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Eine «unbekannte» Sprache lesen «oder» Von der Entdeckung des Nissart durch Interkomprehension

von Stefanie Wagner (Autor:in)
©2015 Dissertation 360 Seiten

Zusammenfassung

Nissart – was ist das? Während Nizza bekannt ist, löst der Name des dort heimischen romanischen Idioms Erstaunen aus. Als Varietät des Okzitanischen hat es zwar ein reiches sprachliches Erbe, doch ist seine Existenz heute bedroht. Stefanie Wagner geht der Frage nach, wie sich ein Lerner dank seiner Kenntnisse in (mindestens) einer romanischen Sprache (L1 oder L2) dieses ihm unbekannte Idiom mit Hilfe interkomprehensiver Lern- und Lesestrategien erschließen kann. Hierbei beleuchtet sie sprachgeschichtliche Zusammenhänge innerhalb der Romania sowie den lerntheoretischen Hintergrund und präsentiert eine Studie zum Leseverständnis des Nissart mit internationalen Probanden. Entdecken Sie ein Stück Romania, das auch von Interkomprehensionsprogrammen bislang unberücksichtigt blieb.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1 Europäische Mehrsprachigkeit – eine Herausforderung
  • 1.1 Zur Sprachenpolitik der Europäischen Union
  • 1.1.1 Ideallösung Plansprache?
  • 1.1.2 Englisch: ideale Lingua Franca oder modernes „Pidgin Portuaire“?
  • 1.1.3 Multi- und Plurilinguismus
  • 1.2 Förderung von Regional- und Minderheitensprachen
  • 1.2.1 Spanien
  • 1.2.2 Italien
  • 1.2.3 Frankreich
  • 1.3 Das Nissart heute: Präsenz und Förderung
  • 1.3.1 Bildungswesen
  • 1.3.2 Gesellschaft
  • 1.3.3 Kultur und Medien
  • 1.4 Förderung individueller Mehrsprachigkeit
  • 1.4.1 Der soziale Kontext
  • 1.4.2 Zur Rolle der Schule
  • 1.4.3 Der ‚polyglotte Dialog‘ als (fernes) Ziel?
  • 1.5 Interkomprehension
  • 1.5.1 Fokus Leseverstehen
  • 1.5.2 Die Stadien der Interkomprehension
  • 1.5.2.1 Innerhalb einer Sprache
  • 1.5.2.2 Innerhalb einer Sprachfamilie
  • 1.5.2.2.1 Programme für Erwachsene/ Studierende
  • 1.5.2.2.2 Programme für Kinder/ Jugendliche
  • 1.5.2.2.3 Interkomprehension und Gesellschaft: Anspruch und Realität
  • 1.5.2.3 Über die Sprachfamilie hinaus
  • 1.5.3 Ausblick
  • 2 Lou Nissart in der Romania – gemeinsame und divergente Entwicklungen
  • 2.1 Vulgärlatein – Präzisierungen zu einem „malheureux terme“
  • 2.2 Soziolinguistische Grundlagen der Entstehung der romanischen Sprachen
  • 2.3 Latein im Zweitspracherwerb
  • 2.4 Substrate, Adstrate und Superstrate
  • 2.4.1 Substrate
  • 2.4.2 Adstrate
  • 2.4.2.1 Baskisch
  • 2.4.2.2 Griechisch
  • 2.4.3 Superstrate
  • 2.4.3.1 Germanisch
  • 2.4.3.2 Arabisch
  • 2.5 Quellen zum „sogenannten Vulgärlatein“
  • 2.6 Strukturelle Grundlagen des Sprachwandels
  • 2.6.1 Appendix Probi und Lautwandel
  • 2.6.1.1 Das Vokalsystem
  • 2.6.1.2 Die Appendix Probi
  • 2.6.1.3 Schwund von finalen Konsonanten
  • 2.6.1.4 Der prothetische Anlaut
  • 2.6.2 Lexikalische Veränderungen
  • 2.6.2.1 Generelle Charakteristika
  • 2.6.2.2 Das lateinische Kultursuperstrat
  • 2.6.3 Morphosyntaktische Veränderungen
  • 2.6.3.1 Nominalsystem
  • 2.6.3.2 Verbalsystem
  • 3 Lerntheoretischer Hintergrund
  • 3.1 Kognitives Lernen und Interlanguage Hypothese
  • 3.2 Das (multilinguale) mentale Lexikon
  • 3.2.1 Mentale Netzwerke – Speicherung und Zugriff
