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Das Unantastbare beschreiben

Gerüche und ihre Versprachlichung im Deutschen und Polnischen

von Przemysław Staniewski (Autor:in)
©2016 Monographie 335 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch erörtert die Verbalisierungsschwierigkeiten von olfaktorischen Wahrnehmungen. Hierfür betrachtet der Autor zunächst die Olfaktorik aus kulturell-philosophischer, neurophysiologischer und anthropolinguistischer Perspektive. Des Weiteren legt er dar, wie man über Gerüche im Deutschen und Polnischen spricht. Er geht auf zweierlei Art und Weise vor. Zunächst erfolgen anhand von Wörterbüchern Analyse und Vergleich des deutschen und polnischen Geruchswortschatzes auf der synchronen und diachronen Ebene. Anschließend zeigt der Autor mithilfe von sprachlichen Korpora und unter Anwendung der kognitiv-linguistischen Methodologie (Frame-Semantik, konzeptuelle Metapher) auf, wie heute Gerüche im Deutschen und Polnischen verbalisiert und konzeptualisiert werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Sprachabkürzungen
  • Vorwort und Danksagung
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Zielsetzung und Struktur der Arbeit
  • 1.2 Forschungsstand
  • 2. Kultureller, wissenschaftlicher und anthropologisch-ethnologischer Blick auf die Gerüche und den Geruchssinn im Laufe der Jahrhunderte
  • 2.1 Den altertümlichen Gerüchen, Aromen und Parfums auf der Spur
  • 2.2 Philosophie, Medizin und Naturforschung – wissenschaftliche Betrachtung des Geruchs und Geruchssinns im Altertum
  • 2.3 Fortsetzung der antiken Theoriebildungen in der mittelalterlichen Geruchssinnbetrachtung
  • 2.4 Verbannung der Freuden im mittelalterlichen Christentum der Heiligkeit und Askese zugunsten
  • 2.5 Herabsetzung vs. Rehabilitierung des Geruchssinns – neuzeitliche philosophisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Olfaktorischen
  • 2.5.1 Endgültige Verbannung der olfaktorischen Wahrnehmung aus der Erkenntnistheorie und Ästhetik
  • 2.5.2 Der Stadtgeruch – Verschmutzung und Senkung der Toleranzschwelle als Faktoren erhöhter Wachsamkeit, Sensibilität und Aufschwungs wissenschaftlichen Interesses für Gerüche
  • 2.6 20. Jahrhundert – sozialer und wissenschaftlicher Status des Geruchs
  • 2.7 Excreta als Rassen- und Klassenmerkmal – der Geruch in anthropologischer und ethnologischer Forschung
  • 2.8 Schlussbetrachtung
  • 3. Neurobiologische Grundlagen des Riechens
  • 3.1 Allgemeine Charakteristik des Geruchssinns
  • 3.2 Zur Natur des Stimulus
  • 3.3 Aufbau und Funktionsweise des Wahrnehmungsapparates – Anatomie und Physiologie des Riechens
  • 3.4 Das limbische und olfaktorische System – Überlappungen, Schnittstellen und Kooperation
  • 3.5 Lateralität der Riechfunktionen
  • 3.6 Schlussbetrachtung
  • 4. Sprache und Olfaktorik – neurophysiologische Einschränkung oder kulturbedingte Vernachlässigung?
  • 4.1 Sprache und Geruchssinn aus der Perspektive der Psychologie
  • 4.2 Betrachtung der Sprache und des Geruchssinns auf der Gehirnebene – Versuche, die Versprachlichungsschwierigkeiten des Olfaktorischen mithilfe der Anatomie zu erklären
  • 4.2.1 Betrachtung der Sprache-Geruch-Relationen auf der Gehirnebene aus der vertikalen Perspektive
