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Aleksandr Nikolaevič Radiščev (1749-1802)

Leben und Werk

von Peter Hoffmann (Autor:in)
©2015 Monographie XVI, 332 Seiten

Zusammenfassung

Aleksandr Nikolaevič Radiščev, geboren 1749, erhielt seine juristische Ausbildung an der Leipziger Universität. Er gehört zu den bedeutenden Schriftstellern Rußlands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seine von der europäischen Aufklärung beeinflußten radikalen Anschauungen werden nicht in Frage gestellt, trotzdem wird sein Werk, besonders «Die Reise von Petersburg nach Moskau», unterschiedlich interpretiert – entweder wird er als konsequenter Revolutionär oder als Vorläufer des russischen Liberalismus charakterisiert. Dieses Buch will diese Einseitigkeit überwinden und sein Werk in den Kontext der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einordnen. Das bedeutet, die verschiedenen Komponenten im Werk Radiščev als gleichwertig anzusehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Abkürzungen
  • Vorwort
  • Einleitung: Problemstellung – Quellen – Literatur
  • 1. Kindheit und Jugendjahre
  • 2. Universitätsausbildung in Leipzig
  • a. Der Weg zur Universität
  • b. Leipzig und Rußland
  • c. Auseinandersetzungen mit Hofmeister Bockum
  • d. Das Studium
  • 3. Senat und Militärjustiz
  • 4. Kommerz-Kollegium und Petersburger Gouvernementsverwaltung
  • 5. Die „Reise von Petersburg nach Moskau“
  • a. Werkgeschichte
  • b. Interpretation
  • 6. Prozeß
  • 7. Verbannung
  • a. Der Weg nach Ilimsk
  • b. Verbannung in Ilimsk
  • c. Über den Menschen, seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit
  • d. Der Weg zurück
  • e. Nemcovo
  • 8. Die letzten Lebensjahre
  • 9. Der Widerhall
  • a. Zeitgenossen
  • b. Dekabristen
  • c. Puškin
  • 10. Rezeption und Polemik
  • a. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • b. Radiščev-Rezeption in der Sowjetunion
  • Fazit: Neue Sichten – neue Probleme
  • Daten zur Biographie A. N. Radiščevs
  • Radiščev-Literatur
  • Register

Abkürzungen

 

Anm. Anmerkung.
Бабкин: Радищев – Бабкин, Д. С.: А. Н. Радищев.
  Литературно-общественная деятельность, Moskau-Leningrad 1966.
Бабкин (Hrsg.): Биография Радищева – Бабкин, Д. С. (Hrsg.): Биография А. Н. Радищева написанная его сыновьями, Moskau-Leningrad 1959.
д дело (Faszikel).
ф фонд (Fond).
Hrsg. Herausgeber.
Карякин/Плимак: Запретная мысль – Карякин, Ю. Ф./Плимак, Е. Г.: Запретная мысль обретает свободу. 175 лет борьбы вокруг идейного наследия Радищева, Moskau 1966.
Макогоненко: Радищев – Макогоненко, Г. П.: Радищев и его время, Moskau 1956.
оп опись (Registrande).
ПСЗ Полное собрание законов Российской империи, 1. Serie, Band 1-45, S. Petersburg 1830.
Радищев: Псс – Радищев, А. Н.: Полное собрание сочинений, Band IIII, Moskau-Leningrad 1938-1952.
Radistschew: A. S. – Radistschew, A. N.: Ausgewählte Schriften, übersetzt von Erich Salewski, Berlin 1959.
Radistschew: Reise – Radistschew, A. N.: Reise von Petersburg nach Moskau, übersetzt von G. Dalitz mit einem Nachwort von H. Graßhoff, Berlin 1961.
РГАДА Российский государственный архив древних актов (Russisches Staatsarchiv alter Akten, Moskau).
РГИА Российский государственный исторический архив (Russisches historisches Staatsarchiv, Sankt Petersburg). ← IX | X →
Сборник РИО Сборник императорского русского исторического общества, Band 1-148, Sankt Petersburg/Petrograd 1867-1916.
СК Сводный каталог русской книги XVIII века 1725 – 1800, Band I – V, Moskau 1963-1967, Дополнения 1975.
Старцев: Радищев в годы – Старцев, А. И.: Радищев в годы «Путешествия», Moskau 1960 (2. Auflage: Радищев. Годы испытаний, Мoskau 1990).
Старцев: Унив. годы – Старцев, А. И.: Университетские годы Радищева, Moskau 1956 (2. Auflage: Радищев. Годы испытаний, Мoskau 1990).
Шторм: Потаенный Радищев – Шторм, Г.: Потаенный Радищев. Вторая жизнь «Путешествия из Петербурга в Москву», 3. Auflage, Moskau 1974.
Светлов, Радищев Светлов, Л. Б.: Александр Николаевич Радищев, Moskau 1958.
Татаринцев: Архивные разыскания – Татаринцев, А. Г.: А. Н. Радищев. Архивные разыскания и находки, Ishewsk 1984. ← X | XI →