  • 3.2.2 Das konzeptuelle Netzwerk
  • 3.3 Sensibilisierung
  • 3.4 Verarbeitungsstadien des interkomprehensiven Spracherwerbs
  • 3.4.1 Transferbasen und Lernsteuerung
  • 3.4.1.1 Transferbasen aus der Muttersprache
  • 3.4.1.2 Transferbasen zwischen nahverwandten Sprachen
  • 3.5 Lernmethoden
  • 4 Interkomprehensives Lesen
  • 4.1 Lesestil und Motivation
  • 4.2 Verarbeitungsebenen beim Lesen
  • 4.2.1 Die graphophonische Ebene
  • 4.2.2 Die Worterkennung
  • 4.2.3 Die syntaktische Ebene
  • 4.3 Sprachliches Vorwissen
  • 4.3.1 Die lautliche Ebene
  • 4.3.2 Die morphologische Ebene
  • 4.3.3 Die lexikalische Ebene
  • 4.3.4 Die morphosyntaktische und die syntaktische Ebene
  • 4.3.4.1 Die Nominalphrase mit Artikel
  • 4.3.4.2 Die Steigerung
  • 4.3.4.3 Adverbien
  • 4.3.4.4 „Kasus“-Funktions-Markierungen
  • 4.3.4.5 Verbalendungen
  • 4.3.4.6 Parataxen und Hypotaxen
  • 4.3.4.7 Fragesätze
  • 4.3.4.8 Aspektdualität
  • 4.4 Die semantische Analyse
  • 4.5 Inferencing
  • 4.6 Leitfaden zum erschließenden Lesen
  • 5 Lou Nissart o Lo Niçard? Vom Entdecken eines „unbekannten“ romanischen parlers
  • 5.1 Kurzer Abriss der sprachexternen Entwicklung
  • 5.2 Wenn Graphie politisch wird
  • 5.3 Realität – Graphie – Interkomprehension. Quo vadis Nissart?
  • 5.4 „La fin dei counfin…Realità o pantai?” – Die Textgrundlage
  • 5.4.1 Zur Auswahl des Textes
  • 5.4.2 Interkomprehensive Lektüre und Textverständnis
  • 5.4.3 Grammatische Systematisierung aus der Textarbeit
  • 5.4.3.1 Phonetik und Graphematik
  • 5.4.3.2 Morphologie und Lexik
  • 5.4.3.3 Morphosyntax
  • 5.4.3.4 Syntax
  • 6 Capisses lou Nissart? – Studie zum spontanen interkomprehensiven Leseverständnis
  • 6.1 Probanden
  • 6.2 „Ein Europa mit mehreren Sprachen (als nur Englisch)“
  • 6.3 Von „non, pas vraiment“, über „teil, teils“ bis zu „abbastanza“ – zur Selbsteinschätzung der individuellen Mehrsprachigkeit
  • 6.4 Über die Sprache(n) von Nizza oder die Europäische Regional- und Minderheitensprachpolitik im Spiegel der Realität
  • 6.5 Testdesign unserer Studie zum spontanen interkomprehensiven Leseverständnis eines Textes in Nissart
  • 6.6 Forschungsfragen
  • 6.7 Eine „mezcla francés, italiano y castellano y catalán“ – das Nissart als interkomprehensive Lektüre – Herausforderung
  • 6.7.1 Von „Alpa“ bis „Var“ – zum Verständnis der Lexik
  • 6.7.1.1 Internationalismen und panromanische Lexeme
  • 6.7.1.2 Bezeichnungen aus Geographie und Geschichte
  • 6.7.1.3 escambi, échange, scambio, intercambio – die Tücken des Wortanfangs
  • 6.7.1.4 Maugrà tout…Zum Verständnis divergenter Lautstrukturen im Wortinnern und am Wortende
  • 6.7.1.5 Fantasmes, finzione oder doch pantalla? Opake Einheiten und ihre kontextuelle Erschließung
  • 6.7.1.6 Die Macht der Wortform – zur Faux amis Problematik beim interkomprehensiven Leseverständnis
  • 6.7.1.7 Deven toui esperà – Zum Verständnis von Funktionswörtern
  • 6.7.2 Zur Erschließbarkeit grammatischer Strukturen
  • 6.7.2.1 Die Nominalphrase mit Artikel
  • 6.7.2.2 Die Verbalphrase
  • 6.7.2.3 Syntaktische Strukturen
  • 6.7.3 Das inhaltliche Textverständnis
  • 6.8 Auswertung der Forschungsfragen
  • Fazit
  • Bibliographie
  • Anhang
  • Reihenübersicht

