls bleibt zu entdecken
  • Sich von der Stelle reißen: Symphilosophieren als gemeinsamer Zug der Sonne folgend
  • „Hemsterhuis-Studien” und die historischen Bahnen des menschlichen Geistes
  • Das Anfangen: der archimedische Punkt eines Romantikers
  • „...dass die Erde schwebe“: eine romantische Schlüsselerfahrung
  • Alle Theorie ist Astronomie
  • Ausblick: der archimedische Punkt als Schlüssel zur Moderne bei Hannah Arendt und Bruno Latour
  • Literaturverzeichnis

← 8 | 9 → Grundlagenkrise, Aufbrüche ins Neue und das kosmologische Metaphernfeld. Voraussetzungen und Ziele der Studie

Die wissenschaftliche Revolution, die Metaphern und das Ringen des Geistes um eine Wiedergewinnung des Weltbezugs

Das kosmologische Metaphernfeld1 spielte im 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert eine besondere Rolle. Es war aus der langen Wirkung der ,koper- nikanischen Revolution entstanden, aber es ist bisher als ein in sich zusam-menhängendes Netz von Metaphern noch nicht umfassend untersucht worden, obwohl es sich hier um einen wichtigen Bestandteil kollektiver Einbildungskraft bzw. figurativen Wissens einer geschichtlichen Diskursformation handelt.

Ich werde zeigen, wie die miteinander zusammenhängenden kosmologischen Bilder unter Wissenschaftlern, Wissenschaftsvermittlern, Philosophen und Dichtern kursierten. So bildet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Erforschung von Figuren des Wissens.2 Sie setzt - wie es dieser Forschung eigen ist - eine Verknüpfung von Wissen, Philosophie und Literatur voraus, womit sie sich somit gegen die ältere Tradition, im Sinne von streng voneinander abgeschotteten ,zwei Kulturen richtet,3 nach der „das Wissen der wahren Wissenschaft von ← 9 | 10 → dem abzusetzen [ist], worin es sich darstellt“.4 An einer Reihe von prägnanten Beispielen wird dargelegt, wie einige kosmologische Metaphern infolge der Fortschritte der Astronomie Bestandteil der kollektiven Einbildungskraft der Gelehrten und Dichter des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts wurden. Sie funktionierten als Denkfiguren5 eines neuen Grundlagendiskurses bei der Suche nach Gewissheit in einer sich dynamisch verändernden Welt. Denker und Dichter übernahmen diese Metaphern, um mit ihrer Hilfe eine Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu finden, neue Denk- und Sichtweisen zu entwickeln.

Der Schwerpunkt wird auf deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts, insbesondere der zweiten Hälfte, liegen. Der intellektuelle und dichterische Diskurs stand damals unter dem Zeichen der ,kopernikanischen Revolution: so heißt die Metapher, unter der Immanuel Kants neue Denkart in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Diese Denkart war eine kritische; es hieß, das Subjekt samt seinen Erkenntniskategorien und seinem Urteilsvermögen als Bezugspunkt für alles andere zu betrachten. Die meisten Denker und Dichter befanden sich im Banne dieser kritischen Wende.

Die vorliegende Studie vermeidet bewusst ein Denken in den Begriffen der üblichen literaturhistorischen Periodisierung. So unterscheide ich nicht zwi-schen Schriftstellern der Aufklärung und der Romantik und interpretiere die Texte nicht vor dem Hintergrund einer bestimmten ästhetischen oder weltanschaulichen Strömung, denn die Codes der kollektiven Einbildungskraft halten sich nicht daran, sie durchqueren derartige Grenzen, zumal diese oft apodiktisch gezogen sind. Von solchen Begriffen mache ich nur gelegentlich Gebrauch, wie z. B. bei der Erwähnung der romantischen Naturphilosophie als Kontext für die Fragmente von Novalis. Eine wichtige Rolle wird dagegen die wissenschaftliche Revolution in meiner Arbeit spielen. Die ,Moderne‘ bzw. ,Neuzeit‘6 ← 10 | 11 → beginnt nicht zuletzt mit der so genannten ,wissenschaftlichen Revolution‘: der Geburt und dem erstaunlichen Fortschritt der Naturwissenschaften und der ihre Ergebnisse umsetzenden Ingenieurwissenschaften. Sie zog eine zwar zu Beginn langwierige, dann aber immer schneller werdende Veränderung des Weltbildes des Menschen und seiner Umwelt nach sich, sie sollte Denkweisen und Diskurse tiefgreifend beeinflussen.

