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Der literarische Text und I-Faktoren in der Übersetzung

Anhand ausgewählter Werke Zbigniew Herberts im Deutschen und Englischen- Eine kontrastive trilinguale Analyse

von Piotr Sulikowski (Autor:in)
©2016 Monographie 355 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor erörtert übersetzungswissenschaftliche Probleme des literarischen Textes und definiert die diesen Begriff konstituierenden Faktoren – Indexikalität, Interkulturalität, Intersemiotizität und Intertextualität in der medialen Ära. In der Analyse poetischer Texte Zbigniew Herberts samt ihren Übersetzungen ins Englische und ins Deutsche beschreibt er die in der Übersetzung erscheinenden und diese bedingenden Phänomene wie Bedeutungsmigration, Interkultur und ihre Kondominien, Wissensdomänen und Äquivalenzfelder. Die Abhandlung enthält zudem aktuelle, textbasierte Interpretationen ausgewählter Werke des berühmten polnischen Dichters Zbigniew Herberts und leuchtet die kulturell und sprachlich bedingten Rezeptionsunterschiede des Originals und der Übersetzungen aus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Zielsetzung der Monographie
  • 3. Faktoren der literarischen Übersetzung
  • 3.1 Intersemiotizität
  • 3.2 Indexikalität
  • 3.3 Interkulturalität
  • 3.4 Der literarische Text
  • 4. I-Faktoren in der Poesie Zbigniew Herberts
  • 5. Korpus und Methode der Beschreibung
  • 6. Korpusuntersuchung
  • 7. Schlussfolgerungen
  • 8. Literatur
  • 9. Verzeichnis der Abbildungen

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Ο γραμμάτων άπειρος ου βλέπει βλέπων

Menandros1

1. Einleitung

Das Symbol der Dichtung und der Dichter – der Pegasus, ein beflügeltes Pferd aus der griechischen Mythologie, erhält bei Zbigniew Herbert eine eigentümliche Geschichte. Er zeigt sich als ein höheres Wesen, ein Paradigma, ein Effekt der religiös-magischen Überzeugungen der ordentlichen, gequälten Pferde, was an sich ein gedanklicher Nachlass von Xenophanes (570–475 v. Chr.) zu sein scheint, der die Ansicht vertritt, dass wenn Pferde ihre Götter konzipiert hätten, dann müßten diese ebenfalls Pferde sein (Ajdukiewicz 2004:136).

Der Pegasus vertritt eine besondere Ästhetik und steht für die Gedankenfreiheit und Kreation. Er wurde eigentlich nie beritten oder gezähmt, nur einmal von Bellerofont gefangen, unterliegt heutzutage einem in der Ansicht Herberts unberechtigten Prozedere – er wird von Dichtern für die Zwecke der Literatur missbraucht, er wurde auch zum Paten der Literatur gemacht, obwohl dies eine Illusion ist – in der Wirklichkeit hinterließ Pegasus sein Joch, um frei und unantastbar zu sein, welches ab diesem Moment von Dichtern als ein Schein der Kreativität getragen wird (Herbert KM 108–110).

Prägnant ist die Einbindung in den Entstehungsprozess der Denotate, darunter auch der Monster und Götter, der Semantik. Der Autor des Bandes Król mrówek (König der Ameisen) vermutet, dass viele „wie vom betrunkenen Metzger zusammengenähte“ Ungeheuer in der Mythologie aus zwei Gründen entstanden seien: Einerseits sei es der interkulturelle Kontakt mit anderen Völkern und ihren Mythologien, wodurch widersprüchliche Elemente aufeinander trafen, andererseits sei dies die Unzulänglichkeit der Sprache, die für fremde Begriffe eigene Heteronyme in der Form von wagen Worthüllen, Gestalten, Symbolen suchen musste, wobei viele Missverständnisse zu stande kamen. Gerade dieser Aspekt ist eine klare Andeutung des großen Dichters auf die schwer überwindbaren Irrwege der literarischen Übersetzung.

Herbert beschreibt treffend in seiner von uns kurz gefassten Skizze Pegaz (Pegasus) die Prozesse der Gegenwartsliteratur: die alte Mähre der Metapher wurde in den Stall abgeführt, was mit sich Verluste in der Poetik brachte, wodurch die Poesie zum Handwerk wurde. Die neuen Theoretiker betonen die Notwendigkeit der Tautologie, „geistige Selbstgenügsamkeit der Egotiker“, die nach der ← 7 | 8 → Formel Ego+Ego=Ego arbeiten. Die Welt erscheint aus diesem Grund flach und einfältig, daher aber beruhigend kohärent. Die Kohärenz macht ebenfalls eins der im Weiteren diskutierten Textualitätskriterien aus.

