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Traditionsbrüche

Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr

von Tomislav Zelić (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 154 Seiten
Reihe: Wechselwirkungen, Band 19

Zusammenfassung

Fachleute aus den Bereichen der Germanistik und Komparatistik verfolgen in diesem Sammelband neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Sie untersuchen Diskurse über Kaiserreich und Königtum, Krise und Kritik, Kairos und Katastrophe, Krieg und Kultur in den Essays und Reiseberichten, Zeitungsartikeln und Tagebüchern, aber auch Romanen und anderen Schriften eines Hauptvertreters der Wiener Moderne. Es werden kulturtheoretische Fragen nach der Konstitution und Konstruktion von Identität und dem Zulassen von Differenz gestellt – sowie nach den Konversionen der Weltanschauungen, Ideologien und Religionen vom Provinzialismus und Kosmopolitismus über Nationalismus, Militarismus und Imperialismus zu Katholizismus und Antisemitismus, Austroslawismus, Austromarxismus und Austro-Europäertum.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung. Traditionsbrüche – Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr
  • Der Essay als ästhetische Positionierung – Hermann Bahr als Programmatiker der Wiener Moderne
  • Hermann Bahr als Kritiker und Porträtist
  • Poetik der Assimilation – Hermann Bahrs Wandelbarkeit und das Wissen der Angleichung um 1900
  • Das erschöpfte Bürgertum. Die soziale Dimension der Décadence
  • Krone, Krieg und kommunistische Krawalle. Vom schwierigen Übergang Jung-Wiener Autoren zur Demokratie
  • Hermann Bahr und der Zionismus. Über Bahrs Bekanntschaft mit Theodor Herzl
  • ‚Kathokult‘ – Hermann Bahrs kulturpolitische Glossen in katholischen Programmzeitschriften nach 1918
  • Hermann Bahrs Dalmatinische Reise aus textgenetischer Sicht
  • Literatur

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Tomislav Zelić (Zadar)

Einleitung. Traditionsbrüche – Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr

Anlässlich des 150. Geburtstages und 80. Todestages veranstaltete die Abteilung für Germanistik der Universität Zadar vom 17. bis 20. September 2014 eine internationale Tagung über Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers, Literatur- und Theaterkritikers Hermann Bahr, geb. 1863 in Linz, † 1934 in München. Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus den Fachbereichen der Germanistik, Slawistik und Komparatistik erhielten Gelegenheit neue Forschungsansätze vorzustellen. Untersuchungsgegenstand waren die k. k. Diskurse über Kaiserreich und Königtum, Krise und Kritik, Kairos und Katastrophe, Krieg und Kultur, Korruption und Kriminalität etc. in den Essays und Reiseberichten, Zeitungsartikeln und Tagebüchern, aber auch Romanen und anderen Schriften des als einen der Hauptvertreter der Wiener Moderne gefeierten Autors. Es wurden kulturtheoretische Fragen nach der Konstitution und Konstruktion von Identität und Toleranz von Differenz gestellt. Neben den kulturtheoretischen Kommentaren in den publizistischen Stellungnahmen zur Tagespolitik standen auch die zahlreichen Konversionen der Weltanschauungen, Ideologien und Religionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: vom Provinzialismus und Kosmopolitismus über Nationalismus, Militarismus und Imperialismus zu Katholizismus und Antisemitismus, Austroslawismus, Austromarxismus und Austro-Europäertum. Mitunter wurden Bahrs kulturgeographische Positionierungen in dem Europa-Diskurs sowie insbesondere Mitteleuropa und der Kulturraum Adria-Alpen-Donau diskutiert. Im Anschluss an die postkoloniale Theorie des Orientalismus und die davon ausgehende Balkanismus-Debatte sowie die daraus noch herzuleitende Theorie des ‚Mediterranismus‘, d.h. der literarischen Imagination des Mittelmeers, wurde die Beziehung zwischen Europa und dessen Anderen unter die Lupe genommen, sei es nun der Orient, Balkan, Asien oder das Mittelmeer. Der vorliegende Sammelband stellt die Forschungergebnisse dem interessierten Fachpublikum vor. Die Herausgeber fühlen sich gegenüber der Abteilung für Germanistik und dem Rektorat der Universität Zadar sowie dem Österreichischen Kulturforum in Zagreb zu Dank verpflichtet, da es ohne deren finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen wäre, dieses dreijährige Forschungsprojekt in den akademischen Jahren 2013/14 bis 2015/16 durchzuführen. ← 7 | 8 →