Der Begriff wissenschaftliche Revolution“ wird für die Entwicklung der Wissenschaften, vor allem der experimentellen und mathematisierten Naturwissenschaften und für die in deren Folge eingetretenen grundlegenden Veränderungen im Weltbild der Frühen Neuzeit verwendet. Auf die intensive Diskussion kann hier jedoch nicht im Einzelnen eingegangen werden. Die Zeitspanne, die der Begriff umfasst, beginnt im 16. Jahrhundert und dauert bis in das 18. hinein, wobei die Blütezeit in das 17. Jahrhundert fällt. Besonders gravierend war die Veränderung des Universumsbildes, was weltanschaulich folgenreich sein sollte. Sah man das Universum am Anfang des 16. Jahrhunderts noch als geschlossen, sphärisch und geozentrisch, haben wir es am Ende des 17. Jahrhunderts mit einem unendlichen Universum zu tun, in dem es viele Sonnensysteme gibt und die von den Menschen bewohnte Erde sich in einem unbestimmten Punkt dieses Universums, als Teil eines heliozentrischen Systems, befindet.7 Die eigentliche ← 11 | 12 → Bedeutung dieser ,Revolution‘ scheint allerdings, wie die jüngste Forschung zeigt, vor allem auf einer Verschiebung der Akzente von der Theologie auf die Physik zu beruhen. Die Vorstellung von einer Unendlichkeit des Universums sowie von der Winzigkeit der Erde im Verhältnis zu ihm war zahlreichen antiken und mittelalterlichen Autoren nicht fremd; sie basierte allerdings nicht auf der Idee eines gleichförmigen, mathematisch erfassbaren Raumes, sondern ergab sich aus einem engen Ineinandergreifen von Kosmologie und Theologie.8 Als Beispiel sei die kosmologische Definition Gottes von Nicolaus Cusanus genannt:

← 12 | 13 → Darum verhält sich der Weltbau so, als hätte er überall seinen Mittelpunkt und nirgends seinen Umkreis, da sein Umkreis und sein Mittelpunkt Gott ist, der überall und nirgends ist.9

Die Universumsvorstellung war keine rein physikalische, die Grenze zwischen Gott und der Schöpfung war nicht unbedingt unüberbrückbar. Sie schloss die Frage nach dem Ort, an dem sich Gott und die Seligen befinden selbstverständlich mit ein. Nicht immer wurde das Universum mit Gott dermaßen identifiziert, wie dem Zitat von Cusanus zu entnehmen ist; verbreitet war vielmehr die Vorstellung vom empyreum, d.h. dem Feuerhimmel (Jean Paul wird diese Vorstellung aufgreifen) als deren Sitz am weitesten Rand des Seins. Das Weltbild wiederum, das aus der wissenschaftlichen Revolution entstand, kennt keine theologisch-kosmologische, sondern eine mathematisch-physikalische Unendlichkeit des Alls. Die Chance, Außerirdische auf anderen Planeten anzutreffen, schien nahezu gewiss zu sein; Gott und die Engel verschwinden demgegenüber gänzlich vom Horizont des Seienden. Die im All waltenden Naturkräfte wie die Gravitation erweitern sich ins Unendliche, aber man ist sich sicher, dass der transzendente Gott nirgendwo anzutreffen ist, selbst wenn es möglich wäre, eine unendlich weite Reise zu unternehmen.

Da der Gegenstand meiner Interpretation ein kosmologisches Bildfeld ist, steht die Entwicklung der Astronomie im Zentrum meines Interesses, insbesondere die heliozentrische Wende des Kopernikus und deren Folgen sowie die Evolution des Universumsbildes von einem geschlossenen zu einem unendlichen. Zu Beginn des 18. sieht dieses Bild anders aus als noch zur Zeit des Kopernikus. Dessen neue Sicht zog eine ebenso tiefgreifende Transformation des abendländischen Grundlagendiskurses nach sich. Unter, Grundlagendiskurs‘ verstehe ich - wie ich im ersten Kapitel darlegen werde - die von einer geschichtlichen Diskursformation verstandene Ordnung der Dinge‘;10 einen Diskurs, der den, Zeitgeist‘ ausdrückend, auf die Frage nach den Fundamenten der Welt antwortet. Ist es das Subjekt, das dieses Fundament bildet und uns die Gewissheit gibt, ← 13 | 14 → dass wir mit unserem Leben und Erkennen nicht in der Luft hängen? Ist es Gott, die Substanz, die Materie, oder noch etwas anderes? Vielleicht etwas gar Unbe- nennbares? „Womit macht man denn wohl den Anfang?“, fragte Novalis.11 Lange Zeit war es die Metaphysik, die sich mit der Frage nach der Ordnung der Dinge, den Fundamenten, den Ursprüngen beschäftigte und sich selbst in der Rolle der Grundlagenwissenschaft für alle anderen Disziplinen begriff. Doch sie hatte - was im 18. Jahrhundert immer klarer wurde - ausgedient. Der Grundlagen-diskurs oder -diskurse einer Zeit formieren andere, partikulärere Diskurse und Vorstellungen mit, auch die literarischen. Die These meiner Studie lautet: es gibt eine enge Verbindung zwischen den Veränderungen des Universumsbildes nach Kopernikus und dem neuen Grundlagendenken, das sich vor allem im Banne des so genannten, deutschen Idealismus‘ entfaltete. Die Brücke zwischen beiden bleibt das Metaphernfeld, das im Zentrum meiner Arbeit steht.