  • 4.2.2 Betrachtung der Sprache-Geruch-Relationen auf der Gehirnebene aus der horizontalen Perspektive
  • 4.2.3 Zwischenfazit
  • 4.2.4 Sinnesmodalitäten und F. Pulvermüllers Cell-Assembly-Modell der Sprache
  • 4.3 Ist die Kultur in der Strukturierung des Sensoriums unbedeutend oder ausschlaggebend?
  • 4.4 Schlussfolgerungen und Implikationen für weiterführende Forschung
  • 5. Analyse des polnischen und deutschen Geruchswortschatzes am lexikographischen Material
  • 5.1 Polnischer Geruchswortschatz
  • 5.1.1 Aromat
  • 5.1.2 Cuchnąć, czuć
  • 5.1.3 Fetor, odór
  • 5.1.4 Miazmaty
  • 5.1.5 Opar(y), wyziew(y), wapor(y); (ziać, zionąć)
  • 5.1.6 Pachnieć/zapachnieć; zapach
  • 5.1.7 Spalenizna, swąd
  • 5.1.8 Śmierdzieć, smród
  • 5.1.9 Tęchnąć/stęchnąć, stęchlizna
  • 5.1.10 Trącić (czym)
  • 5.1.11 Wonieć, woń
  • 5.1.12 Zaduch
  • 5.1.13 Zalatywać/zalecieć (czym)
  • 5.1.14 Schlussbetrachtung
  • 5.2 Deutscher Geruchswortschatz
  • 5.2.1 Aroma
  • 5.2.2 Brodem
  • 5.2.3 Dampfen/Dampf, dunsten/Dunst, duften/Duft, ausdünsten/Ausdünstung
  • 5.2.4 Hauch (hauchen)
  • 5.2.5 Miasma
  • 5.2.6 Muff, muffeln, müffeln; Mief, miefen
  • 5.2.7 Odeur, Odor
  • 5.2.8 Riechen, Geruch (rauchen, Rauch)
  • 5.2.9 Stinken, Gestank
  • 5.2.10 Schlussbetrachtung
  • 5.3 Abschliessende Bemerkungen zur lexikographischen Analyse
  • 5.3.1 Schlussfolgerungen bezüglich der synchronen Betrachtungen des Geruchssinnswortschatzes
  • 5.3.2 Schlussfolgerungen bezüglich der diachronen Betrachtungen des Geruchssinnswortschatzes
  • 5.3.3 Herausstellung der im Korpusteil zu berücksichtigenden olfaktorischen Lexeme
  • 6. Versprachlichung der Geruchssinnswahrnehmungen im Deutschen und Polnischen dargestellt in Anlehnung an sprachliche Korpora
  • 6.1 Zur Auswahl und Eingrenzung des zu analysierenden Textmaterials
  • 6.2 Untersuchung des verbalen Geruchswortschatzes – olfaktorische Wahrnehmungsverben
  • 6.2.1 Frame-Semantik – Grundlagen für die grammatisch-semantische Analyse der Geruchsbeschreibungen
  • 6.2.2 Der semantische Rahmen Geruchssinnswahrnehmung
  • 6.2.3 Analyse der verbalen polnischen und deutschen Geruchsbeschreibungen
  • 6.2.3.1 Geruchswahrnehmung und [QLE]-Perspektive
  • 6.2.3.1.1 Die Verben miefen, müffeln/muffeln, (aus)dünsten und czuć
  • 6.2.3.2 Schlussbetrachtung
  • 6.2.3.3 Geruchswahrnehmung und [EXP]-Perspektive
  • 6.2.3.4 Schlussbetrachtung
  • 6.3 Untersuchung des nominalen Geruchswortschatzes
  • 6.3.1 Metaphorische Verben und Konzeptualisierung von Gerüchen
  • 6.3.1.1 „Geruch als sich bewegende Entität“
  • 6.3.1.2 „Geruch als Feind“
  • 6.3.1.3 „Geruch als Auslöser einer Reaktion“
  • 6.3.2 Adjektive der Geruchssinnswahrnehmung
  • 6.4 Schlussbetrachtung
  • Schlussbetrachtung und Ausblick
  • Bibliographie
  • Quellen
  • Korpora und Datenbanken
  • Bücher
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • Wörterbuchverzeichnis
  • Wörterbücher der deutschen Sprache
  • Online verfügbare Wörterbücher der deutschen Sprache
  • Wörterbücher der polnischen Sprache
  • Online verfügbare Wörterbücher der polnischen Sprache
  • Wörterbücher anderer Sprachen (inkl. Online-Wörterbücher)
  • Anhang