Vorwort

Mit der vorliegenden Monographie kehre ich zu den Anfängen meiner wissenschaftlichen Laufbahn zurück. 1953 hatte ich als Staatsexamensarbeit zum Abschluß meines Geschichtsstudiums an der Berliner Humboldt-Universität eine Studie „Radiščev in Leipzig 1767-1771“ eingereicht. Wie es zu dieser Arbeit gekommen ist, ursprünglich hatte mir mein Universitätslehrer Eduard Winter eine andere Thematik vorgeschlagen, habe ich in meiner Autobiographie dargelegt (In der hinteren Reihe, Berlin 2006, S. 168). Die Ergebnisse meiner Staatsexamensarbeit konnte ich in zwei Aufsätzen 1956 in der Festschrift zu Eduard Winters sechzigstem Geburtstag „Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten“ und 1959 im ersten Band der Festschrift „Karl-Marx-Universität-Leipzig 1409-1959“ veröffentlichen. Seit dieser Zeit hat mich die Radiščev-Thematik nicht mehr losgelassen. Lange Zeit hatte ich erwogen, sie zu meinem Habilitationsthema zu machen. Dementsprechend habe ich dazu Aufsätze veröffentlicht, außerdem gibt es unveröffentlichte Teilausarbeitungen. Am Institut für Geschichte an der damaligen Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, das war meine Arbeitsstelle, stieß die von mir für die Habilitation gewählte Thematik auf Schwierigkeiten und wenig Verständnis. Mir wurde gesagt, mein Thema sei mehr der Slawistik und Philosophie, weniger der Geschichte zuzuordnen. Ich sah mich daher veranlaßt, für die Habilitation ein anderes Thema zu suchen. Aber auch als die Radiščev-Problematik für die Habilitation nicht mehr aktuell war, habe ich die Literatur zu diesem Thema aufmerksam verfolgt und weiterhin zu dieser Thematik publiziert. Bei Archivstudien in Leningrad konnte ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei Arbeiten zu einer anderen Thematik bis dahin unbekannte Materialien über den Staatsdienst Radiščevs ermitteln und durch Aufsätze zugänglich machen.

Im Laufe der Jahrzehnte war für mich die Radiščev-Thematik immer präsent: auf Konferenzen, in Gesprächen, im Briefwechsel usw. Auf der Slawistenkonferenz in Berlin im November 1954 konnte ich die Ergebnisse meiner Staatsexamensarbeit vorstellen, auf dem V. Internationalen Slawistenkongreß in Sofia ← XI | XII → 1965 sprach ich über „Probleme des Übergangs von der Aufklärung zu revolutionärer Thematik im Schaffen A. N. Radiščevs“ (Zeitschrift für Slawistik, Band VIII (1963, 3), S. 424-434).