In den letzten Jahrzehnten, verstärkt seit der 1990er Jahren, haben sich die Kulturwissenschaften, darunter auch die Literaturwissenschaft, der Erforschung von Wissenskulturen und Wissenstransfer erfolgreich angenommen. Die Germanistik hat auf diesem Gebiet Interessantes vorzulegen, darunter Studien, die sich mit der Rezeption der astronomischen Forschung in der Literatur seit der Aufklärung beschäftigen. Diese Forschung situiert sich im Rahmen der Untersuchung von Literatur als Wissensform.12 Zumeist geht es dabei um die Aufnahme und Verarbeitung verschiedener astronomischer Motive und Entdeckungen: so erfreute sich das Motiv des Kometen einer großen Popularität, entsprechend der Bedeutung, die die Kometenforschung im 18. Jahrhundert innehatte. Die Rolle der Astronomie für die Entstehung und Transformation literarischer Ausdrucksformen wird dagegen seltener behandelt.13

← 14 | 15 → Forschung dieser Art stellt einen „Schritt von der Geschichte der Natur-wissenschaften zur Bewußtseinsgeschichte“ dar,14 aber auch eine Rückbindung der Bewusstseins- bzw. Kulturgeschichte an die, materielleren“ Aktivitäten der Menschen. Eine solche, Materialisierung“ und Empirisierung der Bewusstseinsgeschichte liegt mir sehr nahe. Ich möchte hier eine enge Verschränkung von kosmologisch-astronomischen mit philosophisch-dichterischem Denken aufzeigen. Die rein geistesgeschichtliche Perspektive ist, trotz der Erfolge der Wissensgeschichte, immer noch zu wirkungsmächtig.

Das heliozentrische kopernikanische Modell des Universums brauchte lange Zeit, bis es sich allgemein und endgültig durchsetzte. Was als eine Umkehr des ptolemäischen Modells begann, evolvierte bis zu Newtons unendlichem Universum ohne einen privilegierten Mittelpunkt, dafür mit einem mathematisch erfassbaren Raum, in dem - in der Leere - Naturkräfte wirken. Parallel zu diesem Wandel des Weltbilds erzielte die neue Technologie immer mehr Erfolge. Es wurden neue Instrumente und Werkzeuge wie Teleskope und Mikroskope hergestellt, die das Universum in unerwarteten Dimensionen im Großen wie im Kleinen darboten. Das alles verlangte nach neuen Architektoniken des Denkens und des Wissens. Wenn man über keine feste Grundlage mehr verfügt, muss man von neuem beginnen, einen Anfang, machen‘, wie es Novalis ausdrückte: sei es denn in der Luft, in der Schwebe. Meines Erachtens ist das, was in der Kulturgeschichte unter dem Namen, deutscher Idealismus“ figuriert, wie auch dessen breites literarisches Umfeld aus einer solchen Sicht geboren worden. Wie soll man unsere Erkenntnis neu fundieren und unserem Handeln eine Chance für Gewissheit geben? Der Kern dessen, was man deutschen Idealismus nennt, ist nicht bloß ein geistiger bzw. intellektueller. Er war die Antwort auf die große Herausforderung der Zeit. Das neue Anfangsdenken an der Schwelle der Moderne ist weniger als Ideengeschichte zu fassen, denn als Suche nach Wiedergewinnung des Bezugs zum Ganzen: zum Kosmos und zur Stellung des Menschen in ihm. Der Verlust eines solchen Bezugs hätte vielleicht einen langsamen Tod der Philosophie bedeutet; für die Literatur wäre es wohl günstiger ausgefallen, da sie ein Werk produktiver Einbildungskraft ist; aber auch für sie wäre der ← 15 | 16 → Verlust eines, großen Rahmens‘ eine Verarmung gewesen.15 Dieses Ringen um neue Rückbindung spiegelt sich in den Texten und in den Biographien vieler Autoren der Zeit. Der junge Kant hat sich - wie man weiß - mit der Theorie und der Geschichte des Himmels beschäftigt und dessen Philosophie wäre ohne die Newtonbegeisterung nicht denkbar; Schriftsteller wie Novalis, Friedrich Schlegel, Hölderlin, Jean Paul, um nur einige Beispiele zu nennen, studierten die neuen Philosophen und interessierten sich auch für die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen.16

