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Das Berliner Osteuropa-Institut

Organisationsbiografie einer interdisziplinären Hochschuleinrichtung 1945–1976

von Ursula Stegelmann (Autor:in)
©2015 Dissertation 264 Seiten

Zusammenfassung

Das Berliner Osteuropa-Institut wurde in den Jahren des Kalten Krieges gegründet. Beginnend mit den Gründerjahren zeichnet die Autorin entscheidende Phasen der Organisationsbiografie bis in die 1970er-Jahre nach. Als innovativ erweist sich die Verknüpfung des wissenssoziologischen Zugriffs mit einer organisationssoziologischen Perspektive. Das Buch basiert auf der Analyse zahlreicher Dokumente, wie Tonbandmitschnitten, Gutachten, wissenschaftlichen Abhandlungen, Briefen und Zeitungsartikeln sowie der Auswertung qualitativer Interviews. Als bedeutende Wissenschaftler der Osteuropaforschung werden Max Vasmer, Werner Philipp, Hans-Joachim Lieber und Karl Christian Thalheim behandelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Osteuropabezogene Forschung zwischen Multidisziplinarität und Interdisziplinarität
  • 2.1 Forschungsperspektive Interdisziplinarität
  • 2.2 Interdisziplinarität als institutionelle und intellektuelle Herausforderung für Universitäten
  • 2.3 Der Interdisziplinaritätsstil des Osteuropa-Instituts
  • 3. Organisationssoziologische Forschungsperspektive
  • 3.1 Universitäten als Organisationen und Institutionen
  • 3.2 Universitäten als intersystemische Organisation
  • 3.3 Organisationale Prägewirkung und Pfadabhängigkeit
  • 3.4 Gesellschaftliche Mythen als ein Aspekt der Vergangenheitsorientierung von Organisationen
  • 4. Gründung und frühe Entwicklung des Osteuropa-Instituts
  • 4.1 Die Gründungsentscheidung und der Gründungsverlauf
  • 4.1.1 Gründungsabsicht und Organisationsziele
  • 4.1.2 Historische Referenz und mythische Ursprungserzählungen
  • 4.1.3 Ressourcenmobilisierung
  • 4.1.4 Legitimation, soziale Organisation und Identitätsbildung in der Gründungsphase
  • 4.2 Eröffnung und Arbeitsaufnahme
  • 5. Denkstilanalyse als ein Klassiker der Wissenschaftsforschung: kollektive Denkstile als Forschungsperspektive
  • 5.1 Zur Person Ludwik Flecks und Rezeption seiner zentralen Begrifflichkeiten
  • 5.2 Die zentralen Begriffe: Denkstil und Denkkollektiv
  • 5.3 Zur Struktur des Denkkollektivs
  • 5.4 Zur Dynamik wissenschaftlicher Entwicklung
  • 5.5 Zum Verhältnis von Denkstil/Denkkollektiv und Generationswechsel
  • 6. Methodologie der Denkstilanalyse
  • 6.1 Kognitive Landkarten als forschungsleitendes methodisches Konzept
  • 6.2 Dokumentenanalyse und qualitative Interviews als Erhebungsmethoden
  • 6.3 Analyseheuristiken interdiszipinärer Forschungspraxis
  • 6.4 Analyseheuristiken kollektiver Denkstile und deren Operationalisierung
  • 7. Die Gründungsprofessoren des Osteuropa-Instituts
  • 7.1 Max Vasmer (1886–1962): Gründungsprofessur für slavische Sprachen und Literatur (Slavisches Seminar)
  • 7.1.1 Max Vasmer und die Slavistik als notwendig interdisziplinäres Fach
  • 7.1.2 Max Vasmer als Netzwerker und Wissenschaftsorganisator
  • 7.1.3 Max Vasmers politischer Ethos
  • 7.2 Werner Philipp (1908–1996): Gründungsprofessur Osteuropäische Geschichte
  • 7.2.1 Werner Philipps Denkhaltung gegenüber dem östlichen Europa
  • 7.2.2 Von der der Strategie der Verständigung zur Netzwerkbildung
  • 7.2.3 Werner Philipp zwischen Wissenschaft und Politik
  • 7.3 Walter Meder (1904–1986): Gründungsprofessur Osteuropäische Rechtswissenschaft
  • 7.3.1 Denkhaltung und Entwicklung des Ostrechts im Baltikum
  • 7.3.2 Das Netzwerk der Ostrechtsforscher
  • 7.3.3 Meders Berliner Plan zur Wiedervereinigung
  • 7.4 Karl Christian Thalheim (1900–1993): Gründungsprofessur für osteuropäische Wirtschaftswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre
  • 7.4.1 Zur politischen Haltung Thalheims in den 1930er Jahren bis 1945
  • 7.4.2 Thalheim im Netzwerk wirtschaftswissenschaftlich orientierter Großraumforschung
  • 7.4.3 Auf dem schmalen Grad zwischen Wissenschaft und Politik nach 1945
  • 7.5 Zwischenbilanz
  • 8. Von der Forschungskooperation zum Denkstil
  • 8.1 Zur Vorgeschichte des transatlantischen Forschungsprojekts
  • 8.2 Antagonistische Denkhaltungen
  • 8.3 Generationswechsel im Institut
  • 8.4 Die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Politik
  • 8.5 Hans-Joachim Lieber als Wissenssoziologe
  • 8.6 Die Wiederaufnahme der Debatte um die Wissenssoziologie
  • 8.7 Vom Ziehvater der Linken Hans-Joachim Lieber und der Entwicklung eines Denkstils
  • 8.8 Zwischenfazit
  • 9. Die interdisziplinäre Forschungspraxis
  • 9.1 Zur Vorgeschichte des Sonderforschungsbereichs 10
  • 9.2 Themensetzung und Antragsteller der Etablierungsphase
  • 9.3 Epistemologische Differenzen
  • 9.4 Zum Umgang mit den unterschiedlichen Forschungskonventionen
  • 9.5 Probleme der Projektorganisation
  • 9.6 Der institutionelle Rahmen
  • 9.7 Zwischenfazit
  • 10. Fazit, Erkenntnisgewinn und Forschungsausblick
  • 11. Literatur
  • 11.1 Internetfundstellen
  • 11.2 Quellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Quellen
  • Bildnachweise

