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Verdinglichung und Subjektivierung

Versuch einer Reaktualisierung der kritischen Theorie

von János Weiss (Autor:in)
©2015 Monographie 188 Seiten

Zusammenfassung

Georg Lukács hat Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts die damalige Krise und das Krisengefühl nach dem ersten Weltkrieg mit dem Begriff der Verdinglichung zu erfassen versucht. Davon ist die Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie ausgegangen. Dieses Werk hat zwei Ziele: einerseits soll gezeigt werden, dass dieser Begriff heute durch die Subjektivierung ergänzt werden muss, andererseits soll die These untermauert werden, dass diese Ergänzung in Ansätzen schon einige Vertreter der Frankfurter Schule vorgenommen haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Lukács‘ Theorie der Verdinglichung
  • Die Theorie der Verdinglichung und das Taylorsystem (Annäherung an Lukács’ „Geschichte und Klassenbewusstsein“)
  • I.
  • II.
  • Die Verdinglichungstheorie in der frühen Frankfurter Schule
  • Die Entstehung der „kritischen Theorie“ bei Herbert Marcuse
  • I.
  • II.
  • III.
  • IV.
  • Kracauers Variante einer Theorie der „Verdinglichung“ (Eine Einführung in seine frühe Filmtheorie)
  • I.
  • II.
  • III.
  • IV.
  • Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“
  • I.
  • II.
  • III.
  • IV.
  • Der Begriff „Verdinglichung“ bei Adorno
  • Adornos Theorie der „Kälte“
  • I.
  • II.
  • III.
  • Konstellationen der Verdinglichung bei Adorno
  • I.
  • II.
  • III.
  • IV.
  • Verdinglichte versus flexibilisierte Arbeit (Zu einer impliziten Arbeitssoziologie Theodor W. Adornos)
  • I.
  • II.
  • Ein Versuch der Aktualisierung
  • Die detranszendentalisierte Vernunft (als Programm einer Verdinglichungskritik)
  • I.
  • II.
  • Facetten zu einer Erweiterung der Verdinglichungstheorie (Eine literarische Übersicht)
  • Reinold Schmücker (Hg.): Philosophie der Artefakte
  • Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo
  • Sighard Neckel und Greta Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung
  • Textnachweise

Vorwort

„Lies mich!“ Es geht in diesem Buch um das Lesen (Wiederlesen, Rekonstruktion, Reaktualisierung) der Tradition der kritischen Theorie. „Die Tradition kritischer Theorie besteht in der Irritation ihrer Tradierung und weist über sie hinaus […].“1 Ich werde diese Tradition aus der Perspektive der Verdinglichungstheorie zu „lesen“ versuchen. – Die Motivationen zu dieser Studie verdanke ich den Tanner-Lectures von Axel Honneth, die er im Jahre 2005 an der Universität Berkeley gehalten hat (und die auch noch im selben Jahr erschienen sind).2 Davon ausgehend möchte ich die Theorie von Lukács sowohl rezeptionsgeschichtlich als auch systematisch „neu lesen“. (1) Honneth hat gezeigt, dass das grundsätzliche Konzept von Lukács nicht als Marxexegese, sondern in erster Linie als eine Zeitdiagnose der Weimarer Republik aufzufassen ist; da wollte ich die Frage anschließen nach den Erfahrungen, die hinter der lukácsschen Theorie standen. (2) Jürgen Habermas hat in seiner Theorie des kommunikativen Handelns die Verdinglichungstheorie von Lukács als Grundstein der Frankfurter Schule bezeichnet;3 ich werde also versuchen die frühe Geschichte der Frankfurter Schule im Lichte dieser Theorie zu rekonstruieren. (3) Ich meine, dass in Adornos Verdinglichungstheorie eine Wende eingeleitet wurde, deren Potenzial er aber nicht mehr ausschöpfen konnte. Er hat der Verdinglichung die Personalisierung an die Seite gestellt und so die Ausweitung der Verdinglichungstheorie zum Programm erhoben. (4) Aber erst die von Habermas in den neunziger Jahren vorgeschlagene Theorie der Detranszendentalisierung bietet einen Bezugsrahmen, in dem man die Verdinglichung und Subjektivierung als echte Einheit erfassen kann.4

Frankfurt am Main, am 22. Juni 2014János Weiss

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1   Oliver Römer – Malte Völk – Christian Spiegelberg, Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie, a.a.O., S. 15.

2   Vgl. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005.

3   Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt am Main 1985, S. 489.

4   In der Zeit der Fertigstellung des Buches habe ich eine großzügige Unterstützung vom DAAD erhalten, wofür ich mich auch hier herzlich bedanken möchte.