In der Erforschung solcher Verschränkungen spielen gerade die Metaphern eine wesentliche Rolle, worauf die Herausgeber einer jüngst erschienen Anthologie zu „Literatur und Wissen“ verweisen:

Als, Transfervehikel‘ von Bedeutungen über verschiedene Wissensfelder und -kulturen hinweg, können Metaphern konstitutiv für die Entstehung neuer Diskursformationen sein und als eine Art, Scharnier‘ zwischen Diskursen fungieren […]. Prominente Beispiele hierfür sind evolutionstheoretische Metaphern in der viktorianischen Literatur, die (chemische) Metapher der ‘Wahlverwandtschaft’ bei Goethe oder die Zirkulation des Automatenmotivs zwischen Literatur und Wissenschaft […]. Die heuristische Funktion der Metapher liegt darin begründet, dass sie, oft aufgrund ihres anschaulichen Gehalts, neue Phänomene erschließen und neue Modellbildungen vorantreiben kann.17

Die Nabelschnur zwischen dem astronomischen und dem literarisch-philosophischen Diskurs ist selbst literarischer Art, denn sie besteht aus Metaphern. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es zu keiner Begriffsbildung gekommen war, aber wesentliche Momente im Denken der hier behandelten ← 16 | 17 → Autoren bleiben ohne eine philologisch-ästhetische Lektüre unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte unverständlich. Diese wesentlichen Momente sind Denkfiguren: nicht reine Begriffe, sondern Chiffren von mentalen Operationen, bildhaft ausgedrückte Forderungen nach Veränderung der Perspektive, nach einer Wende im eigenen Denken und Wahrnehmen. Solches innere Handeln lässt sich mit Begriffen allein nicht vermitteln. Metaphern eignen sich dazu besser, da sie sich schneller einprägen und auch schneller zwischen Texten und Autoren kursieren. Auseinandersetzungen mit Neuem verlangen nach einer neuen Sprache, und es sind zumeist Bilder, die in der Situation des Ungleichgewichts zwischen neuer Erfahrung und Ringen nach Ausdruck rascher zu Hilfe stehen als Begriffe. Es müssen nicht notwendig originelle individualisierte Metaphern sein - von solchen ist hier selten die Rede, denn eine Kommunikationsgemeinschaft kommt viel eher zustande, wenn sie sich to- poisierter Bilder bedient. Eine Konstellation von solchen Bildern, die miteinander im Zusammenhang stehen, bezeichne ich als Bildfeld bzw. Metaphernfeld.

Metapher und Metaphernfeld

Begriff und Topographie des nachkopernikanischen kosmologischen Metaphernfeldes

Im kosmologischen Metaphernfeld, das ich an einer Reihe von Beispielen un-tersuche, spielen vier Metaphern eine Schlüsselrolle. Paradoxerweise sind einige von ihnen schwer bis kaum ästhetisch repräsentierbar. Das betrifft: vor allem die Gravitationskraft und deren unbekannte Ursache. Sie wird - wie ich zeigen werde - regelmäßig als Metapher verwendet, lässt sich aber als unsichtbare Kraft nicht bildhaft darstellen. Ähnlich steht es mit der - wie Kant es nannte - kopernikanischen „Umänderung der Denkart“.18 Sie steht für eine grundlegende Veränderung der Perspektive und für die Befreiung vom Gewohnten. Eine weitere Metapher ist die des, archimedischen Punktes“, die ihren Ursprung in der aus der Antike überlieferten Anekdote über Archimedes nimmt (der Gelehrte soll versprochen haben, mit Hilfe von einem langen Hebel und einem Punkt außerhalb der Erde die Erdkugel von der Stelle zu bewegen). Der, archimedische Punkt“ diente als Topos, um die Suche nach einem Anfang bzw. nach einer ← 17 | 18 → neuen festen Grundlage zum Ausdruck zu bringen. Das Bild entsprach dem Heroismus des Subjekts, das die Grundlage für die Welt nicht mehr in der Transzendenz, sondern in sich selbst sucht, oder es gar selbst aus dem Nichts hervorbringt, wie einst Gott alles aus dem Nichts erschuf. Die vierte Metapher, der ich besondere Aufmerksamkeit widme, leitet sich aus der Kultur Indiens her. Um darauf hinzuweisen, dass überlieferte Grundlagenkonzepte sich überlebt haben, griffen mehrere Autoren erstaunlich oft nach dem Bild von der flachen Erde, welche sich auf dem Rücken mythologischer göttlicher Tiere, meistens Elefanten und Schildkröten, stützt. Dieses Bild stellt den Gegenpol zu der Gravitationskraft dar.