Vorwort

Jede Erzählung hat einen Anlass. Der Grund mit dieser Arbeit zu beginnen war ein unverhoffter Fund. Vor wenigen Jahren fiel mir ein Aktenordner in die Hände, der mit Gründungsakte bezeichnet war. Diese Akte hatte der erste Verwaltungsleiter des Osteuropa-Instituts Dr. Georg Kennert angelegt. Dem Titelblatt war der folgende Hinweis beigefügt:

„Die Akte ist jenem zugeeignet, der einmal die Geschichte des Instituts schreibt.“3

Durch die Anordnung der Dokumente hat Georg Kennert eine geradlinige Argumentationskette zu den Hintergründen der Gründung des Instituts aufgebaut, deren Lesbarkeit ein implizites Vorverständnis der Ost(Europa)Forschung in den 1950er Jahren voraussetzt. Auf meine Recherchen zur Gründungsgeschichte und der ehemaligen Bedeutung des Instituts erhielt ich nur wenig befriedigende Antworten. Das in der Gründungsakte beschworene Organisationsziel eines multidisziplinären – später interdisziplinären – Instituts, war kein kollektives Anliegen mehr. Ganz im Gegenteil: Vorherrschendes Merkmal des Instituts war nun die Abschottung der Abteilungen untereinander und eine starke Vereinzelung der Institutsmitglieder. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Diese ersten Beobachtungen führten zur organisationssoziologischen Fragestellung meiner Arbeit.

Das Fallbeispiel des 1951 gegründeten Osteuropa-Instituts der Freien Universität dient einer näheren Bestimmung entscheidender Faktoren in der Entwicklung des Instituts. Dabei steht die Untersuchung der Kooperationsfähigkeit von Organisationsmitgliedern im Fokus, da davon ausgegangen wird, dass diese im Interdisziplinaritätsstil einer Organisation zum Ausdruck kommt. Die Zuordnung zu einem bestimmten Interdisziplinaritätsstil wird u. a. in Anlehnung an den theoretischen Ansatz der „kollektiven Denkstile“ von Ludwik Fleck4, einem Klassiker der Wissenschaftssoziologie, entwickelt. Die vorliegende Arbeit begnügt sich allerdings nicht mit einer Untersuchung des Interdisziplinaritätsstils, sondern geht mit Fleck noch einen Schritt weiter:

„indem sie die Mannigfaltigkeit der Denkstile und Vielheit der Denkgemeinschaften in Betracht zieht (…). Sie muss auch das Entwicklungsmoment berücksichtigen und zu ← 11 | 12 → Methoden gelangen, die den Prozess des zunächst noch unklaren, schwankenden und undeutlichen Erkennens zulassen. Sie muss grundsätzlich und genau die soziale Natur des Denkens und Erkennens berücksichtigen.“5