Einleitung

Se la terra è la nostra casa comune, l’intercomprensione tra le lingue della medesima famiglia può diventare l’entrata principale1.

Im Zuge der zunehmenden Globalisierung und weltweiten Vernetzung auf allen Ebenen des Lebens ist es für viele heute selbstverständlich geworden, dass die Welt letztendlich immer nur einen Klick entfernt ist. Der virtuelle Raum dient nicht länger nur der Informationsbeschaffung, sondern er stellt vor allem auch eine Kommunikationsplattform in einer sich rasant entwickelnden und stets verändernden realen Welt dar. Hierbei sind der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten kaum Grenzen gesetzt, was vor allem kleinen und kleinsten Idiomen ein Verbreitungspotential ermöglicht, an das aufgrund ihrer rechtlichen und sozialen Stellung noch vor wenigen Jahren nicht zu denken war. Eines dieser kleinen Idiome, das Nissart, wird uns durch diese Arbeit begleiten. Als einer der sieben regionalen Standards des Okzitanischen (Sumien 2006: 155) liegt sein Verbreitungsgebiet im südlichen Frankreich und es unterliegt somit sowohl den rechtlichen Bestimmungen dieses Landes als auch jenen der Europäischen Union. Letztere verfolgt eine Politik der Mehrsprachigkeit und setzt sich auch für die Förderung von Regional- und Minderheitensprachen ein, die von einem Teil der Bevölkerung in den EU-Mitgliedsstaaten traditionell gesprochen werden. Allerdings hat sie nur „eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, da die Sprachen- und Bildungspolitik in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Mitgliedsstaaten fällt“ (Europäische Kommission 2012: 2). In Kapitel 1 werden wir daher zunächst die Sprachenpolitik der Europäischen Union beleuchten, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Förderung von Regional- und Minderheitensprachen liegen wird. Zudem werden wir einen Blick auf die Umsetzung dieser Politik in Frankreich, Italien und Spanien werfen, d.h. in den drei Ländern, in denen das Okzitanische verbreitet ist, und herausarbeiten, was dies konkret für die rechtliche Stellung des Nissart und seinen Platz in der Gesellschaft bedeutet.