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Sprachabkürzungen

aengl. – altenglisch

ahd. – althochdeutsch

aind. – altindisch

aisl. – altisländisch

akrslaw. – altkirchenslawisch

anord. – altnordisch

apol. – altpolnisch

apr. – altpreußisch

aram. – aramäisch

arm. – armenisch

asäsch. – altsächsisch

aschwed. – altschwedisch

aslaw. – altslawisch

aw. – awestisch

dial. - dialektal

dt. – deutsch

engl. – englisch

fnhd. – frühneuhochdeutsch

fr. – französisch

gemeingerm. – gemeingermanisch

germ. – germanisch

got. – gotisch

gr. – griechisch

het. – hetitisch

ie. – indoeuropäisch

it. – italienisch

jidd. – jiddisch

kr./serb. – kroatisch/serbisch

lat. – lateinisch

lett. – lettisch

lit. – litauisch

mhd. – mittelhochdeutsch

mlat. – mittellateinisch

mnd. – mittelniederdeutsch

mnl. – mittelniederländisch

nl. – niederländisch

norw. – norwegisch

obd. – oberdeutsch

omd. – ostmitteldeutsch

pol. – polnisch

russ. – russisch

schwed. – schwedisch

slw. – slowakisch

sphd. – spätmittelhochdeutsch

toch. A – tocharisch A

tsch. – tschechisch

ukr. – ukrainisch

umgs. – umgangssprachlich

urgerm. – urgermanisch

urit. – uritalisch

urslaw. – urslawisch

westgerm. – westgermanisch

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Vorwort und Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung der unter der Leitung von Prof. Dr. habil. Iwona Bartoszewicz geschriebenen Dissertation, die am 12.06.2013 am Institut für Germanische Philologie der Universität Wrocław verteidigt wurde. Sie entstand im Rahmen eines Promotionsstipendiums und wurde durch das Nationale Zentrum für Wissenschaften finanziell gefördert – Grantnummer NN104 384340.

Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. habil. Iwona Bartoszewicz für die wissenschaftliche Betreuung, die zahlreichen und hilfreichen Anmerkungen, Anregungen und Diskussionen. Ich möchte mich auch bei Herrn Prof. Dr. Norbert Fries, meinem DAAD-Betreuer, für die Möglichkeit bedanken, im Sommersemester 2011 an der Humboldt Universität zu Berlin zu forschen. Ebenfalls sehr herzlich bedanke ich mich bei den Gutachtern meiner Arbeit, Herrn Prof. Dr. habil. Sambor Grucza und Herrn Dr. habil. Artur Tworek für viele wertvolle Hinweise. Bei Herrn Prof. Dr. habil. Sambor Grucza und Herrn Prof. Dr. habil. Lech Kolago bedanke ich mich für die Aufnahme meiner Arbeit in die bei Peter Lang Verlag erscheinende Serie Warschauer Studien zur Germanistik und zur Angewandten Linguistik. Sehr dankbar bin ich auch dem Dekan der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław, Herrn Prof. Dr. habil. Marcin Cieński, und dem Direktor des Instituts für Germanische Philologie der Universität Wrocław, Herrn Prof. Dr. habil. Marek Hałub, für die finanzielle Förderung der Veröffentlichung. Für die sprachliche Redaktion und Korrekturen meiner Arbeit danke ich Daphne John.

Mein besonderer Dank geht auch an meine Familie – meine Eltern und meine Großeltern, die mich immer auf verschiedene Art und Weise unterstützen. Darüber hinaus möchte ich mich besonders bei meiner Frau Justyna für die ständige Unterstützung und Hilfe, aber auch für den unerschütterlichen Glauben an mich sowie die größte Geduld, die sie mit mir hat, bedanken.

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1. Einleitung

Die olfaktorische Sinnesmodalität wird einerseits mit dem Geschmack und dem Tastsinn zu den Nahsinnen gerechnet. Andererseits wird sie, auch mit dem Tast- und Geschmackssinn, als „niederer Sinn“ bezeichnet und besetzt somit in der klassischen Sinneshierarchie die untere Ebene. Im Zentrum der wissenschaftlichen Forschung sind seit jeher die sog. Fernsinne, d.h. Sehen und Hören, deren Beitrag zur Welterfassung außer Frage stand. Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass die Olfaktorik im Laufe der Jahrhunderte keine besondere Beachtung im Rahmen des erkenntnistheoretischen, kulturell-gesellschaftlichen, aber auch psychologischen und neuroanatomischen Diskurses genoss. Erst seit Anfang des 20. Jh. und besonders innerhalb der letzten 20 bis 25 Jahren ist allmählich ein steigendes wissenschaftliches Interesse für das Riechen beobachtbar (vgl. S. Krist/ W. Grießer 2006: 11).