Diese vier Schlüsselmetaphern als Teile eines Netzes organisieren meine Lektüre; je nach Autor und Kontext werden andere dazugehörende Bilder interpretiert, die dem Feld angeschlossen werden, um für den jeweiligen Autor wichtige Aspekte zum Ausdruck zu bringen.

Ich interpretiere bewusst sowohl philosophische als auch literarische und populärwissenschaftliche Texte, ohne zwischen strikt literarischem, philoso-phischem und wissenschaftlichem bzw. populärwissenschaftlichem Diskurs zu unterscheiden. Im Sinne des 18. Jahrhunderts betrachte ich all diese Textsorten als, Schrifttum‘ der Zeit.19 Nur auf diese Weise kann das grenz- und diszipli- nenübergreifende Kursieren von Metaphern offengelegt werden. Es ist eine auf die Rekonstruktion des kosmologischen Metaphernfeldes gerichtete Lektüre, bei der das Element des genuin Literarischen an allen behandelten Texten hervorgehoben wird.

Eine breite Definition der Metapher: Bild und Analogie

Die Metaphernforschung ist breit gefächert, sie bildet ein eigenes Forschungsgebiet seit den Poetiken der Antike. Gemeinsam ist dieser Forschung der Rekurs auf Aristoteles, gleichzeitig ist die Vielfalt der gegenwärtigen Metapherntheorien atemberaubend. Es gibt wohl keine bedeutende linguistische, literaturwissenschaftliche oder kulturtheoretische Theorie, die sich nicht auch auf die Metaphernforschung ausgewirkt hätte.20 Eine ausgebaute Metapherndefinition zu ← 18 | 19 → bieten, wäre deshalb ein Unternehmen, das den Rahmen meiner Studie sprengen würde. Eine solche Untersuchung würde auch von dem eigentlichen Ziel meiner Arbeit wegführen: der Rekonstruktion des kosmologischen Metaphernfeldes als Gebiets des Ringens um ein neues Anfangs- und Grundlagendenken. Aus diesen Gründen verzichte ich auf eine enge Definition der Metapher, und darauf, die Bilder, die ich beschreibe, jeweils nach theoretischen Kriterien zu klassifizieren. Meine Studie verstehe ich historisch, ich beschränke mich hierbei auf den geringsten gemeinsamen Nenner der Metapherntheorien: das Phänomen der Übertragung.21 Aus pragmatischen und arbeitsökonomischen Gründen schließe ich mich der Lösung von Harald Weinrich an. Zu Beginn seines Essays „Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld“ schreibt er: „Ich verwende […] den Begriff Metapher, dem Sprachgebrauch der modernen Metaphernforschung folgend, in seiner weitesten Bedeutung für alle Formen des sprachlichen Bildes.“22 Auch Ralph Konersmann, der Herausgeber des „Wörterbuchs der philosophischen Metaphern“ geht davon aus, dass die Metapher immer ein sprachliches Bild ist.23 Bei Grenzfällen wie die bereits erwähnte, sich der Repräsentation verweigernde Gravitationskraft, ist - wie ich zu zeigen beabsichtige - die Dialektik der Darstellbarkeit und Nicht-Darstellbarkeit von zentraler Bedeutung, sodass der Bezug auf das Bild im Spiel bleibt. Deshalb verwende ich die Begriffe, Metapher‘ und, Bild‘ oder manchmal aus stilistischen Gründen, Motiv‘ weitgehend synonym. Ab und zu spreche ich auch von einer, Anekdote‘, nämlich dort, ← 19 | 20 → wo das Bild zu einer Mini-Geschichte erweitert wird. Dann ist die, Anekdote“ als Ganzes Teil der Metapher. Die Entscheidung, mit einer pragmatisch motivierten, breiten Metapherndefinition zu arbeiten, bedeutet jedoch nicht, dass mir einige theoretische Entwürfe aus dem breit gefächerten Spektrum der gegenwärtigen Metaphernforschung nicht näher sind als andere. Den hier bereits mehrmals verwendeten Begriff des, Bildfeldes“ (bzw., Metaphernfeldes“) entlehne ich der - entsprechend der Klassifikation Eckard Rolfs - Feldtheorie der Metapher, deren Hauptvertreter Eugenio Coseriu, Harald Weinrich und Nelson Goodman sind.24