Einleitung

Ein erster Ansatz zu einer kritischen Ding-Theorie ist m. E. bei Meister Eckhart zu finden. Er schreibt in einem zentralen Aufsatz: „Der Geist soll also frei sein, dass er an allen nennbaren Dingen nicht hange und dass sie nicht an ihm hangen.“5 Dieser normative Satz setzt eine ursprüngliche Situation voraus, in der die Dinge und der Geist noch miteinander verflochten sind; d. h. Geist und Dinge durchdringen einander. Erstaunlich genug, dass Meister Eckhart die Paradies-Analogie vermeidet und die ursprüngliche Situation als „inauthentisch“ ansieht. Es ist eine Situation, die überwunden werden muss oder musste. Der Geist muss sich befreien, wovon aber? Von den Dingen, oder besser gesagt: von seiner eigenen Verdinglichung. Die so entstehende Freiheit des Geistes erfasst Meister Eckhart mit dem Begriff der „Abgeschiedenheit“. „Vollkommene Abgeschiedenheit achtet auf nichts und stellt sich weder unter noch über eine Kreatur. Sie will weder unten noch oben sein; sie will weder Gleichheit noch Ungleichheit; sie will nichts anderes als abgeschieden sein. Durch sie wird kein Ding beschwert.“6 Eckharts Formulierung ist aber nicht ganz eindeutig, weil er nicht nur von Dingen, sondern auch von Kreaturen spricht. Unter „Kreaturen“ versteht man vor allem die Lebewesen, aber auch die menschliche Seele. („Die Seele ist eine Kreatur, die alle […] Dinge empfangen kann […].“)7 Genauer betrachtet bedeutet die Befreiung von den Dingen bei Meister Eckhart eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber allerlei Hierarchien der menschlichen Gesellschaft. Die Abgeschiedenheit kann also nicht einfach mit der Befreiung von Dingen identifiziert werden, sie ist vielmehr deren allgemeine Konsequenz. „Nun möchtest du fragen, was denn Abgeschiedenheit sei, wenn sie so edel in sich selber ist? Hierzu sollst du wissen, dass rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als dass der Geist in allen Zufällen der Liebe und des Leides, der Ehre und der Schande, so unbeweglich steht, ← 11 | 12 → wie ein breiter Berg gegen einen kleinen Wind.“8 Wir wissen, dass Eckhart sich vor allem von der paulinischen Lehre über die Liebe distanzieren möchte. „[Ich] lobe [die] Abgeschiedenheit mehr als Minne, weil Minne mich dazu zwingt, alles um Gottes willen zu erleiden. Die Abgeschiedenheit aber zwingt mich dazu, dass ich für gar nichts anderes empfänglich bin als für Gott.“9 Die erste Kritik der Verdinglichung bildet also eine Alternative zur frühchristlichen Liebesideologie. Diese Ideologie setzte noch die frühe Gemeinschaftskonstituierung voraus; seitdem verläuft aber das Leben der Menschen unter der Herrschaft der Dinge. (Die ursprüngliche Situation entpuppt sich also als die jetzige Situation.) Der Mensch ist frei, d. h., er soll sich befreien vom Druck der Dinge: „Man muss sich durchdringen zur Freiheit; diese aber erreicht man durch nichts anderes als durch Gleichgültigkeit gegen das Schicksal.“10 (Man sieht, dass Meister Eckhart sich von der frühchristlichen Liebesideologie so abwendet, dass er auf stoizistisches Gut zurückgreift.)11 ← 12 | 13 →

                                                   

5   Meister Eckhart, Von der Selbsterkenntnis, in: ders., Vom Wunder der Seele. Eine Auswahl aus den Predigten und Traktaten, Stuttgart 2007, S. 22. Hervorhebungen von mir, J.W.

6   Meister Eckhart, Von der Abgeschiedenheit, ebd., S. 24.

7   Meister Eckhart, Die Seele auf der Suche, in: ders., Predigten, Traktate, Sprüche, Berlin 1903, S. 185.

8   Meister Eckhart, Von der Abgeschiedenheit, a.a.O., S. 24.

9   Ebd., S. 23.

10  Seneca, Vom glückseligen Leben, Neuenkirchen 2004, S. 17–18. „Dann wird jenes unschätzbare Gut erwachsen, eine sicher gestellte Ruhe und Erhabenheit der Seele, eine nach Vertreibung alles Erschreckenden aus der Erkenntnis der Wahrheit entspringende hohe und ungestörte Freude […].“ Ebd., S. 126.