Der Fortschritt des Wissensstandes in der Olfaktorik ist vor allem auf den Gebieten der Psychologie (vgl. z.B. R. Herz 2008 und E. Czerniawska/ J.M. Czerniawska-Far 2007), Chemie und Neuroanatomie (zum Überblick vgl. S. Krist/ W. Grießer, Kap. VI und VII) zu verzeichnen. Zu den bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Kultur und Soziologie zählen Aroma. Cultural History of Smell von C. Classen, D. Howes und A. Synnot (New Jork 1994), Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs von A. Corbin (Berlin 1984), Die Macht der Gerüche. Eine Philosophie der Nase von A. Le Guérer (Stuttgart 1992) und Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung von J. Raab (Konstanz 2001).

Obwohl dem Geruch in diesen Forschungsfeldern zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, scheint das für die Linguistik nicht der Fall zu sein. Die Tatsache ist nicht verwunderlich, weil solche Fragestellungen für das in den 60er, 70er und 80er Jahren dominierende formale (bzw. generative) Paradigma weniger relevant waren. Erst mit der Entwicklung der kognitiven Psychologie und Linguistik haben sich neue Forschungsperspektiven eröffnet, die die Rolle der Kultur und der individuellen Erfahrung in sprachlichen Prozessen anerkannten. Sie verschoben ebenfalls den Schwerpunkt von der Syntax auf die Semantik. Dies schuf feste Grundlagen für die linguistische Erforschung der sinnlichen Domänen in unterschiedlichen Kulturen, wobei in diesen Untersuchungen der Geruchssinn (aber auch andere Sinnesmodalitäten) durch das Sehen unterdrückt wurde. Das zeigt sich besonders in den vielfältigen Arbeiten zur Farbeterminologie und hat seinen Ursprung in der bahnbrechenden Publikation von B. Berlin und P. Kay (1969).

1.1 Zielsetzung und Struktur der Arbeit

Man kann die Feststellung wagen, das Primat des Auges oder besser ausgedrückt die Hegemonie der visuellen Modalität sei omnipräsent. Dies bedeutet, dass auch die Wissenschaft, darunter die Linguistik, sich nicht von ihren Fesseln befreien konnte. Diese Tatsache ist im sprachwissenschaftlichen Bereich besonders daran ersichtlich, ← 15 | 16 → dass die „semantisch-sensorischen Untersuchungen“ seit über 40 Jahren durch Forschungen zur Farbedomäne beherrscht waren, deren Kurs B. Berlin und P. Kay im Jahr 1969 bestimmten. Trotzdem stimmt es nicht, dass sich die Linguisten nicht mit der Olfaktorik auseinandergesetzt haben bzw. aktuell auseinandersetzen, wenngleich die Fachliteratur zu dieser Problematik zurzeit noch verhältnismäßig spärlich ist. Nichtsdestoweniger sind die Arbeiten zur Problematik des Geruchssinns in der Linguistik in Bezug auf die untersuchten Sprachen und sprachlichen Phänomene heterogen. Die Forscher beschäftigen sich sowohl mit den indoeuropäischen als auch mit für Europäer eher exotischen Sprachen, mit den grammatischen und semantischen Gegebenheiten, mit dem nominalen, verbalen oder adjektivischen Bereich, mit der Werbesprache und mit literarischen Werken. Sie berühren auch das Thema der Schwierigkeiten, die mit der Versprachlichung der Geruchssinnseindrücke verbunden sind und versuchen diese zu begründen (vgl. hierzu Forschungstand, Kap. 1.2.). Es scheint aber, dass eine einheitliche und möglichst viele der oben erwähnten Bereiche umfassende und kontrastive Arbeit zurzeit noch fehlt. Dies ist die Motivation für die vorliegende Untersuchung, deren übergeordnetes Ziel es ist, diese Lücke zu füllen. Auf der anderen Seite zielt diese Arbeit darauf ab, die Antwort auf die Frage zu liefern, wie über olfaktorische Wahrnehmungen im Deutschen und Polnischen gesprochen wird. Die Beantwortung der Fragestellung ist aus verschiedenen Gründen keineswegs geradlinig und unkompliziert. Somit verlangen nicht nur sprachwissenschaftliche Erkenntnisse Berücksichtigung, sondern auch die außerhalb der linguistischen Domäne liegenden Forschungsergebnisse. Um dem bereits formulierten übergeordneten Ziel nachzukommen, muss man schrittweise vorgehen und dabei entsprechenden Teilzielen Rechnung tragen. Erst dann kann ein umfassender Überblick über die Versprachlichung der Geruchssinnseindrücke im Allgemeinen und in Bezug auf das Deutsche und Polnische im Speziellen geschaffen werden.

