Interpassives Mittelalter?
Interpassivität in mediävistischer Diskussion
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Edited By Silvan Wagner
Der Sündenbock und andere Stellvertreter. Überlegungen zum Theorem der Interpassivität am Beispiel der Crescentia-Erzählung, der Sionpilger und der Fabel Vom Wolffe, Fuchß und Esel
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1. Sündenbock
„Ein ‚Sündenbock‘“, so definiert René Girard in seinem 1982 erschienenen Buch Le Bouc émissaire,1 „ist zuallererst das Opfer des jüdischen Rituals, das anläßlich der wichtigen Entsühnungszeremonien gefeiert wird (3. Mose, 16,21). […] Der Ritus bestand darin, einen mit allen Sünden Israels beladenen Ziegenbock in die Wüste zu schicken. Der Hohepriester legte seine Hände auf den Kopf des Bocks, und mit dieser symbolischen Geste sollte alles, was die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinde hätte vergiften können, auf das Tier übertragen werden.“2 Mit diesem von Girard beschriebenen Muster – Ausstoßung und Reinigung – können auf einer allgemeinen Ebene Ordnungsstörungen beschrieben werden, die Gesellschaft konstituierend wirken, denn der Hohepriester Aaron schickt den schuldbeladenen Bock weg, um das Übel auszulagern. Der ursprünglich reine Zustand wird mit Hilfe der Opferung eines Bockes für Jahwe wiederhergestellt.3
In dem 2011 erschienenen Band zur Leipziger Tagung „Wir sind nie aktiv gewesen“ hat Thomas Binder-Reisinger das Sündenbock-Phänomen auf sein interpassives Potential hin bereits geprüft und dabei als Prinzip das Delegieren von ← 113 | 114 → Schuld an externe Agenten deutlich gemacht.4 Das hier zugrunde liegende kulturelle Muster wird auch in der mittelalterlichen Literatur verhandelt.5 Im Mittelpunkt stehen dabei die Mechanismen Ausstoßung, Verfolgung und Heiligung sowie die Übertragung und Sublimierung von Gewalt, kurz gesagt: die Delegation von Konfliktpotentialen und die Delegation von Schuld, die gleichzeitig als mit einem „Lustgewinn und einem psychischen Befreiungsakt“6 verbunden...
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