Wolfgang Müller-Funk greift alte Forschungsansätze auf, um ihnen eine neue Wendung zu verleihen. So verweist er auf die Engführung der Teilnehmer- und Beobachterperspektive auf die Wiener Moderne im Besonderen und die europäische Moderne im Allgemeinen in Bahrs essayistischen Werken. Während in der Teilnehmerperspektive programmatische Analysen vorherrschten, ermögliche die Beobachterperspektive nicht nur literaturkritische Urteile, sondern auch quasi soziologische Befunde. Es ist eine Binsenwahrheit der herkömmlichen Forschung, dass Bahrs Texte durch Heterogenität und Inhomogenität und Stil- und Gattungsvielfalt gekennzeichnet seien. Müller-Funk erhärtet diesen Befund dadurch, dass er die mituner selbstwidersprüchliche Gattungsmischung zwischen poetischem Essayismus und programmatischem Manifestantismus hervorhebt. Während das Manifest mit Pathos beladen Gebote aufstellt, übt sich der Essay mit Ironie und im Konjunktiv in der Skepsis gegen apodiktische Aussagen. Die Analyse der Moderne als Krise verbindet sich mit dem Ethos der Moderne als deren Überwindung. Frei nach Octavio Paz sei paradoxerweise der Bruch mit der Tradition die Tradition der Moderne. Allerdings gelte zugleich, das Neue von heute sei das Alte von morgen. Der kategorische Imperativ der Moderne, der bedingungslos Authentizität, Kreativität und Innovation fordert, führe Autoren und Kritiker in Ermangelung der Kriterien für literarische Modernität und unter den Bedingungen der kulturgeschichtlichen Beschleunigung allerdings entweder zu avantgardistischer Akrobatik oder postmoderner Hypokrisie. In der Retrospektive erscheine Bahr demnach im Spannungsfeld zwischen Moderne, Avantgarde und Postmoderne als ‚unzuverlässiger Prophet‘. Er verwende zwar im Sinne des modernen Krisendiskurses einen ästhetisierten, religiösen Diskurs über Erlösung und Verdammnis, das Paradies und die Apokalypse, den ewigen Augenblick und die Unendlichkeit etc. Sein Denken über die Moderne, das sich fortwährend in ‚binären Oppositionen‘ bewege, verhehle jedoch Phantasien der Gewalt gegen Andere kaum. Die europäische Moderne, deren Zentren sich laut Bahr in Frankreich und Skandinavien befinden, erscheine zugleich als Traditionsbruch und Zukunftsprojekt, die Wiener Moderne im Vergleich dazu jedoch eher traditionalistisch und provinziell. Allerdings sei Bahr, so Müller-Funk anerkennend, ein großer Beitrag zu den kulturellen Wechselwirkungen zwischen Ost und West, Nord und Süd zu verdanken.

Gilbert Carr untersucht im Ausgang von der These von Ernst Mach über die ‚Unrettbarkeit des Ich‘ die literaturkritischen Begriffe des Charakters und der Persönlichkeit. Die literarischen Portraits in den essayistischen Schriften von Bahr führten die Gattungstradition der Satire in Anschluss und Überwindung der Charakterologie von Theophrast von Eresos und Jean de La Bruyère im Lichte ← 8 | 9 → der Moderne weiter. Dabei ersetze Bahr Kritik, d.h. das vernünftig begründete Urteil über ein Kunstwerk, mit dem satirischen Porträt, das die Physiognomie des Autors wortwörtlich und sinnbildlich zum Gegenstand habe und gelange auf diesem Wege zu teils grotesken Kontrastierungen zwischen verschiedenen Autoren. Trotz der vermeintlichen Instabilität der modernen Subjektivität verfällt Bahr durch die Identifikation von literarischen Figuren mit deren Urhebern in die biographistische Falle des Positivismus im Anschluss an Wilhelm Scherer. Damit bleibe er trotz des Gebots zur Überwindung des Naturalismus dem Biologismus und Rassismus verhaftet: so wie Rasse und Milieu den Charakter und die Persönlichkeit eines Autors bestimmen, so bestimmt der subjektive Gedanke die objektive Gestalt des literarischen Kunstwerks. Die Poetik des literarischen Porträts und dessen Funktion für die Kritik der literarischen Moderne erschöpfe sich dabei ähnlich wie bei Karl Kraus in der Satire.

