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Literaturkritik ohne Sprachkritik?

Theodor Fontane, Alfred Kerr, Karlheinz Deschner, Marcel Reich-Ranicki und Kollegen

von Nicole Kaminski (Autor:in)
©2015 Dissertation 291 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch hat überhaupt keine Sprache! Mit diesem Urteil einer prominenten Kritikerin lassen sich viele Rezensionen überschreiben: Literatur- und Theaterkritiker enthalten sich oft einer Bewertung der Sprache – das gilt für berühmte Kritiker aus dem 19. Jahrhundert, wie Theodor Fontane oder Alfred Kerr, ebenso wie für Marcel Reich-Ranicki und seine Kollegen. Nach welchen Kriterien bewertet Fontane die Sprache? Warum kritisiert Reich-Ranicki die Sprache so selten? Wodurch werden Sprachbewertungen verdrängt? Die Autorin analysiert über 1550 Rezensionen aus Tages- und Wochenzeitungen, Literaturzeitschriften und Essaysammlungen. Durch die Kategorisierung und Auswertung der zahlreichen Sprachurteile gelingt es ihr, generelle Tendenzen der Literaturkritik und ihres Verhältnisses zur Sprachfrage aufzuzeigen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Widmung
  • Danksagung
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 2 „Th.F.“ – der Berliner Theaterkritiker Theodor Fontane
  • 2.1 Analyse der Theaterkritiken Fontanes aus den Jahren 1870-1894
  • 2.1.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 2.1.2 Undeutliche Urteile
  • 2.1.3 Kurze Urteile
  • 2.1.4 Kritiken übersetzter Werke
  • 2.1.5 Sprachurteile bei Schauspielerbewertungen
  • 2.1.6 Nichtsprachliche Kriterien
  • 2.1.7 Zusammenfassung
  • 2.2 Analyse von Fontanes Literaturkritiken und literarischen Portraits
  • 2.2.1 Detaillierte Sprachurteile
  • 2.2.2 Undeutliche Urteile
  • 2.2.3 Kurze Urteile
  • 2.2.4 Kritiken übersetzter Werke
  • 2.2.5 Nichtsprachliche Kriterien
  • 2.2.6 Zusammenfassung
  • 3 „K…r“ – Der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr
  • 3.1 Analyse der Kritiken aus „Die Welt im Drama“ (Band I-IV)
  • 3.1.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 3.1.2 Undeutliche Urteile
  • 3.1.3 Kurze Urteile
  • 3.1.4 Kritiken übersetzter Werke
  • 3.1.5 Nichtsprachliche Kriterien
  • 3.1.6 Zusammenfassung
  • 3.2 Analyse der Kritiken von 1918 bis ins Exil
  • 3.2.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 3.2.2 Undeutliche Urteile
  • 3.2.3 Kurze Urteile
  • 3.2.4 Sprachurteile bei Regie- und Schauspielerbewertungen
  • 3.2.5 Zusammenfassung
  • 3.3 „Sucher und Selige, Moralisten und Büßer - Literarische Ermittlungen“
  • 3.3.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 3.3.2 Undeutliche Urteile
  • 3.3.3 Kurze Urteile
  • 3.3.4 Zusammenfassung
  • 3.4 Ästhetik und Ethik – die Pfeiler der Kerr-Kritiken
  • 4 Das Kritikverständnis von Theodor Fontane und Alfred Kerr
  • 4.1 Fontanes und Kerrs Maßstäbe
  • 4.2 Die Sprachkriterien von Fontane und Kerr
  • 4.2.1 Die Sprachkritik des „bürgerlichen“ und des „impressionistischen“ Kritikers
  • 5 Berücksichtigung der Sprache in Zeitungsrezensionen
  • 5.1 Die Serie Mein Jahrhundertbuch in der Wochenzeitung DIE ZEIT
  • 5.1.1 Die Bewertung der sprachlichen Qualität der Jahrhundertbücher
  • 5.1.2 Nichtsprachliche Kriterien
  • 5.1.3 Zusammenfassung
  • 5.2 Kritiken aus Literaturbeilagen acht deutschsprachiger Zeitungen