Die Denkgebäude der unterschiedlichen Akteursgruppen im Osteuropa-Institut weisen alle Merkmale auf, welche Fleck beschreibt, wenn er distinkte Denkstile definiert. Ihre Träger können als Denkkollektive gem. der Fleckchen Terminologie beschrieben werden. Vereinfacht gesagt ist ein Denkkollektiv eine Gemeinschaft, die in gedanklicher und sozialer Wechselwirkung steht. Ein Denkstil ist notwendige Voraussetzung kognitiver Prozesse. Er entsteht unter jeweils spezifischen historischen und sozialen Konstellationen. Denkstile entstehen mit der sozialen Interaktion zwischen den Akteuren eines Denkkollektivs. Soll ein Kollektiv näher bestimmt werden, muss ein umfangreiches Indizienbündel gesammelt und abgeglichen werden. Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn wissenschaftliche Einrichtungen neigen zu starken Überschneidungen sowohl in personeller Hinsicht als auch im Erkenntnisinteresse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Ein Denkstil entsteht nicht allein durch die soziale Arbeit eines Kollektivs. In Anlehnung an den Fleckschen Ansatz, der sich vor allem für die sozialen Bedingungen der Wissenschaft interessiert, genauer für die Wechselwirkungen zwischen Denkstilen und Denkkollektiven, richtet sich die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit darauf, welchen Einfluss die organisationalen und kognitiven Voraussetzungen auf den Interdisziplinaritätsstil des Instituts hatten. Der Begriff des Interdisziplinaritätsstils wird dabei als ein heuristisches Instrument verwandt.

Wie eingangs dargestellt, war eine interdisziplinäre Zusammenarbeit das erklärte Organisationsziel des Osteuropa-Instituts. Es wird davon ausgegangen, dass dieses von den Gründungsmitgliedern geteilte Ziel eine entscheidende und prägende Wirkung für die weitere Entwicklung des Instituts hatte. Um sich jedoch nicht den Blick auf weitergehende Erkenntnismöglichkeiten zu verstellen, soll nicht allein nach dem Gelingen oder Scheitern wissenschaftlicher Kooperationsfähigkeit gefragt werden. So ist es das Anliegen dieser Studie, am Beispiel der Osteuropaforschung entscheidende Wegmarken in der Entwicklung der Area Studies zu beschreiben.

Erwartungen ← 12 | 13 →

In der Recherche zu dieser Arbeit bin ich immer wieder Menschen begegnet, die an der Geschichte des Instituts Anteil genommen haben und ein Buch zu dessen Geschichte für wünschenswert hielten. Um keine falschen Erwartungen zu schüren, sei vorab darauf hingewiesen, dass keine historisierende Beschreibung einer Institution und keine Biografik einzelner Forscherpersönlichkeiten des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin zu erwarten ist. Es wird lediglich eine Einordnung einzelner Forscherpersönlichkeiten in ein Organisationsgeschehen vom Zeitpunkt der Gründung des Instituts bis zu den entscheidenden Wegmarken in den frühen Jahren vorgenommen. Bei der Rekonstruktion der Entstehung und weiteren Entwicklung des Instituts stehen organisationale Vorgänge und kollektive Denkstile resp. Interdisziplinaritätsstile im Vordergrund. Ausgangspunkt der Analyse ist eine umfassende Rekonstruktion des Gründungsgeschehens in der ersten Eskalations- und Entspannungsphase des Kalten Kriegs.6

In der Rückschau wird das Berliner Osteuropa-Institut vielfach ein Kalte-Kriegs-Institut genannt.7 Inwieweit diese Bezeichnung tatsächlich gerechtfertigt ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Für die Untersuchung ist der Kalte Krieg insofern von Bedeutung, als dieser im unmittelbaren Erfahrungshorizont der Institutsmitglieder liegt und den Wandel eines Denkstils innerhalb der Organisation bewirkt. Hierbei ist fraglich, inwieweit die Verdrängung älterer Denkformen deren Fortbestand in gewandelter Form betont. ← 13 | 14 →

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  3 Dr. G. Kennert 1951: Gedanken zum Aufbau eines Osteuropa-Instituts (Entwurf für den internen Universitäts-Gebrauch, 12. März 1951). Privatarchiv der Verfasserin.

  4 Fleck 1999 [1935]: Enstehung und Entwicklung… .

  5 Fleck, L. 2008 [1936]: Das Problem einer Theorie des Erkennens…, S. 88.

  6 Die jüngere Generation von Historikern, zu denen auch Bernd Stöver gehört, periodisiert den Kalten Krieg in die Zeitspanne zwischen 1947–1991 und nimmt eine Phaseneinteilung vor, die sich an Entspannungs- und Eskalationsphasen orientiert. Nachdem bereits mehrfach verfrüht das Ende des Kalten Kriegs in Entspannungsphasen (1955, 1963, 1969, 1972) erklärt wurde, markiert für ihn die Auflösung der Sowjetunion (1991) das Ende. Siehe dazu Stöver, B. 2006: Kalter Krieg 1947–1991… .