Die Feldtheorie geht von der Annahme aus, „Metaphern hätten etwas mit Wortfeldern zu tun.“25 Weinrich spricht, wie Eckard Rolf zutreffend unterstreicht, im Unterschied von anderen Linguisten nicht eigentlich von Wort-, sondern von Bildfeldern.26 Damit schlägt er eine Brücke von einer rein linguistisch verfassten Perspektive zu einer sprachorientierten Kultursicht. Die Metapher ist ihm zufolge selten ein vereinsamtes Bild; meistens - und es betrifft gerade die für die Kultur einer Epoche oder eines Raumes bedeutungsträchtigen Metaphern - handelt es sich um ein Netz und um eine kollektive Erfahrung. Von dieser am Kollektiven orientierten Perspektive sind wir durch die Literatur der klassischen Moderne, vor allem durch die, kühnen“ Metaphern eines Paul Celan oder der Surrealisten, entwöhnt worden. Den, kühnen“ Metaphern ist die Abkehr von der Analogie gemeinsam. „Es ist schon mehrfach beobachtet worden, dass die neuere Lyrik auf die Metapher die gleichen Erwartungen richtet und daher auch die gleichen Kühnheiten wagt. Hugo Friedrich schreibt: „Die moderne Metapher aber verflüchtigt oder vernichtet die Analogie, spricht nicht ein Zueinandergehören aus, sondern zwingt das Auseinanderstrebende zusammen.“27

Ich situiere mich in der Tradition, die in der Metapher die Denkoperation ei-ner Analogie erblickt.28 Diese Entscheidung ist nicht dadurch motiviert, dass ich dies für die beste Definition der Metapher als solcher ansähe, sondern aus historischen Gründen, um dem mir vorliegenden Material gerecht zu werden. Das kosmologische Metaphernfeld, das ich behandle, stiftet Analogien zwischen den Naturwissenschaften und dem Grundlagen- und Anfangsdiskurs, deshalb sind hier, was die Bilder betrifft, nicht Originalität oder Kühnheit wichtig, sondern ← 20 | 21 → die Errichtung einer Brücke zu dem naturwissenschaftlichen Ufer, das sich zu entfernen droht. Das (im Grunde genommen noch aristotelische) Verständnis der Metapher als eines auf einer (manchmal gerade neu gestifteten) Analogie beruhenden Phänomens, entspricht auch dem vorherrschenden Metaphernverständnis des 18. Jahrhunderts29.

Aus verständlichen Gründen sind für mich Theorien, die die Rolle der Metaphern beim Benennen abstrakterer, nicht sinnlicher Erfahrungen thematisieren, wichtig. Die Anfänge solcher Konzeptualisierungstheorien der Metapher sind mit den Namen George Lakoff und Mark Johnson verbunden.30 Und last but not least fühle ich mich solchen Ansätzen verpflichtet, die Metapherngeschichte als ihr Anliegen betrachten: ich denke hier vor allem an Hans Blumenbergs Metaphorolo- gie und Jürgen Links Untersuchungen zur Kollektivsymbolik. Die Rolle, die diese Inspirationen in meiner Untersuchung spielen, sei im Folgenden etwas präzisiert.

Harald Weinrich: „Das Abendland ist eine Bildfeldgemeinschaft“31

Harald Weinrich sprach sich in dem aus den 1970er Jahren stammenden Essay „Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld“ gegen die übliche Betrachtung der Metapher als vereinzeltes Phänomen aus. Den Begriff des, ← 21 | 22 → Bildfeldes“ entwickelt er am Beispiel von, Wortmünze‘. Im Fokus steht nicht eine Metapher, die als besser oder weniger gelungen gilt und die man aus dem Kontext des Textes oder des Schaffens eines Autors entschlüsseln kann, sondern - wie Weinrich behauptet - „eine überindividuelle Bildwelt als objektiven, materialen Metaphernbesitz einer Gemeinschaft“.32 Dieses bedeutet, dass „[…] der Einzelne […] immer schon in einer metaphorischen Tradition [steht], die ihm teils durch die Muttersprache, teils durch die Literatur vermittelt wird und ihm als sprachlich-l iterarisches Weltbild gegenwärtig ist.“33 Aber Weinrich grenzt sich auch von Studien ab, in denen - etwa im Sinne von Robert Curtius - die Tradition von bestimmten Bildern in der europäischen Kultur untersucht wird. Dort fasse man „die Metapher […] als Klischee, Ausdruckskonstante, Topos auf und verfolgt ihre Geschichte durch die europäische Literatur und das lateinische Mittelalter hindurch bis in die Antike.“34 Die Kritik Weinrichs zielt u.a. darauf, dass solche Studien stark diachronisch angelegt sind. „Die diachronische Metaphorik kann nur zeigen“, schreibt Weinrich, „dass sich die >>Steuerklassen- metapher<< (Curtius) [d. h. das Bild des classicus scriptor - M.T.] seit Gellius findet und sich in der uns geläufigen literarischen Kategorie des Klassikers kontinuierlich fortsetzt“. „Daß diese Metapher eine so unerhörte Karriere gemacht hat“ sei dem „Walten des Zufalls in der Geschichte unserer literarischen Terminologie“ zu verdanken. Das sei aber falsch, meint Weinrich, es handle sich um keinen Zufall, denn „diese Metapher ist nicht isoliert. Sie steht seit ihrer Geburt in einem festgefügten Bildfeld.“35