Oliver Jahraus begreift den Mangel an Bewertungskriterien für den Stil der literarischen Moderne als ‚Pluralismusproblem‘ und bietet eine kunst-, gesellschafts- und wissensgeschichtliche Auslegung der Décadence, deren Bestimmung im Besonderen, wie im Falle der Moderne im Allgemeinen, in deren Unbestimmbarkeit liege. Als Leitbegriff der Moderne ist sie zugleich leer und blind. Sie stelle sich im Anschluss an die soziale Systemtheorie von Niklas Luhmann als paradoxal antimodernes Entdifferenzierungsprogramm des modernen Kunstsystems in der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne dar. Wiederum erscheint bei der Auslegung der Moderne als Décadence die Anlehnung der literarischen Moderne an den Dilettantismus in Sinne von Goethe. In Anlehnung an die These von Ernst Mach über die ‚Unrettbarkeit des Ich‘ deutet Jahraus die Décadence als die kunst-, gesellschafts- und wissensgeschichtliche ‚Dysfunktionalisierung‘ des modernen Subjekts als Bürger und Beamter im Sinne von Friedrich Kittler. Den Bruch der literarischen Moderne mit der klassischen Tradition veranschaulicht Jahraus an dem Erzählwerk von Thomas Mann und kommt dabei zu der Schlussfolgerung, es ließe sich um 1900 nicht von dem Bürger erzählen und vor allem nicht mehr mit den herkömmlichen Stilmitteln aus dem bürgerlichen Zeitalter. Hatte sich das Bürgertum im 19. Jh. noch durch die ‚Akkumulation von Kapital‘ und die ‚Genealogie der Familie‘ konstituiert, so verbinden die modernen Romane und Novellen von Thomas Mann, die kunst-, gesellschafts- und wissengeschichtliche ‚Performanz‘ und ‚Repräsentation‘ mit ‚Analyse‘ und ‚Reflexion‘ der Décadence als paradoxerweise unwesentliches Wesen oder unbestimmte Bestimmtheit der literarischen wie sozialen Moderne.

Gottfried Schnödl untersucht die Wandlungs-, Anpassungs- und Angleichungsfähigkeit des modernen Kritikers, den Bahr bekanntlich mit einem ← 9 | 10 → ‚Kautschukmann‘ verglich. Die Frage, ob es sich dabei um eine virtuose Verwandlungskunst und Akrobatik oder charakterlose Gefallsucht, Dilettantismus und Hypokrisie bzw. Mimikry handelt, lässt er dabei allerdings offen. Die Begriffe der Wandlung, Anpassung und Angleichung fänden jedenfalls auch in anderen Wissensbereichen Verwendung, wie etwa in der Thermodynamik und Evolutionsbiologie von Ernst Haeckel, der empiriokritizistischen Psychophysik von Ernst Mach, der physiologischen Psychologie von Wilhelm Wundt oder der Lamarckistischen Experimentalbiologe von Paul Kammerer. Der Schriftsteller und Kunsttheoretiker Wilhelm Bölsche habe die Übertragung dieses naturwissenschaftlichen Wissens in den Bereich der Kunst- und Literaturtheorie vorbereitet. In der kulturellen Funktion als Politiker, Kritiker und Trendsetter seien solcherlei Tätigkeiten und Verhaltensweisen der Wandlung, Anpassung und Angleichung als Signatur der Moderne zu verstehen, wobei Biologismus und Rassismus salonfähig bleiben. Als Politiker, der nach der Marx-Lektüre im Gegensatz zum Austromarxismus den ‚geschichtsphilosophischen Rückversicherungen‘ des Marxismus abschwor, empfehle er die Anpassung der marxistischen Geschichtsphilosophie an den wirklichen Verlauf der Geschichte. Als Kritiker empfehle er in Ermangelung der Bewertungskriterien für ästhetische Modernität die Anpassung der Kunstkritik an das Kunstwerk und den Künstler. Und schließlich empfehle er als ‚Trendsetter‘ die Anpassung der Zeitgenossen an die eigene Zeit. Dabei lässt Schnödl die Frage offen, wie sich die derartig bestimmte Modernität Bahrs zu der avantgardistischen Akrobatik und postmodernen Hypokrisie verhält.

Details

Seiten
154
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653054361
ISBN (ePUB)
9783653967623
ISBN (MOBI)
9783653967616
ISBN (Hardcover)
9783631662717
DOI
10.3726/978-3-653-05436-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Austroslawismus Austromarxismus Austro-Europäertum Wiener Moderne
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 154 S.

Biographische Angaben

Tomislav Zelić (Band-Herausgeber:in)

Tomislav Zelić ist als Professor für Theorie und Geschichte der Literatur an der Abteilung für Germanistik der Universität Zadar in Kroatien tätig. Sein Forschungsgebiet ist die neuere deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart.

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