  7 Eine breite Darstellung zu den „Kalter Kriegs Instituten“ liefern die Arbeiten von Unger, C. 2007: Ostforschung in Westdeutschland… und Kleindienst, T. 2009: Bundesdeutsche Osteuropaforschung… .

„Hochschulforschung hat die zentrale Aufgabe, die Problemhorizonte der Hochschulentwicklungsakteure zu erweitern bzw. zu überschreiten und voranalytische Urteile über Hochschulentwicklung durch wissenschaftliche Urteile zu ersetzen“8.

1. Einleitung

In den letzten 20 Jahren war zu beobachten, wie im Wettbewerb um knappe öffentliche Mittel der Druck auf staatliche Einrichtungen dazu führte, das organisationale Routinen und Instrumente, ursprünglich in privatwirtschaftlich geführten Unternehmen angewendet, von staatlichen Einrichtungen übernommen wurden. Die Konzepte des New Public Management (NPW) haben seitdem auch in die Verwaltung von Universitäten Einzug gehalten. Die Organisationssoziologen DiMaggio und Powell9 haben für dieses Anpassungsphänomen den inzwischen schon klassischen Begriff des institutionellen Isomorphismus geprägt. Demnach sind Organisationen in organisationalen Feldern eingebettet und durch einen Isomorphismusdruck der Anpassung an institutionelle Muster unterworfen. Vor DiMaggio und Powell haben Meyer und Rowan10 darauf hingewiesen, dass die institutionalisierten Formen der Organisation sozialer Praktiken weniger von deren Effizienz als von Rationalitätsmythen geprägt werden.

Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Osteuropa-Institut (OEI) der Freien Universität Berlin. Beim Osteuropa-Institut handelt es sich um eine typische universitäre Einrichtung, deren Organisationsstruktur von einer losen internen Koordination charakterisiert ist. Nach Weick11 haben die Auswirkungen der losen Kopplungen nur geringe Integrationskraft und schwache Kontrollmechanismen. Die Organisationsziele sind meist vage definiert, häufig ambivalent bzw. multidimensional. Auch zeichnet sich die Organisationskultur durch die mitgliedschaftliche Einbindung von Professoren mit jeweils eigenen Entscheidungsbefugnissen aus. Typisch für die Professorenschaft des multidisziplinär ausgerichteten Lehr- und Forschungsinstituts ist ihr starkes Autonomiestreben und ihre lediglich begrenzten bzw. wechselnden Loyalitäten gegenüber ← 15 | 16 → dem Institut, dem Fachbereich und der Universität. Die primäre Orientierung der Institutsmitglieder gilt ihrer jeweiligen Disziplin und den Fachkollegen.

Mit seiner Gründung waren die Mitglieder des Osteuropa-Instituts aufgefordert, ihre Kooperationsfähigkeit in gemeinsamen Forschungsvorhaben unter Beweis stellen, obwohl sie in unterschiedlichen disziplinären Zugängen verortet waren. Es wurde von ihnen erwartet, sich regional mit der russischen, polnischen, aber auch mitteldeutschen und der im Entstehen befindlichen sowjetischen Gesellschaftsform in der Sowjetzone und der Sowjetunion zu befassen. Dem folgend wird in der vorliegenden Arbeit gefragt: Waren die Wissenschaftler des Osteuropa-Instituts dem vorgegebenen Rationalitätsmythos der Interdisziplinarität unterworfen? Und wenn ja, welchen Einfluss hatte dieser Umstand auf die Organisationsbiografie des Instituts?

Mit einer Organisationsbiografie werden zugleich Themen der Wissenschaftsgeschichte und der Ideengeschichte tangiert, wobei eine skeptische Haltung gegenüber einem ideengeschichtlichen Idealismus eingenommen wird. Mit der Denkstilanalyse werden Formatierungsprinzipien in den Blick genommen, die unerkannt, aber dennoch über eine lange Zeit hinweg das Denken und Beobachten formatiert haben. Um den organisationalen Entwicklungspfaden in methodisch reflektierter Weise auf die Spur zu kommen, fragt diese Untersuchung nach dem sich wandelnden Verhältnis zwischen der Idee einer nach 1945 erneuerten Osteuropaforschung und der Umsetzung in die Praxis eines interdisziplinären Forschungsinstituts.