Meine Sicht auf Radiščev, auf sein Werk und auf seine Wirkung, hat sich im Laufe der Zeit grundsätzlich geändert. Anfangs sah ich in Radiščev – der damaligen sowjetischen Forschung folgend – den ersten Revolutionär in der Geschichte Rußlands. Diese Wertung hat mit dem vertieften Studium der Geschichte der Aufklärung und ihrer speziellen Entwicklung in Rußland allmählich an Bedeutung verloren. Ich ordnete sein Wirken in die Zeit des Übergangs von der Aufklärung zur revolutionären Bewegung ein. Eine Zwischenetappe in dieser Entwicklung war mein 1977 veröffentlichter Aufsatz „Voraussetzungen und Anfänge einer revolutionären Ideologie in Rußland“. Hier formulierte ich: „Erst die Vereinigung der antifeudalen Gedanken der Aufklärung mit dem Haß der unterdrückten Bauern gegen Leibeigenschaft und Adelsherrschaft führte zur Herausbildung der ersten eigenständigen revolutionären Ideologie in Rußland, der Ideologie der Adelsrevolutionäre“ (Klassenkampf und revolutionäre Bewegung in der Geschichte Russlands von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Berlin 1977, S. 71 f.). Aber noch hatte ich die „alternative Sicht“ – entweder Revolutionär oder Liberaler – nicht überwunden, ja nicht einmal die Problemstellung erfaßt.

In Rußland beginnt eine revolutionäre Traditionslinie, das war damals bereits meine Auffassung, erst mit den Dekabristen. Dementsprechend sah ich Radiščev als Vorläufer, als Vertreter einer „radikalen Aufklärung“ (ebenda, S. 85). Aber den folgenden Schritt konnte ich damals noch nicht gehen: Zur Zeit Radiščevs stand für Rußland noch nicht die Alternative einer liberal-evolutionären oder einer revolutionären Entwicklung auf der Tagesordnung. Daß im Schaffen Radiščevs beide Entwicklungslinien als Möglichkeit angedacht waren, hebt ihn über die Denker seiner Zeit hinaus. Eine Entscheidung für die eine oder die andere Richtung zu treffen, war in seiner Zeit noch nicht möglich und nicht notwendig. Die Fragestellung lautet also nicht „entweder liberal – oder revolutionär“, sondern in der Tendenz „sowohl – als auch“.

Eindeutig habe ich meine neue Einstellung, der zu Folge Radiščev als konsequenter Denker in seiner Zeit sowohl als Vorläufer der russischen revolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts als auch des russischen Liberalismus jener Zeit anzusehen ist, im Beitrag zum 250. Geburtstag Radiščevs dargelegt: „’Ich blicke über ein Jahrhundert hinaus…’ Radiščevs Zukunftsvision“ (In: Osteuropa in ← XII | XIII → Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher 3(1), 2001, S. 31-50). Heute vertrete ich die Ansicht, daß das Zentralproblem für Radiščev das Erringen persönlicher Freiheit gewesen ist. Wenn man mit dieser Fragestellung sein Werk interpretiert, lassen sich viele scheinbare Widersprüche auflösen.

Auch wenn ich die euphorische Begeisterung, die mich anfangs für das Werk Radiščevs erfaßt hatte, heute nicht mehr teile, halte ich sein Wirken nach wie vor für eine beachtenswerte Leistung. Das Werk Radiščevs bleibt unverzichtbarer Bestandteil der russischen Geschichte und Literaturgeschichte, es gehört zugleich in die Geschichte des politischen Denkens und auch der Philosophie. Damit erscheint es mir auch unter den jetzigen neuen Bedingungen durchaus angebracht, meine jahrzehntelangen Studien zu dieser Problematik durch eine zusammenfassende biographische Monographie zu einem Abschluß zu bringen. Dabei bleibe ich meiner Profession treu, als Historiker wende ich mich vorrangig den Fakten der Biographie und der Rezeption seines Werkes zu, literarische und philosophische Interpretation treten demgegenüber deutlich in den Hintergrund und bleiben der historischen Fragestellung nachgeordnet.

Vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt in der Sowjetunion die Radiščev-Forschung durch die einseitige Auffassung, hier den ersten Revolutionär in der Geschichte Rußlands nachweisen zu können, wesentliche Anregungen. Wenn dabei auch die Einordnung in den gesamteuropäischen Prozeß der Aufklärung weitgehend ausgeblendet geblieben ist, konnten dennoch wichtige Detailangaben zur Biographie und zum Werk Radiščevs zusammengetragen werden. In den Publikationen von Dmitrij Semenovič Babkin, Georgij Pantelejmonovič Makogonenko, Abel’ Isaakovič Starcev, Leonid Borisovič Svetlov und anderen wurde in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der damalige Stand dieses in vielen Detailstudien und Aufsätzen akkumulierte Wissen zusammengefaßt und verallgemeinert. Weitergeführt wurden diese Arbeiten von Georgij Petrovič Štorm, Aleksandr Grigor’evič Tatarincev, Vladimir Aleksandrovič Zapadov und anderen, die wesentliche, bisher unbekannte Materialien in die Radiščev-Forschung einführten.

Als eine Reaktion auf die sehr intensive, wenn auch einseitige Forschung in der Sowjetunion sind die in anderer Hinsicht einseitigen englischsprachigen Radiščev-Monographien von David Marshall Lang (1959) und von Allen Mc-Connell (1964) anzusehen, die Radiščev ausschließlich als Vorläufer einer liberalen Entwicklung interpretieren. ← XIII | XIV →

Ein Vergleich dieser älteren Literatur mit dem derzeitigen, überwiegend nur in verstreuten Aufsätzen vermittelten heutigen Wissensstand läßt erkennen, wie stark sich in den letzten Jahrzehnten die Kenntnisse über Leben und Werk sowie das Umfeld Radiščevs erweitert und vertieft haben. Auch das war ein Anreiz, das heutige Wissen zugänglich zu machen. Mit der vorliegenden Ausarbeitung konnte auf Gedanken und Formulierungen früherer Vorlagen und Veröffentlichungen zurückgegriffen werden. Ein Gesamtbild ist nur zu zeichnen, wenn die umfangreichen Forschungen meiner Kollegen in Rußland und in Deutschland, aber auch in England einbezogen werden.

Die Gestaltung der vorliegenden Ausarbeitung folgt den in meinen früheren Publikationen angewandten Grundregeln. Literatur wird bei der ersten Nennung innerhalb eines Kapitels vollständig zitiert, danach in einer eindeutigen Kurzform. Für verschiedene für die gesamte Arbeit bedeutsame Titel wird eine Kurzform benutzt, die in dem vorangestellten Abkürzungsverzeichnis aufgelöst ist.

Die Bibliographie beschränkt sich auf die spezielle Radiščev-Literatur, die allgemeine Literatur (Gesamtdarstellungen, Handbücher, Lexika, Spezialstudien usw.) wird in den Anmerkungen vollständig zitiert.

In den Angaben zur Biographie einzelner Persönlichkeiten werden der „Allgemeinen deutschen Biographie“, der Wikipedia und anderen biographischen Lexika entnommene Angaben in der Regel nicht besonders belegt. In der Literatur finden sich zu von mir angeführten Personen häufig widersprüchliche Angaben – unterschiedlicher Vatersname, abweichende Datierungen. In diesen Fällen habe ich mir zuverlässig erscheinende Angaben übernommen, kann aber für die Richtigkeit nicht in jedem Fall garantieren. Russische Personennamen werden in wissenschaftlicher Transliteration angeführt. Dieses Prinzip ließ sich jedoch nicht immer konsequent anwenden, so war in Zitaten die in der Vorlage verwandte Schreibweise zu übernehmen. In Zweifelsfällen werden im Register Hinweise auf andere Schreibweisen eingefügt.

Daten werden für Rußland nach dem alten Stil, für Mittel- und Westeuropa nach dem neuen Stil, angeführt, in Zweifelsfällen erfolgt eine Doppeldatierung alter Stil/neuer Stil (die Differenz betrug im 18. Jahrhundert 11 Tage, im 19. Jahrhundert 12 Tage). Geographische Namen werden in der Regel in einer in deutschen Atlanten üblichen Form (populäre Transkription) wiedergegeben, wobei jedoch grundsätzlich zwischen ж (sh) und ш (sch) unterschieden wird. Da ich die „Reise von Petersburg nach Moskau“ in der deutschen Übersetzung von 1961 ← XIV | XV → zitiere, gebe ich auch die Kapitelüberschriften bei Zitaten aus Radiščevs „Reise von Petersburg nach Moskau“ in der hier genutzten Transkription an.