Die vorliegende Arbeit setzt sich aus zwei Teilen zusammen, in denen entsprechende Subziele realisiert werden sollen. Der erste, theoretisch geprägte Teil, der aus den Kapiteln 2, 3 und 4 besteht, befasst sich mit der kulturell-erkenntnistheoretischen (Kap. 2) und neurophysiologischen (Kap. 3) Charakteristik der Geruchssinnswahrnehmung. Anschließend widmet sich Kapitel 4 der Fragestellung der Ursachen, die den (angeblichen) Problemen mit der Verbalisierung der olfaktorischen Eindrücke zugrunde liegen. Man kann die Behauptung wagen, dass in der Fachliteratur bezüglich der Schwierigkeiten, die Geruchsempfindungen in Worte zu fassen, der Hypothese Vorzug gegeben wird, für diese Probleme sei die Beschaffenheit des menschlichen Nervensystems verantwortlich. Gleichzeitig ist anzumerken, dass diese Hypothese aufgrund der psychologischen und neurokognitiven Forschung entwickelt und später in die linguistische Betrachtung des Geruchs teilweise übernommen wurde. Die neusten (aber nicht allein) anthropolinguistischen Untersuchungen zeigen jedoch, dass man doch mit Leichtigkeit über Gerüche sprechen kann, ohne zwangsweise auf die Geruchsquelle zu referieren, was auf die entscheidende Rolle der Kultur (und nicht des Gehirns) verweist. Somit bezweckte man in diesem Teil zu veranschaulichen, inwieweit die Geruchsversprachlichung von kulturellen Faktoren abhängt. Dies wurde auf dreierlei Wegen erreicht: Im ← 16 | 17 → zweiten Kapitel sind die geschichtlich-philosophischen und kulturellen Überlegungen zum Geruchssinn vom Altertum (Kap. 2.1 und 2.2) über das Mittelalter (Kap. 2.3 und 2.4) und die Neuzeit (Kap. 2.5) bis zur Gegenwart (Kap. 2.6) angeführt, um zu zeigen, inwiefern der Geruchssinn in der westlichen Gesellschaft vernachlässigt oder sogar aus der Reflexion über Welterfassung und Erkenntnis verdrängt wurde, was sich in der lexikalischen Ausdifferenzierung, oder ihrem Mangel, in diesem sinnlichen Bereich niederschlug. Daran schließt sich eine grobe Darstellung der neurobiologischen Grundlagen des Riechens (Kap. 3). Dieses Kapitel enthält eine allgemeine Charakterisierung des Geruchssinnes (Kap. 3.1), eine Erläuterung des Wesens des Geruchsstimulus (Kap. 3.2), eine Beschreibung des olfaktorischen Wahrnehmungsapparates und des limbischen Systems (Kap. 3.3 und Kap. 3.4) sowie eine Besprechung des Problems der Lateralität von Riechfunktionen (Kap. 3.5). Diese Überlegungen dienen als Grundlage dafür, die Hypothese über die gehirnbedingten Ursachen von Verbalisierungsschwierigkeiten des Olfaktorischen abzulehnen, was sich in viertem Kapitel aus der „vertikalen“ (Kap. 4.2.1.) und „horizontalen“ (Kap. 4.2.2.) Perspektive auf das Gehirn vollzog. Diese Ausführungen wurden um eine Betrachtung des Geruchs (aber auch von Emotionen) aus dem Blickwinkel des neurolinguistischen Modells von Friedemann Pulvermüller (Kap. 4.2.4) ergänzt. Diese Überlegungen wurden in Kapitel 4.3 durch die kulturell orientierte Herangehensweise an die Olfaktorik und Sprache vervollständigt, wobei man in diesem Abschnitt entsprechende anthropolinguistische Literatur referiert. Anhand dieses Kapitels konnte man zeigen, dass andere Kulturen im Vergleich zu den Europäern keine bzw. viel weniger Probleme haben, wahrgenommene Gerüche zu verbalisieren.