In einem zweiten Teil werden wir uns in Kapitel 1 mit dem Erhalt der Vielsprachigkeit in Europa auseinandersetzen, der neben der rechtlichen Verankerung in den einzelnen Mitgliedsstaaten auch die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit insbesondere auch außerhalb des schulischen Kontextes voraussetzt. Hierbei spielt die moderne Definition fremdsprachlicher Kompetenz dahingehend eine ← 13 | 14 → tragende Rolle, als dass nicht länger die „near native langage competence“ (Klein/ Stegmann 2000: 19), sondern nach Fertigkeiten und Kompetenzgraden gestufte Sprachkenntnisse in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Ein auf die rezeptive Mehrsprachigkeit und insbesondere auf die Teilkompetenz Leseverständnis fokussiertes Bestreben findet sich in den Arbeiten zur Interkomprehension wieder, die sich auf die drei großen Sprachgruppen in Europa, die romanische, die slawische und die germanische konzentrieren. Da interkomprehensives Leseverständnis auch im Zentrum dieser Arbeit steht, werden wir in Kapitel 1.5 zunächst die verschiedenen Stadien der Interkomprehension darlegen, bevor wir Interkomprehensionsprogramme für die romanische Sprachgruppe vorstellen, deren Zielgruppe sowohl romanische Muttersprachler2 als auch romanische L2-Lerner sind. Auffällig ist hierbei, dass das Okzitanische bei all diesen Programmen kaum eine Rolle spielt, obwohl es nach Walther von Wartburg die „langue centrale de la romanité“ (zit. nach Escudé/ Janin 2010: 76) ist. Seine Kontaktstellung zum Französischen, Italienischen, Franco-Provenzalischen, Katalanischen und Spanischen wird bereits durch sein geographisches Verbreitungsgebiet (siehe Abbildung) deutlich.

images

Quelle: Lafont 2003: 22 ← 14 | 15 →

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war daher, inwieweit beim Auffinden eines nicht-lehrintentionalen Textes in okzitanischer Sprache (z.B. im Internet) dieser allein auf der Basis einer romanischen Muttersprache oder einer (bzw. mehrerer) gut beherrschter romanischer Brückensprachen3 mittels spontanem interkomprehensiven Leseverständnis erschlossen werden kann. Da es letztendlich kein „occitan par excellence“ gibt (Martin/ Moulin 1998: 11), sondern die sieben regionalen Varianten gascon, limousin, auvergnat, vivaro-alpin, languedocien, provençal général und niçois als gleichwertig zu betrachten sind (vgl. Martin/ Moulin 1998: 11; Sumien 2006: 155), mussten wir bezüglich der diatopischen Variante eine Wahl treffen. Wir entschieden uns für das Nissart (fr. niçois), da es gesellschaftlich/ politisch und damit verbunden auch sprachlich teilweise einen Sonderweg ging im Vergleich zum übrigen okzitanischen Sprachraum und insbesondere zum Provenzalischen4:

L’influence française a pénétré tardivement dans le comté de Nice. Possession de la Savoie depuis 1388, le Pays Niçois a été occupé temporairement par la France de 1793 à 1814; il a été récupéré par la Savoie, puis est retourné à la France à partir de 1860. L’occitan niçois a donc gardé une empreinte de sa longue subordination à l’italien. Par contre, il n’a pas été subordonné au nord-italien5: Nice était sans doute une capitale régionale assez puissante pour résister au piémontais et au ligurien. La domination du français s’est accrue en niçois depuis le XIXe siècle mais elle reste moins profonde que dans la plupart des parlers occitans. (Sumien 2006: 31)

Nichtsdestotrotz gehen wir davon aus, dass das Nissart aufgrund der im gesprochenen Volkslatein6 liegenden gemeinsamen sprachlichen Wurzeln mit den anderen romanischen Idiomen als interkomprehensiv verständlich angesehen werden kann. Worin genau diese sprachliche Basis besteht und welche gemeinsamen und divergenten Entwicklungen das Nissart im Vergleich mit den anderen romanischen Sprachen genommen hat, werden wir in Kapitel 2 darlegen. Hierbei soll auch verdeutlicht werden, dass die einzelnen romanischen Sprachen letztendlich ← 15 | 16 → oft unterschiedliche Stadien gemeinsamer Entwicklungen repräsentieren, deren Kenntnis sich aufgrund der vielfachen sprachstrukturellen Vernetzung innerhalb der Romania als förderlich auf das interkomprehensive Verständnis auswirken kann.