Den Pegasus, wie andere Götter, nutzen die Sterblichen lediglich als ein Zugtier aus, welches sie „zu verbotenen Spelunken hinabfahren soll“. Diesen Missbrauch bemerkte sogar die deutsche Phraseologie, indem sie die Wendung den Pegasus besteigen / reiten scherzhaft für unbeholfene dichterische Versuche verwendet.

Die literarische und intermediale Übersetzungswissenschaft, die Erforschung der heterogenen, miteinander kaum vergleichbaren Phänomene auf verschiedenen Textebenen, Versuche der Erläuterungen der aus der Sprachgeschichte und Pragmatik resultierenden lexikalischen Bedeutungen, Sprachbräuche, Fossilien, Phraseme, Floskeln, Differenzen der Wortfelder und auf der kulturellen Ebene die Untersuchung der einstigen und gegenwärtigen Relationen zwischen dem literarischen Werk und der Außenwelt sensu largo stellen einfache Werkzeuge dar, mit denen der Autor der vorliegenden Abhandlung versucht, die volatilen Wege des Pegasus’ wiederherzustellen und zu verstehen, ohne den einstigen Fehler der Dichter zu wiederholen und den Pegasus für eigene Zwecke zu zähmen oder zu reiten.

Seine ständige, himmlische Bewegung versinnbildlicht den markantesten Prozess der Kultur und der Sprachen – den laufenden Wandel, welcher bereits in der Antike von Heraklit von Ephesos treffend mittels eines Vergleichs beschrieben wurde:

Dies rechtfertigt nicht nur die neuen Interpretationen der bereits mehrmals interpretierten Werke oder ihre Neuauflagen, sondern verweist auch auf die Notwendigkeit der neuen Übersetzungen, wegen der sich in der medialen Ära rasch verändernden Kontexte und Zeiten, in denen sie funktionieren, sowie auf das Wichtigste: die labilen und dynamischen intersemiotischen, interkulturellen und intertextuellen Relationen, die Texte in Kulturen fixieren und bei ihrer Lektüre auf eine nur teils erkennbare Weise re-konstruiert werden.


1 Meineke (Hrsg.) 1841:352, Zeile 438.

2 Gifford (Hrsg.)(1903): Eusebii Pamphili Praeparatio Evangelica. Buch 15, Kapitel 20, II.

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2. Zielsetzung der Monographie

Die vorliegende, weit angelegte Monographie verfolgt drei Hauptziele.

Das erste Ziel ist die Erarbeitung eines modifizierten Textbegriffs, der sich auf die bisherigen Errungenschaften der Linguistik stützt. Wir sehen die Notwendigkeit einer Begriffserweiterung und –modifizierung, mit besonderer Beachtung der bisherigen Forschung im Rahmen der Linguistik. Der Anlass für diese Zielsetzung ist die vollkommen neue, dynamisch-labile Situation und eine unterschiedliche Auswuchtung des bisher als mehr statisch angesehenen Textes in neuen Medien, die sowohl den Alltagsgebrauch wie auch den künstlerischen Gebrauch des Textes beeinflussen. Besonders markant seien hier: die semantisch-pragmatische Relativierung der Textbestandteile, die immer stärker zum Vorschein kommende Indexikalität, Einbindung des Textgebildes in das multimediale und multimodale Netzwerk der intersemiotischen Relationen (Intersemiotizität), die um einen Text entstehende, von nationalen Sprachen größtenteils unabhängige Interkultur und die inzwischen klassisch gewordene Intertextualität, die aber in der postmodernen Zeit zum festen Aufbauprinzip der meisten kulturrelevanten Texte geworden ist.

Das zweite Ziel ist eine empirische Überprüfung des erarbeiteten Textbegriffs hinsichtlich der postulierten I-Faktoren anhand des Werks Zbigniew Herberts. Zu diesem Zweck wird der Band Wiersze zebrane einer Analyse hinsichtlich der indexikalischen, intersemiotischen, interkulturellen und intertextuellen Elemente unterzogen. Wir beschränken uns dabei auf eine knappe Darstellung der einzelnen Texteinheiten, da eine weitschweifige Analyse dieser Bestandteile die Konstruktion der Monographie nachteilig beeinflusst hätte. Der Vorteil dabei ist eine mit vielen Beispielen belegte Exemplifizierung der definierten Phänomene, die anhand des eigentlichen Korpus der Abhandlung sicherlich nicht ausreichend wäre.