Angesichts der bereits in den Kapiteln 2, 3 und vor allem 4 dargestellten Erkenntnisse erhebt sich die Frage, wie man über Gerüche im Deutschen und Polnischen spricht und wie diese begriffen bzw. konzeptualisiert werden: Welche Generalisierungen können diesbezüglich aufgrund sprachlicher Daten formuliert werden. Auf diese grob formulierte Fragestellung einzugehen, ist das Ziel des zweiten Arbeitsteils, der die Kapitel 5 und 6 umfasst und der die Frage schrittweise beantwortet. Da man wahrscheinlich in jeder der Sprachen über einen mehr oder minder ausgebauten und informativen Wortschatz im Bereich sinnlicher Wahrnehmung verfügt, der für die Sprachnutzer den Ausgangspunkt bildet, sich über einen jeweiligen Eindruck zu äußern, ist das Ziel in erster Linie, das Geruchsvokabular im Deutschen und Polnischen zusammenzustellen und dieses anhand möglichst umfassenden Wörterbuchmaterials zu analysieren. Das Ziel der Analyse ist zweierlei: Einerseits eine möglichst detaillierte Beschreibung des Wortschatzes aus der synchronen Perspektive, was wiederum dazu beitragen sollte, eine möglichst genaue Bedeutung der jeweiligen Lexeme festzustellen und aufgrund dieser Beschreibung zu entscheiden, welche der untersuchten Lexeme (Kernwortschatz) in die Korpusanalyse (Kap. 6) inkludiert und welche ausgeschlossen (peripherer Wortschatz) werden sollen. Die Berücksichtigung der diachronen Perspektive in der Beschreibung des olfaktorischen Vokabulars soll andererseits dem Zweck dienen, möglichst tief in die Geschichte der jeweiligen Termini einzudringen, um festzustellen in welchen konzeptuellen Bereichen die heutzutage als olfaktorisch begriffenen Lexeme ihren Ursprung haben, ← 17 | 18 → auf der Basis der Untersuchung des semantischen Wandels der Geruchswörter. Das übergeordnete Ziel dieses Kapitels ist, sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten der deutschen und der polnischen Sprache auf beiden Ebenen zu zeigen.

Das Ziel des sechsten und letzten Kapitels ist, möglichst detailliert darauf einzugehen, wie die olfaktorischen Eindrücke im Deutschen und Polnischen versprachlicht werden. Die empirische Basis dafür bilden die Korpora des Deutschen (IDS-Korpus) und des Polnischen (Nationalkorpus des Polnischen – NKJP) sowie ausgewählte Texte (Kap. 6.1.). Dieses Kapitel ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil soll unter der Anwendung der Frame-Semantik-Theorie die Frage beantwortet werden, welche Aspekte der Geruchswahrnehmung, hier als Rahmenemelente herausgestellt, auf welche Art und Weise anhand von verschiedenen als olfaktorisch eingestuften nicht-agentiven Verben und mit ihnen auftretende grammatische Strukturen zum Ausdruck gebracht werden können. Hierbei sollen zwei Perspektiven, die entsprechende Verben auf den Geruchswahrnehmungsrahmen auferlegen, berücksichtigt werden (Kap. 6.2.). Im nächsten Teil soll die Frage nach der Konzeptualisierung des Geruchs in den beiden untersuchten Sprachen anhand metaphorischer, d.h. primär nicht dem olfaktorischen Bereich angehörender, Verben erörtert werden (Kap. 6.3.1.). Anschließend wird die Fragestellung der Hedonik, Intensität und Qualität, wie sie in Form der die olfaktorischen Substantive modifizierenden Adjektive vorkommen, erörtert (Kap. 6.3.2.). Die in den Kapiteln 5 und 6 enthaltenen Überlegungen, die gleichzeitig die Teilziele der Arbeit realisieren, liefern, zumindest teilweise, befriedigende Antworten auf die Frage, wie man über Düfte und Gestanke im Deutschen und Polnischen spricht.