Der Aufstieg, das Leben und das Verschwinden von Metaphern hängen nach Weinrich mit dem Schicksal ihrer Felder zusammen. Das Bildfeld ist zwar auch diachronisch zu verfolgen, aber am besten zeige es sich bei einer synchronischen Untersuchung. Der Empfänger ist auf gewisse Aspekte der neuen Metapher, die er etwa in einem Gedicht sieht, bereits vorbereitet, weil die Bildfelder in der Umgangssprache verankert und zum Teil stark konventionalisiert sind; zugleicht haben wir es aufgrund der bestehenden Bildfelder mit neuen Schöpfungen zu tun, zumeist in der Literatur, die diese Voreinstellungen aktivieren, transponieren und über das Vorgegebene hinausgehen.

Das Verhältnis zwischen Bildfeld und einer zu ihm gehörenden Metapher erfasst Weinrich mit Hilfe der Analogie zu de Saussures Unterschied zwischen langue undparole. Das Bildfeld entspricht der langue, und die mit ihr verbundene ← 22 | 23 → konkrete Metapher kann als Entsprechung von parole, dem Sprechakt gesehen werden. So wie ein vereinzeltes Wort ohne Sprache nicht möglich ist, so ist eine vereinzelte Metapher ohne Bildfeld eine sehr seltene Erscheinung. Die kollektiven Schöpfungen kommen viel öfter vor und sind wichtiger als man, von der Lektüre moderner Autoren ausgehend, annehmen könnte. Weinrich konstatiert: „Die beliebige, isolierte Metapher ist allezeit möglich. Aber sie ist seltener, als man denkt, und - was wichtiger ist - sie hat gewöhnlich keinen Erfolg bei der Sprachgemeinschaft. Die Sprachgemeinschaft will die integrierte Metapher […].“36 Deshalb beruhen die meisten schöpferischen Leistungen auf einer Arbeit innerhalb von bereits bestehenden Bildfeldern. Die wirklich schöpferische Leistung wäre, ein neues Bildfeld zu stiften und durchzusetzen: „Wirklich schöpferisch ist nur die Stiftung eines neuen Bildfeldes. Und das geschieht sehr selten. Zumeist füllen wir nur die freien Metaphernstellen aus, die mit dem bestehenden Bildfeld bereits potentiell gegeben sind.“37 Deshalb spricht Weinrich nicht von schöpferischer Originalität, sondern von Autorschaft.

Weinrich schreibt bezüglich seiner Bildfeld-Theorie vom, bildspendenden“ und, bildempfangendem“ Feld. Die metaphorische Übertragung findet vom, bildspendenden“ auf das, bildempfangende“ Feld statt - sie passiert als Stiftung einer Analogie zwischen den beiden Feldern. Weinrich führt als Beispiel das Bildfeld, Wortmünze“ an:

Im Maße, wie das Einzelwort in der Sprache keine isolierte Existenz hat, gehört auch die Einzelmetapher in den Zusammenhang ihres Bildfeldes. Sie ist eine Stelle im Bildfeld. In der Metapher Wortmünze ist nicht nur die Sache, Wort“ mit der Sache, Münze“ verbunden, sondern jeder Terminus bringt seine Nachbarn mit, das Wort den Sinnbezirk der Sprache, die Münze den Sinnbezirk des Finanzwesens. In der aktualen und scheinbar punktuellen Metapher vollzieht sich in Wirklichkeit die Koppelung zweier Sprachlicher Sinnbezirke. […] Insofern zwei Sinnbezirke Bestandteile eines Bildfeldes sind, benen-nen wir sie (mit Ausdrücken von Jost Trier) als bildspendendes und bildempfangendes Feld. In unseren Beispielen wird das bildempfangende Feld vom Sinnbezirk Sprache gebildet, das bildspendende Feld vom Sinnbezirk des Finanzwesens; das Bildfeld, das sich in der Koppelung der beiden Sinnbezirke konstituiert, wollen wir nach seiner Zentralmetapher, Wortmünze“ benennen.38

Damit das Bildfeld, Wortmünze“ produktiv wird, müssen zwei Sinnbereiche, die vorher völlig getrennt waren, aufeinander bezogen werden. Weinrich drückt es folgendermaßen aus: „Konstitutiv für die Bildfelder ist […], dass zwei ← 23 | 24 → Sinnbezirke durch einen geistigen, analogiestiftenden Akt zusammengekoppelt sind. Das Wortwesen und das Münzwesen bilden zwar jedes für sich bereits Sinnbezirke der Sprache, getrennt gehören sie aber noch nicht zur Metaphorik. Erst durch die Stiftung des Bildfeldes wird der eine Sinnbezirk zum bildspendenden Feld, der andere zum bildempfangenden Feld.“39 Aus dieser Einsicht in das Funktionieren der Bildfelder heraus kritisiert Weinrich das oft verbreitete Verfahren, das bildspendende und das bildempfangende Feld getrennt zu analysieren.