Entlang zweier Forschungsvorhaben – dem Marxismus-Leninismus Projekt (1954–1964) und dem Sonderforschungsbereich Sowjetische Industrialisierung und Gesellschaft seit 1917 (1971–1978) – soll untersucht werden, welchen Interdisziplinaritätsstil die Mitglieder des Instituts in den ersten Jahren entwickelten. Mit dieser notwendig interdisziplinären Fragestellung will die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Wissenschaftsforschung und Hochschulorganisationsforschung liefern.

Zu Theorie und Umsetzung interdisziplinärer Forschungspraktiken wurden bislang nur wenige systematische Untersuchungen vorgelegt12. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Röbbecke et. al.13 dar, in der die Autoren zu dem Schluss ← 16 | 17 → kommen, dass der Königsweg für erfolgreiche Forschungskooperationen aus einer Reihe verschiedener, jeweils pfadabhängiger Kooperationsstile besteht.

Mit der Binnenperspektive auf das Osteuropa-Institut konzentriert sich diese Arbeit vornehmlich auf die Jahre zwischen 1945–1974, also auf jenen Abschnitt in der Entwicklungsgeschichte der Freien Universität, der durch die Wissenschaftler weitgehend frei gestaltet werden konnte (1945–1967) und darüber hinaus auf den Zeitabschnitt, in dem die Gründungsideen auf die Probe gestellt wurde (1967–1978). Mit dem Scheitern des 1974 vorzeitig beendeten Sonderforschungsprojekts endet die Arbeit am empirischen Material.

Aufbau der Arbeit

In der Re-Konstruktion einer Organisationsbiografie über einen längeren Zeitraum hinweg sollte vorab geklärt sein, um welchen Organisationstypus es sich beim vorliegenden Fallbeispiel handelt. Beim Osteuropa-Institut handelt es sich um eine intersystemische Organisation, deren Leistung darin besteht, verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche miteinander zu verknüpfen. Dies vorausgesetzt und mit dem Wissen um das Scheitern einer vom gesamten Institut getragenen Forschungskooperation, stellt sich die übergreifende Frage, ob das Institut aufgrund eines erhöhten Anpassungsdrucks sein ursprüngliches Organisationsziel nicht mehr verfolgen konnte.

Eine Organisationsbiografie ist eine Variante der fallbezogenen Organisationsanalyse.14 Bislang wurde kein festgelegtes Theorien- und Methodenset für die Organisationsbiografie vorgelegt, sodass hier Neuland betreten wird. Als heuristisches Instrumentarium werden deshalb verschiedene Modelle und Theorien angewendet, die zum einen die Organisations- und Funktionsform wissenschaftlicher Einrichtungen und zum anderen den Erkenntnisgewinn über den zu identifizierenden Interdisziplinaritätsstil der Organisation befördern. Sämtliche Modelle und Theorien werden in heuristischer Absicht angewandt, das heißt, deren Allgemeingültigkeit wird nicht vorausgesetzt, sondern es soll sich in der konkreten Untersuchung erweisen, ob die Modellvorstellungen zutreffend und fruchtbar sind. ← 17 | 18 →

Die Einrichtungen einer Universität werden als Organisationen konzeptualisiert, die sich in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld bewegen. In diesem Sinne wird versucht beide Seiten – sowohl die sich verändernde Nachkriegspolitik als auch die Selbst-Positionierungen des Instituts – in die Argumentation mit einzubeziehen, da diese doppelte Perspektive Aufschluss darüber geben kann, inwiefern neue Anforderungen von Institutsmitgliedern in Organisationshandeln umgesetzt wurden. Damit erfährt der herkömmliche Begriff der Interdisziplinarität eine Erweiterung. Durch die Perspektiverweiterung ist es möglich, sowohl disziplinäre Anordnungen als auch interdisziplinäres Handeln im eigentlichen Sinn des Wortes zu erfassen. Damit kann der Begriff aus dem wenig Erkenntnis fördernden Innovationsdiskurs herausgelöst werden.

Details

Seiten
264
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054279
ISBN (ePUB)
9783653967807
ISBN (MOBI)
9783653967791
ISBN (Paperback)
9783631662625
DOI
10.3726/978-3-653-05427-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Kalter Krieg Ostforschung Neo-Institutionalismus Osteuropaforschung Wissenschaftsforschung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 264 S., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Ursula Stegelmann (Autor:in)

Ursula Stegelmann arbeitete als ausgebildete Übersetzerin und studierte an der Freien Universität Berlin Slavistik, Osteuropastudien und Philosophie. Sie ist verantwortlich für die Geschäftsführung des Berlin Centre for Caspian Region Studies (BC CARE).

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