Wie interkomprehensives Lernen auf kognitiver Ebene funktioniert, werden wir in Kapitel 3 erläutern. Hierbei wird das Augenmerk zunächst auf der Funktionsweise des (multilingualen) mentalen Lexikons liegen, wobei mit Blick auf das interkomprehensive Verständnis des Nissart die Verarbeitung lexikalischen Materials aus verwandten Sprachen in den Fokus gerückt werden wird. In einem zweiten Teil werden wir auf die Verarbeitungsstadien des interkomprehensiven Spracherwerbs eingehen, die wir mit Meißner (2004: 43-44) in Spontangrammatik, Mehrsprachenspeicher und didaktischer Monitor untergliedern, bevor wir schließlich auf Interkomprehension fördernde Lernmethoden eingehen werden.

Kapitel 4 haben wir dem interkomprehensiven Leseprozess gewidmet, wobei neben Lesestil und Verarbeitungsebenen beim (interkomprehensiven) Lesen, dem sprachlichen Vorwissen ein breiter Raum eingeräumt werden wird. Hierbei arbeiten wir anhand synchroner Sprachstrukturen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Nissart und anderen romanischen Idiomen, v.a. Französisch, Italienisch und Spanisch heraus, um darzulegen, welche sprachstrukturellen Vernetzungen zwischen dem Nissart und den Mutter-/ bzw. Brückensprachen der Probanden unserer Studie vorliegen. Zudem werden wir auf die semantische Analyse eingehen und in diesem Zusammenhang auch die Strategie des Inferierens näher erläutern. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Leitfaden zum erschließenden Lesen (in Anlehnung an Klein/ Stegmann 2000: 21-22), der aufzeigt, wie man konkret mit einem Text in einer „unbekannten“, aber mit vorhandenen Kenntnissen verwandten Sprache verfahren kann.

Anhand dieses Leitfadens werden wir in Kapitel 5 das Nissart auf der Grundlage des auch den Probanden unserer Studie vorgelegten nicht-lehrintentionalen Textes „entdecken“. Hierbei wird neben der konkreten Analyse am Text auch die Verknüpfung des Inputs mit dem sprachlichen und linguistischen Vorwissen (z.B. diachrone Lautwandelprozesse) vor dem Hintergrund der in Kapitel 3 und 4 dargelegten theoretischen Grundlagen erfolgen. Zudem geben wir in diesem Kapitel zum besseren Verständnis sprachinterner Charakteristika einen Abriss der sprachexternen Entwicklung des Nissart und gehen auf die für das Okzitanische noch immer nicht endgültig geklärte Problematik der Graphie ein, die auch für das Nissart von nicht unbedeutender Relevanz ist.

In Kapitel 6 werden wir schließlich unsere Studie vorstellen und somit der Frage nachgehen, inwieweit in der Realität ein spontanes interkomprehensives ← 16 | 17 → Leseverständnis des Nissart auf der Basis einer romanischen Muttersprache oder einer (bzw. mehrerer) gut beherrschter romanischen Brückensprachen möglich ist. An der Studie nahmen 90 Studierende aus vier Ländern (Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland) teil, die den aus der online-Präsenz einer Zeitschrift entnommenen Text unter realitätsnahen Bedingungen bearbeiteten. Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens während der Studienteilnahme vor Ort sowie zur Schaffung der Möglichkeit des Vergleichs der Resultate erhielten die Probanden begleitend zur interkomprehensiven Lektüre Studienmaterial, um ihren Leseprozess etwas zu steuern. Die Auswertung der Studie erfolgte anhand dieses Studienmaterials, das wir in Kapitel 6 vorstellen und das auch im Anhang dieser Arbeit zu finden ist. Neben den Hauptbestandteilen der Erhebungsbögen, mit denen das Verständnis inhaltlicher und sprachlicher Charakteristika des Nissart überprüft wurde, umfasste das Studienmaterial auch Fragen, die auf den Einfluss der EU-Sprachenpolitik abzielten. Im Ergebnis bleibt hierzu festzuhalten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Probanden für ein mehrsprachiges Europa ausspricht, auch wenn die Kenntnis um die Existenz kleinerer Sprachen wie des Okzitanischen eher bescheiden ist. Dennoch zeigen die Ergebnisse unserer Studie zum spontanen interkomprehensiven Leseverständnis, dass eine Basis für das rezeptive Verständnis auch kleiner Idiome vorhanden und durchaus ausbaufähig ist. Romanische Muttersprachler und L2 Lerner romanischer Sprachen sollten ermuntert werden, über den Tellerrand zu schauen, um dabei zwischen den großen Sprachen auch kleine Idiome zu entdecken. Im virtuellen Raum des Internets stehen ihnen dabei alle Möglichkeiten offen. Vergessen wir auch in Zeiten rasanter Information und Kommunikation nicht den Reichtum, den jedes einzelne Idiom mit sich bringt, denn „a language is not only a means of designating objects or describing emotions; it is in itself a process of thought“ (Green [1941] 1985: 160). ← 17 | 18 → ← 18 | 19 →