11  Diese Gleichgültigkeit deutet dann Meister Eckhart als eine neue Offenheit zu Gott. Durch diese Offenheit soll der Mensch sogar mit Gott gleich sein. „Und solche Gleichheit geschieht aus Gnade, denn die Gnade zieht den Menschen von allem Zeitlichen ab und läutert ihn von allen vergänglichen Dingen.“ Der Geist muss sich also nicht nur von den Dingen, sondern auch von den zwischenmenschlichen Bindungen befreien. Meister Eckhart, Von der Abgeschiedenheit, a.a.O., S. 25. Hervorhebung von mir, J.W. „Nun könnte ein Mensch sagen: »Wer vermag in dem unverwandten Anblick des göttlichen Inbildes zu bestehen?« Darauf antworte ich: Niemand, der heute in dieser Zeit lebt. Einzig darum ist es dir gesagt, damit du weißt, was das Höchste ist und wonach du trachten und verlangen sollst.“ Ebd., S. 28.

Lukács’ Theorie der Verdinglichung

Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat Georg Lukács den marxschen Begriff der „Verdinglichung“ zu aktualisieren versucht: „Das Wesen der Warenstruktur ist bereits oft hervorgehoben worden, es beruht darauf, dass ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine »gespenstige Gegenständlichkeit« erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.“12 Soviel ist auf den ersten Blick klar, dass das „Wesen der Warenstruktur“ in der Dinghaftigkeit bestehen soll; aber diese Dinghaftigkeit wird anders beschrieben, als man das nach dem marxschen Ding-Begriff erwartet hätte. Lukács stützt sich nicht auf die Gesamttheorie der marxschen Verdinglichung, sondern auf ein Kapitel des Kapitals, das den Titel trägt: „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“. Dieses Kapitel erscheint nur in der zweiten Auflage des ersten Bandes des Kapitals; in ihm wird der Begriff „gespenstige Gegenständlichkeit“ eingeführt. Wenn man eine Stelle aus dem dritten Band des Kapitals berücksichtigt, kann man diesen merkwürdigen Begriff gut erklären. Hier schreibt Marx: „Im zinstragenden Kapital ist […] dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“13 Lukács selbst hat seine Analyse als eine orthodoxe Marxrekonstruktion darzustellen versucht, die traditionellerweise auch als solche akzeptiert wurde. Erst Axel Honneth hat diese Selbstdeutung in ihre Schranken verwiesen: „Wie in einem Brennspiegel schienen sich in diesem Ausdruck oder benachbarten Begriffen die historischen Erfahrungen zu konzentrieren, die die Weimarer Republik unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit und ökonomischen Krisen prägten.“14 In der folgenden Studie möchte ich nach den konkreten Erfahrungen fragen. Lukács hätte eigentlich sagen müssen, dass im Lichte der neueren Erfahrungen die Theorie von Marx – wenn auch nicht grundsätzlich – veraltert ist. Das hat er aber versäumt. ← 13 | 14 →

Die Theorie der Verdinglichung und das Taylorsystem

(Annäherung an Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“)

Georg Lukács hat in seinem frühen Hauptwerk, Geschichte und Klassenbewusstsein, den Begriff der Verdinglichung in das Zentrum seiner Analysen gestellt. „Der Begriff der »Verdinglichung« ist in den zwanziger […] Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik im deutschsprachigen Raum gewesen. Wie in einem Brennspiegel schienen sich in diesem Ausdruck oder benachbarten Begriffe die historischen Erfahrungen zu konzentrieren, die die Weimarer Republik unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit und ökonomischer Krise prägten […].“15 Axel Honneth suggeriert damit, dass die Karriere dieses Begriffs vor allem mit den Erfahrungen der Wirtschaftskrise und der schnell wachsenden Arbeitslosenzahlen zusammenhängt. Dieser Vorschlag eröffnet eine ganz neue Perspektive für die Interpretation des Buches: Es wird jetzt nicht mehr als eine philosophische Begründung der kommunistischen Revolution verstanden, sondern als genialer Versuch, die Verhältnisse, Probleme und Kränkungen der frühen Weimarer Republik zeitdiagnostisch zu erfassen.

Details

Seiten
188
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052350
ISBN (ePUB)
9783653968583
ISBN (MOBI)
9783653968576
ISBN (Hardcover)
9783631662175
DOI
10.3726/978-3-653-05235-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Sozialphilosophie Verdinglichungstheorie kritische Gesellschaftstheorie Frankfurter Schule
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 188 S.

Biographische Angaben

János Weiss (Autor:in)

János Weiss ist Professor für Philosophie an der Universität Pécs (Ungarn). Er studierte Wirtschaftswissenschaften an derselben Universität sowie Philosophie in Budapest, Frankfurt am Main, Tübingen und Berlin. Sein Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt liegt auf Adornos Ästhetik.

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