Wenn ich im Folgenden Namen von Kollegen nenne, mit denen ich sachbezogen diskutiert habe, dann kann diese Liste keine Vollständigkeit beanspruchen. Genannt seien Margarita Arzumanovna Arzumanova, Pavel Naumovič Berkov, Natal’ja Dmitrievna Kočetkova, Evgenij Grigor’evič Plimak, Jurij Vladimirovič Stennik, Aleksandr Grigor’evič Tatarincev, Helmut und Annelies Graßhoff, Conrad Grau, Erhard Hexelschneider, Siegfried Hillert, Lothar Kölm, Ulf Lehmann, Harald Raab, Michael Schippan, Theodolius Witkowski, viele andere Namen könnte ich hier noch anführen.

Wie meine früheren Arbeiten haben auch diesmal mehrere Kollegen meine Ausarbeitung mitgelesen und mir manche Anregung zur Ergänzung, Korrektur und Überarbeitung vermittelt. Dank dafür gebührt Erhard Hexelschneider, Lothar Kölm, Michael Schippan und Erika Voigt.

Nassenheide, im Frühjahr 2014 ← XV | XVI → ← XVI | 1 →

Einleitung: Problemstellung – Quellen ‒ Literatur

In der Geschichte des geistigen Lebens Rußlands und der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts gebührt Aleksandr Nikolaevič Radiščev ein besonderer Platz. Das ist unbestritten, auch wenn seine Bewertung recht unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob er als Revolutionär oder als radikaler Denker liberaler Richtung charakterisiert wird. Dabei sollte auch der Begriff Revolutionär eindeutig definiert werden. In diesem Sinne ist derjenige, der eine Revolution nicht ablehnt, sie für möglich hält, noch kein Revolutionär – dazu gehört zumindest aktiver Einsatz bei der unmittelbaren Vorbereitung und Durchführung einer revolutionären Aktion. Jedenfalls ist es nicht üblich, Rousseau, Montesquieu, Voltaire und andere französische Aufklärer, die durch ihre Schriften die Große Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitet haben, als „Revolutionäre“ zu bezeichnen.

Erst in jüngster Zeit beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß für die Zeit Radiščevs, für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, sich eine auf Reformen orientierte und eine den gewaltsamen „revolutionären“ Umsturz nicht ablehnende Auffassung durchaus ergänzen können. Die Radiščev eigene radikale Weltanschauung ließ eine Entwicklung in beiden Richtungen offen. Radiščev lebte in einer Zeit, in der sich der moderne Revolutionsbegriff erst herauszubilden begann. Damals strebten selbst radikale Denker noch nicht neue Verhältnisse an, sondern sie wollten – ich zitiere Karl Griewanks Feststellung – „Altes oder schon Errungenes, in jedem Fall ein Bleibendes, erhalten oder wieder herstellen.“1 Der Widerstand gegen bestehende Mißstände hatte nicht das Ziel, einen neuen Zustand zu schaffen, sondern er war „Bestandteil des geltenden Rechtes und […] Regulativ gegen tyrannische Obrigkeiten“.2 ← 1 | 2 →

Mit einer solchen Definition ist auch das Streben Radiščevs charakterisiert. Er wollte allgemein persönliche Freiheiten durchsetzen. Das schien ihm im Rahmen der gegebenen Verhältnisse durchaus möglich zu sein, der Weg dorthin war für ihn noch in jeder Weise offen. Erst für die folgende Generation, die Dekabristen, sollte diese Problematik Alternativcharakter annehmen. Über Radiščev könnten die Rousseau charakterisierenden Worte gesagt sein: „Alles andere als ein Revoluzzer, und gewaltbereit war er schon gar nicht […], jedoch rechtfertigte er mit seinen radikalen Argumenten die Beseitigung von existierenden Herrschaftsverhältnissen durch die Beherrschten.“3

Radiščevs Ziel war die persönliche Freiheit. Seine Auffassung nach konnte das auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden: vorzuziehen sei der Weg der Reformen, aber nicht auszuschließen sei die Notwendigkeit des Aufstandes, des gewaltsamen Umsturzes. Daß Radiščev für die Erringung der Freiheit beide Wege – sowohl den Aufstand (das Wort Revolution findet sich bei ihm nicht) als auch Reformen – in Betracht gezogen hat, hebt ihn über die Denker seiner Zeit hinaus. Für ihn waren das zwei Möglichkeiten, aber noch nicht sich gegenseitig ausschließende Alternativen. Eine Entscheidung für den einen oder den anderen Weg sollte erst im 19. Jahrhundert zwingend werden.