  • 5.2.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 5.2.2 Undeutliche Urteile
  • 5.2.3 Kurze Urteile
  • 5.2.4 Das Verhältnis der Sprachanalyse zur Artikellänge
  • 5.2.5 Sprachkritik in Rezensionen übersetzter Werke
  • 5.2.6 Nichtsprachliche Kriterien
  • 6 Die Debatte um den Roman „Ein weites Feld“ von Günter Grass
  • 6.1 Günter Grass und sein langjähriger Kritiker Marcel Reich-Ranicki
  • 6.1.1 Reich-Ranickis Kritik an „Ein weites Feld“ (Spiegel vom 21.08.1995)
  • 6.2 Weitere Rezensionen zu „Ein weites Feld“ von Günter Grass
  • 6.2.1 Literaturkritik und Gesinnungsästhetik
  • 6.2.2 Detaillierte Sprachanalysen
  • 6.2.3 Undeutliche Urteile
  • 6.2.4 Kurze Urteile
  • 6.2.5 Nichtsprachliche Kriterien
  • 6.2.6 Zusammenfassung
  • 6.3 Die Mediendebatte
  • 6.3.1 Interviews
  • 6.3.2 Exkurs: Reich-Ranickis Sprachkritik an Günter Grass‘ früheren Werken
  • 6.3.3 Die Sprache der Kritik und der Metakritik
  • 6.3.4 Zusammenfassung
  • 7 Reich-Ranickis Rezensionen von Werken Nabokovs und Wellershoffs
  • 7.1 Kritiken zu Prosawerken Vladimir Nabokovs
  • 7.1.1 Bemerkungen zu Nabokovs Sprache
  • 7.1.2 Nichtsprachliche Kriterien
  • 7.1.3 Schwerpunkt der Kritiken Reich-Ranickis: Beschreibung der „Aussicht“
  • 7.2 Negative Sprachkritik am Beispiel von Wellershoffs „Schattengrenze“
  • 8 Reich-Ranickis Literaturbegriff
  • 8.1 Die Maßstäbe der Literaturbewertung von Marcel Reich-Ranicki
  • 8.2 Dualismen in der Sprach- und Literaturauffassung Reich-Ranickis
  • 8.3 Sprachkritik in den Lyrikinterpretationen „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“
  • 8.3.1 Literaturgeschichtliche und inhaltliche Informationen
  • 8.3.2 Detaillierte Sprachanalysen
  • 8.3.3 Die Realität als Maßstab der Literaturbewertung
  • 8.3.4 Zusammenfassung
  • 9 Sprachkritik in der Monatszeitschrift „literaturen“
  • 9.1 Portraits, Gespräche und Reportagen in „literaturen“ (Okt. 2000-Juni 2001)
  • 9.2 Rezensionen in „literaturen“
  • 9.2.1 Detaillierte Sprachanalysen
  • 9.2.2 Undeutliche Urteile
  • 9.2.3 Kurze Urteile
  • 9.2.4 Nichtsprachliche Kriterien
  • 9.3 „Kritik in Kürze“
  • 9.4 Rezensionen übersetzter Werke
  • 9.5 Zusammenfassung
  • 10 Deschners Literaturkritik und die Selbstkritik heutiger Autoren
  • 10.1 Karlheinz Deschners Sonderstellung in der Geschichte der Literaturkritik
  • 10.1.1 Sprachqualität als notwendiges Kriterium für Literatur
  • 10.1.2 „Zeitstil“ – „Originalität“ – „Natürlichkeit“
  • 10.1.3 Subjektive Bewertung objektiver Eigenschaften
  • 10.1.4 Wirkung und Verdienst der Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst
  • 10.2 Das „Hamburger Dogma“
  • 10.2.1 Die „dogmatische“ Sprache in „Das ist Drogen…“ (Lou A. Probsthayn)
  • 10.2.2 Zusammenfassung
  • 11 Schlussbetrachtung
  • 12 Quellenverzeichnis
  • 12.1 Beiträge zur Serie „Mein Jahrhundertbuch“ (DIE ZEIT 1999)
  • 12.2 Literaturbeilagen zur Buchmesse (Herbst 1999)
  • 12.3 Rezensionen der Literaturzeitschrift „literaturen“ (10/2000-6/2001)
  • 12.4 Literaturbeilage zur Buchmesse (Herbst 1999) / Schlussbetrachtung
  • 13 Literaturverzeichnis
  • 13.1 Allgemeines
  • 13.2 Literatur von und zu Fontane
  • 13.3 Literatur von und zu Alfred Kerr
  • 13.4 Literatur von und zu Marcel Reich-Ranicki/ Günter Grass
  • 14 Abkürzungen
  • 15 Anhang
  • 15.1 Hamburger Dogma – Vertrag der Autoren
  • 15.2 Das ist Drogen…