1.2 Forschungsstand

Wie in Kapitel 1.1. angedeutet, ist die heutzutage verfügbare linguistische Literatur zum Thema „Olfaktorik“ relativ spärlich, obwohl ein steigendes sprachwissenschaftliches Interesse an dieser Sinnesmodalität beobachtbar ist. Dabei ist zu betonen, dass zu dieser Problematik mehrheitlich Aufsätze existieren, weswegen auch die in ihnen berührte olfaktorische Thematik heterogen ist. Im Folgenden sei kurz auf die für diese Arbeit wesentlichen sprachwissenschaftlichen Erörterungen des Geruchssinns einzugehen, vornehmlich anhand von deutschen und polnischen Veröffentlichungen. Berücksichtigung finden allein die sprachwissenschaftlichen Abhandlungen, während die Analysen literarischer Werke nicht betrachtet werden. Den Schwerpunkt bilden die Untersuchungen, die entweder das ganze olfaktorische Spektrum oder nur die nicht-agentive Wahrnehmung untersuchen. Den Arbeiten, die sich mit der agentiven Geruchswahrnehmung befassen, wird nicht Rechnung getragen. Daraufhin werden summarisch die Ausarbeitungen dargestellt, die vom Geruchssinn in anderen Sprachen handeln.

Schon vor fast neunzig Jahren hat sich Leo Weisgerber in Der Geruchsinn in unseren Sprachen (1928) mit diesem Thema befasst. In diesem Aufsatz beschäftigt er sich mit den Fragen nach der Ursache und Begründung der sprachlichen Schwierigkeiten im Bereich der Olfaktorik. Zudem sucht er nach den „primären Geruchsattributen“, ← 18 | 19 → wobei Weisgerber dank des interdisziplinären Charakters dieser Arbeit der Synästhesie viel Raum gibt und die psychologischen sowie physiologischen Gegebenheiten des Geruchs- und Geschmackssinnes berücksichtigt.

Den Gründen D[er] Verarmung des Geruchswortschatzes seit dem Mittelalter (1983/84), so der Titel, versucht Artur Kutzelnigg nachzugehen. Den Kern dieser Arbeit bildet jedoch eine ausführliche Liste der mit dem Geruch (aber auch dem Geschmack) verbundenen Lexeme in unterschiedlichen Stadien des Deutschen: Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Er behandelt ebenfalls die Gegenwartssprache, wobei hier die Schriftsprache getrennt von der Umgangssprache und Oberdeutschen Dialekten betrachtet wurden.

In dem Aufsatz Unsägliche Gerüche: Versuche, trotzdem vom Riechen zu sprechen (1995) besprechen S. Plank und F. Plank auf der Basis von Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs von A. Corbin sowie Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders von P. Süskind den nominalen, verbalen und adjektivischen Geruchswortschatz sowie die grammatischen Konstruktionen, die zur Geruchsverbalisierung eingesetzt werden. Des Weiteren unterstreichen sie, dass man die Chemie der Gerüche und Sinnesphysiologie für die Kategorisierungsschwierigkeiten der olfaktorischen Reize verantwortlich macht. Sie weisen jedoch darauf hin, dass das Totonakische über gewisse olfaktorische Kategorien verfügt.

Details

Seiten
335
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653070446
ISBN (ePUB)
9783653967661
ISBN (MOBI)
9783653967654
ISBN (Hardcover)
9783631662694
DOI
10.3726/978-3-653-07044-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
kognitive Linguistik Semantik Wahrnehmung Offaktorik vergleichende Sprachwissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 355 S., 10 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Przemysław Staniewski (Autor:in)

Przemysław Staniewski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie der Universität Wrocław. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen kognitive und vergleichende Sprachwissenschaft, insbesondere Semantik, Pragmatik und Versprachlichung von Wahrnehmungen.

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