Wenn man die für das 19. Jahrhundert charakteristische Polarisierung beider Auffassungen in das 18. Jahrhundert überträgt, muß das Urteil einseitig werden. Eine solche Einseitigkeit in der Einschätzung der Haltung Radiščevs dominierte in der bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts erschienenen Literatur sowohl in der Sowjetunion als auch – wenn auch mit entgegengesetzter Tendenz – in der englischsprachigen Literatur. Dabei wurde von Vertretern beider Richtungen die radikale Konsequenz und die Unabhängigkeit des Denkens Radiščevs ausdrücklich betont.

In Darstellungen der russischen Geschichte und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts wurde, je nach der Sichtweise des betreffenden Autors, Radiščev entweder als der erste Revolutionär in der russischen Geschichte oder aber als Vorläufer des russischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet. Für die sowjetische Historiographie war die Bewertung Radiščevs als Revolutionär unverzichtbar. Die vor der Revolution 1917 erschienenen ← 2 | 3 → Radiščev-Publikationen näherten sich – vielfach schon aus Zensurgründen – überwiegend einer entgegengesetzten Auffassung. In der Polemik wurde von beiden Seiten den Vertretern anderer Auffassungen „Verfälschung“ der Anschauungen Radiščevs vorgeworfen. Das ist als Überspitzung anzusehen. Da für Radiščev die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildende Aufgliederung des fortschrittlichen Lagers in einen liberalen und einen revolutionären Flügel noch ohne Bedeutung war, sind beide Ansichten als berechtigt, aber doch als einseitig anzusehen.

Als Einführung in die Radiščev-Forschung sind als ältere, problemorientierte Übersichten die Publikationen von Pavel Naumovič Berkov,4 der gemeinsame Aufsatz des Philosophen und Journalisten Jurij Fedorovič Karjakin und des Historikers Evgenij Grigor’evič Plimak5 sowie mein älterer Literaturbericht „Stand und Aufgaben der Radiščev-Forschung“6 nützlich. Karjakin und Plimak haben ihre Gedanken erweitert in dem Buch „Verbotene Gedanken erhalten Freiheit. 175 Jahre Kampf um das ideologische Erbe Radiščevs“7 dargelegt. Bei diesen älteren Berichten ist die zeitgebundene Orientierung zu berücksichtigen, so waren religiös-theologische Fragestellungen von vornherein ausgeschlossen, auch die Freimaurerbewegung wurde nur marginal und recht einseitig beachtet. Die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die eine revolutionäre Interpretation zulassenden Ausführungen Radiščevs zu konzentrieren, führte zu einer Verengung des Blickfeldes.

Details

Seiten
XVI, 332
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052589
ISBN (ePUB)
9783653969863
ISBN (MOBI)
9783653969856
ISBN (Hardcover)
9783631658963
DOI
10.3726/978-3-653-05258-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
europäische Aufklärung Revolutionär russischer Liberalismus russische Literatur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XVI, 332 S.

Biographische Angaben

Peter Hoffmann (Autor:in)

Peter Hoffmann studierte Osteuropäische Geschichte und Slawistik an der Humboldt-Universität Berlin und war im Anschluß an historischen Instituten der Deutschen Akademie der Wissenschaften sowie der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig. Er veröffentlichte Quelleneditionen, Aufsätze und Monographien zur russischen Geschichte und zu den deutsch-russischen Beziehungen vorwiegend des 18. Jahrhunderts, u.a. Biographien zu Anton Friedrich Büsching, Gerhard Friedrich Müller und Michail Vasil’evič Lomonosov.

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