← 14 | 15 → „Die Sprödheit eines Satzes
läßt die echte Literatur so gleichgültig
wie seine melodische Weichheit.“

Jorge Luis Borges1

1 Einleitung

„Das Buch hat überhaupt keine Sprache“, lautete Sigrid Löfflers finales Sprachurteil im „Literarischen Quartett“, bevor sie die Büchersendung endgültig verließ.2 Beim Lesen von Literaturkritiken entsteht nicht selten der Eindruck, das rezensierte Buch habe tatsächlich „keine Sprache“. Häufig wird die sprachliche Qualität einfach übergangen.

Den Stil eines literarischen Textes zu bewerten, hält nicht nur manch ein Kritiker für bloßes „Kratzen an der Oberfläche“. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges schreibt in einem Essay von 1930, die „abergläubische Vergötzung des Stils“ habe eine einseitige Art zu lesen hervorgebracht, bei der nur noch die augenfälligen sprachlichen Fertigkeiten des Autors, wie Vergleiche, Interpunktion oder Syntax, Beachtung fänden. Der „eigentlichen Überzeugung oder Emotion“, bemängelt er, stünden solche Leser gleichgültig gegenüber: „Sie suchen nach ‚Technikerien‘ […], die sie darüber belehren sollen, ob das Geschriebene ein Recht hat oder nicht, ihnen zu gefallen.“3

Was für Borges „Stileitelkeiten“ sind, ist für Schopenhauer untrennbar mit der Substanz des Textes verbunden. Denn: „Der Stil erhält die Schönheit vom Gedanken“, so Schopenhauer. „Ist doch der Stil der bloße Schattenriß des Gedankens: undeutlich oder schlecht schreiben heißt dumpf oder konfus denken.“4 Nach dieser Definition wäre die Qualität des Stils eine Größe, die der Literaturkritiker im Blick haben müsste.

← 15 | 16 → Der Schriftsteller und Kritiker Helmut Heißenbüttel geht noch einen Schritt weiter: Er ist davon überzeugt, Literaturkritik müsse sich vor allem mit der Sprache des zu bewertenden Textes befassen. So erinnert er in seiner Textsammlung „Über Literatur“ daran, dass „Literatur nicht aus Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Meinungen, Thesen, Streitobjekten, ‚geistigen Gebrauchsgegenständen‘ usw. besteht, sondern aus Sprache […].“5 Dem Sprachexperimentator Heißenbüttel zufolge müsse sich das Urteil eines Literaturkritikers vor allem aus der sprachlichen Qualität des untersuchten Textes ableiten. Auch wenn man davon ausgeht, dass „Sprache“ sich nicht von den in ihr ausgedrückten „Vorstellungen“, „Bildern“, „Empfindungen“, usw. isolieren lässt, müsste Literaturkritik demgemäß immer auch Sprachkritik sein.

Die Sprache spielt in der Geschichte der Literaturkritik, abhängig von Sprachkonzept und Literaturverständnis, unterschiedliche Rollen. „In der Tradition der Literaturkritik gilt die Sprache als wesentliches Kriterium für die Bewertung von Literatur“, stellt Monika Schrader in ihrem Aufsatz „Sprache als Kriterium literarischer Kritik“ fest.6 Ob dem Sprachkriterium tatsächlich durchgängig eine solche Bedeutung beigemessen wurde, soll hier nicht untersucht werden. Festzuhalten ist, dass mit der durch Lessing eingeleiteten Abkehr von der Regelpoetik im 18. Jahrhundert der allgemeingültige Maßstab zur Sprachbewertung verloren ging.