 

1http://www.euro-mania.eu/docs/commande/Euromania1_it.pdf (24.03.2014).

2Das in dieser Arbeit zur besseren Lesbarkeit verwendete generische Maskulinum schließt dabei immer auch die femininen Bezeichnungen mit ein.

3Mit Klein (2002a) bezeichnen wir als Brückensprache (langue dépôt) eine bereits gefestigte Fremdsprache, die der zielsprachigen Sprachgruppe angehört und somit eine schnelle rezeptive Aneignung der Zielsprache ermöglicht.

4Wir minimierten damit auch die Möglichkeit, dass einzelne Probanden unserer Studie bereits über Kenntnisse dieser diatopischen Variante verfügten.

5Als „nord-italien“ bezeichnet Sumien (2006: 28 FN 1) „la langue qui regroupe le vénète, peut-être l’istrien (difficile à classer) et le groupe gallo-italien (piémontais, ligure, lombard, émilien, romagnol).“

6Hierfür ist auch der Terminus Vulgärlatein gebräuchlich. Zur Problematik dieser Bezeichnung siehe Kapitel 2.1.

1Europäische Mehrsprachigkeit – eine Herausforderung

1.1Zur Sprachenpolitik der Europäischen Union7

À une époque où les personnes, les biens et l’information transistent sur la planète à une vitesse plus élevée et à un volume plus grand que jamais, les barrières linguistiques doivent être surmontées. (Quell 1997; zit. nach Stoye 2000: 133)

Die Europäische Union ist nicht nur eine multinationale und multikulturelle, sondern auch eine multilinguale Gemeinschaft, deren verschiedene Interessen es im Hinblick auf eine gemeinsame Politik zu vertreten gilt. Unter der Zielsetzung einer „europäischen Verständigung“8 böten sich folgende Lösungen an (vgl. Nelde 2002: 18):

die Einführung einer Plansprache als europäische Leitsprache

die Bevorzugung weniger Hauptsprachen oder die Einführung einer Lingua Franca

der Erhalt des Plurilinguismus mit daraus resultierenden Konsequenzen für die Bildungspolitik.

In dem von der Europäischen Kommission 2012 vorgelegten Bericht „Die europäischen Bürger und ihre Sprachen“ heißt es:

Details

Seiten
360
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054828
ISBN (ePUB)
9783653967487
ISBN (MOBI)
9783653967470
ISBN (Hardcover)
9783631662793
DOI
10.3726/978-3-653-05482-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Romania Leseverständnis Sprachenpolitik Minderheitensprache
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 360 S., 5 farb. Abb., 19 s/w Abb., 80 Graf.

Biographische Angaben

Stefanie Wagner (Autor:in)

Stefanie Wagner studierte Romanistik, Germanistik/DaF und Erziehungswissenschaften an der Universität Potsdam, der Université Stendhal Grenoble III und der Universitat de Barcelona. Nach ihrer Promotion und dem Abschluss der staatlichen Übersetzerprüfung (Französisch/Deutsch) arbeitet sie derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Potsdam.

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