Das dritte Ziel ist eine holistische Übersetzungsanalyse ausgewählter Gedichte Herberts und ihrer Übersetzungen ins Deutsche und ins Englische mit besonderer Berücksichtigung des neuen Textbegriffs und der bereits erwähnten I-Faktoren. Die I-Faktoren, deren heterogener und unikaler Charakter die monolinguale Rezeption der Literatur beeinflusst, was bei der zweiten Zielsetzung bereits begründet wurde, trägt bei der Übersetzung des Textes in eine andere Sprache und Kultur zu mannigfaltigen Problemstellungen bei. Die I-Faktoren, was wir vermuten, können in der Zielkultur wiederhergestellt, neutralisiert bzw. modifiziert, wobei in jedem Fall unterschiedliche, vom Autor des Ausgangstextes nicht beabsichtigte Domänen in der Zielkultur mitaktiviert werden, wodurch die I-Faktoren ← 9 | 10 → einen vollkommen anderen Wert erhalten können. Die angestrebte Analyse wird auf einigen Textebenen verlaufen, da die einzelnen I-Faktoren ebenfalls auf verschiedenen Ebenen (lexikalische Ebene [LexEb], stilistisch-pragmatische Ebene [StiPrag], Ebene der höheren semantischen Einheiten [HsE]) angesiedelt sind und miteinander innerhalb der Wortfelder verbunden sind, wodurch das vom Autor gewählte Modell dem Ansatz von Gerd Wotjak (1977) ähnelt, der die Bedeutungen einzelner Einheiten mit Hilfe der argumentativen, prädikativen und konnotativen Seme innerhalb der Wortfelder hinsichtlich ihrer Bedeutungs- und Bezeichnungsrelationen ermittelt.

Das mitverfolgte Ziel der Untersuchung ist ebenfalls eine qualitative und quantitative Charakteristik der Repräsentanz von I-Faktoren sowie ihr Wandel im kulturell und sprachlich aufzufassenden Übersetzungsprozess der poetischen Texte Zbigniew Herberts ins Englische und ins Deutsche mit Hilfe der Übersetzungsverfahren auf den drei abgesteckten Textebenen und ihrer möglichen Einflüsse auf die Wiederherstellung (Entstellung) der I-Faktoren.

Die Abhandlung gehört zu empirisch basierten, übersetzungswissenschaftlichen Arbeiten, die mit Hilfe der linguistischen Werkzeuge literarische Texte und ihre Übersetzungen erörtern. Man sollte betonen, dass solch ein Forschungsparadigma bereits 1995 von Gideon Toury als Descriptive Translation Studies postuliert und von Sulikowski seit 2007 verfolgt wird (Sulikowski 2007, 2008, 2013; Lesner/Sulikowski 2013). Der Grundansatz ist dabei die Mitbeachtung des kulturellen Kontexts, die Untersuchung der Funktionsweise des Ausgangstextes und seiner Übersetzungen in jeweiligen Zielkulturen mittels Entdeckungs- und Auslegungsprozeduren (discovery procedures und justification procedures, Toury 1995:37f.)

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3. Faktoren der literarischen Übersetzung

Im Jahre 1981 erschien ein grundlegendes Werk im Bereich der Textlinguistik Einführung in die Textlinguistik von Robert-Alain de Beaugrande und Wolfgang Dressler. Außer zahlreichen interessanten Themenbereichen formulierten die Autoren eine Liste der so genannten Textualitätskriterien, die einem Sprachnutzer es ermöglichen sollten, kommunikative Texte von nicht kommunikativen Texten zu unterscheiden.3 Da ein nicht kommunikativer Text seine Basisfunktion nicht erfüllt, wird dieser als ein „Nicht-Text“ angesehen. Ein großes Problem scheinen aber literarische Texte darzustellen, die in ihrer Ausgangsform häufig andere Funktionen als standardmäßige Textkonstrukte zu erfüllen suchen, wie z. B. die ästhetische oder die fatische Funktion im Sinne der von Jakobson verwendeten Terminologie. Informativ bzw. kommunikativ müssen die literarischen Texte gar nicht sein, da die Grundlage ihrer Existenz die dargestellte Welt als eine literarische Interkultur ausmacht, worauf wir noch zurückgreifen werden. ← 11 | 12 →

Abb. 1 Der literarische Text und die I-Faktoren

Details

Seiten
355
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653052275
ISBN (ePUB)
9783653968422
ISBN (MOBI)
9783653968415
ISBN (Hardcover)
9783631662274
DOI
10.3726/978-3-653-05227-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Textansatz Intertextualität Interkulturalität Intersemiotizität literarische Übersetzung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 355 S., 5 s/w Abb., 13 Graf.

Biographische Angaben

Piotr Sulikowski (Autor:in)

Piotr Robert Sulikowski ist Professor der Germanistik an der Universität Szczecin. Seine Forschungsinteressen sind Fachsprachen, kontrastive Studien, literarische und technische Übersetzung, Lexikologie und Semantik.

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