Bildfelder können auch zur Erzeugung einer Metapher einladen, wenn bestimmte Bilder, die Elemente des Netzes bildeten, verblassen. In solchen Fällen entsteht eine freie Stelle im Bildfeld, die neu besetzt werden kann. Bildfelder bestehen aus einer enorm großen, kollektiven und auch anonymen Kulturarbeit. Sie stellen Schnittstellen zwischen dem Kollektiven und dem Einzeln-Schöpferischen zur Verfügung. „Der Autor, der beispielsweise über Sprache schreibt, kann zwischen verschiedenen Bildfeldern wählen. Es gibt die Bildfelder Wortmünze, Sprachpflanze, Wortbaustein, Textgewebe, Redefluß und einige andere. Im ganzen aber eine überschaubare Zahl.“40 Es ist also von großer Be-deutung für die Kommunikation mit dem Leser, dass dieser die Bildfelder der Sprache gut beherrscht. Weinrichs Essay endet mit der Signalisierung einer sich von hier aus eröffnenden breiteren Perspektive. Die Bildfelder stiften das Weltbild einer Gemeinschaft oder eines Kulturkreises. Weinrich zufolge gäbe es „[…] eine Harmonie der Bildfelder zwischen den einzelnen abendländischen Sprachen. Das Abendland ist eine Bildfeldgemeinschaft.“41

George Lakoff und Mark Johnson: Metaphern strukturieren unsere Lebenswelt

George Lakoff und Mark Johnson operieren mit dem Begriff, conceptual meta- phor“ oder, kognitive Metapher“; sie schreiben sich in die Strömung ein, die im Erkennen nicht nur als einen bloß geistigen, sondern auch einen, verkörperten“ Akt sieht. Die natürliche Sprache sei per se metaphorisch und auch das Denken muss metaphorisch sein, weil es stets vergleichend verfährt.42 Metaphern ← 24 | 25 → konzeptualisieren und bauen unsere scheinbar rein abstrakten Begriffe mit auf. Lakoff und Johnson verweisen auf die Verankerung der Sprache im Alltagsleben: die alltägliche und elementare Erfahrung und Wahrnehmung bilden die Fun-damente der Sprache. Man könnte sagen, die Sprache ist die Struktur unserer Lebenswelt. Hier wird die Metapher „[…] nicht mehr vorrangig als ein sprachliches, sondern als ein primär mentales, kognitives Phänomen begriffen.“43 Die Überzeugung von der kollektiven Natur der vergleichenden Metaphernarbeit der Sprache erinnert an die Arbeit der Bildfelder bei Harald Weinrich, allerdings stellen Weinrichs Bildfelder oft komplizierte Strukturen dar, die sich auf Traditionen stützen und Transformationen durch Rhetorik, Poesie und andere modellierende Systeme unterliegen, während es Lakoff und Johnson um Elementares geht. Zum Beispiel die Erfahrung von Unten und Oben ist eine sehr produktive Analogiequelle, um von dem sehr Konkreten zum Abstrakteren übergehen zu können. Über solche elementaren Metaphernfelder schreiben Lakoff und Johnson wie folgt:

The prime candidates for concepts that are understood directly are the simple spatial concepts, such as uP. Our spatial concept uP arises out of our spatial experience. We have bodies and we stand erect. Almost every movement we make involves a motor program that either changes our up-down orientation, maintains it, presupposes it, or takes it into account in some way. Our constant physical activity in the world, even when we sleep, makes an up-down orientation not merely relevant to our physical activity but centrally relevant. The centrality of up-down orientation in our motor programs and everyday functioning might make one think that there could be no alternative to this orientational concept.44

Details

Seiten
315
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055269
ISBN (ePUB)
9783653967241
ISBN (MOBI)
9783653967234
ISBN (Hardcover)
9783631662922
DOI
10.3726/978-3-653-05526-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
astronomische Metapher kopernikanische Wende wissenschaftliche Revolution
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 315 S.

Biographische Angaben

Monika Tokarzewska (Autor:in)

Monika Tokarzewska studierte Germanistik und Polonistik an der Warschauer Universität und an der Universität Hamburg. Sie lehrt deutsche Literatur und Komparatistik an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń. Sie publiziert u. a. zu Georg Simmel, Walter Benjamin, der Frühromantik sowie den Wechselwirkungen zwischen Literatur, Soziologie und Philosophie.

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Titel: Rettung vor Bodenlosigkeit
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