In der „Hamburgischen Dramaturgie“ thematisiert Lessing, der „Vater der Literaturkritik“7, die Sprache vor allem dann, wenn es sich um Übersetzungen französischer Dramen handelt. Im Falle von Übersetzungen ist wieder ein Maßstab gegeben, an dem man die sprachlichen Qualitäten messen kann. Das Original bietet eine Orientierungshilfe, eine Vergleichsbasis. Da bei Übertragungen der sprachliche Charakter eines Textes nie völlig gewahrt bleibt, rücken die Besonderheiten der jeweiligen Nationalsprache, sowie der individuelle Stil des Autors in den Blickpunkt. Das „wesentliche Kriterium“ war für den Aufklärer Lessing allerdings die Anregung zum ← 16 | 17 → Selbstdenken. Hans-Georg Werner zufolge hat er damit ein „formales Urteilskriterium gesetzt: die Frage nach der intellektuellen Nützlichkeit eines literarischen Angebots.“8 Der Forderung nach einer zweckmäßigen, die Rationalität fördernden Dichtung, war auch Lessings Sprachkritik untergeordnet: „Er haßte Weitschweifigkeiten, ‚artiges Geschwätz‘, Phrasen, Tautologien, metaphorische Ungereimtheiten […]“, erklärt Werner.9

In den Schriften von Friedrich Schlegel, der anderen „Gipfelgestalt“10 der deutschen Kritik, finden sich durchaus einige Sprachbetrachtungen, so etwa in seinen Abhandlungen über Goethe. Auch misst er der Kritik große Bedeutung für die Sprachpflege bei: Der „Mangel an Kritik und die Folge dieses Mangels, Vernachlässigung und Verwilderung der Muttersprache“, zeige, wie nötig ein kritischer Blick auf die Sprache sei.11 Das „eigentliche Wesen und Geschäft der Kritik“ – das „Charakterisieren“ – sieht er aber nicht vornehmlich in einer detaillierten Sprachanalyse, sondern im „gründlichen Verstehen“ des Werkes, das nur dann gegeben sei, „wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann“.12 Schlegel interessiert sich in erster Linie für die strukturelle Einheit der gesamten Konstruktion; entscheidend ist für ihn, ob es dem Autor gelingt, ein „vollendete[s] Ganze[s]“ zu schaffen.13

Ein „Einheit schaffendes Band“, das sich um ein literarisches Werk legen und es zu einem künstlerischen Ganzen machen soll, fordert noch Theodor Fontane knapp hundert Jahre später.14 Der Anbruch des „feuilletonistischen Zeitalters“15 wirkt sich auch auf die Literatur- und Theaterkritik ← 17 | 18 → aus. „Indeed the feuilletonistic model came into its own with Fontane […]“, stellt Russel A. Berman fest.16 Ob Fontane schon zu den „impressionistischen“ Kritikern zu zählen ist oder ob er noch an der Schwelle vom bürgerlichen zum „impressionistischen Zeitalter“ steht, wird die Analyse seiner Kritiken zeigen. Tatsächlich verabschiedet er sich in seinen Theaterkritiken endgültig von der „Schul-Elle“, mit der man literarischen Werken seiner Ansicht nach nicht gerecht werden könne.17 „Offen und ohne Bildungsdünkel“ trete der Autodidakt Fontane seinem Publikum entgegen, bestätigt auch Rüdiger Knudsen, „aber mit begründetem Urteil.“18 Wie Fontane seine Urteile über sprachliche Qualitäten begründet, soll hier untersucht werden.

Ein weiterer Fokus wird auf einer anderen „Gipfelgestalt“ der Kritik, dem Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr liegen – „zweifellos der Mächtigste, aber auch umstrittenste Kritiker seiner Epoche“, wie Traute Schöllmann behauptet.19 Trotz akademischer Bildung schlägt auch Kerr keinen verbindlichen Kriterienkatalog auf, sondern weicht mit seiner „kunstheiteren Form“ von der „spezifisch deutsch-bürgerliche[n] Literaturtradition“ ab.20 Sein philologisches Wissen habe Kerr nicht eingeschränkt, betont auch Musil: „Daß er sah, wo die anderen die Ränder ihrer Seminarbrillen mit den Konturen des Werkes verwechselten, geschah, weil er ein Dichter-Kritiker war.“21 Inwiefern dieses Wissen in seinen sprachkritischen Urteilen zum Tragen kommt, soll die Untersuchung seiner Theaterkritiken zeigen.

← 18 | 19 → Monika Schrader zufolge steht die Sprache in der jüngeren Geschichte der Literaturkritik wieder im Mittelpunkt – auch wenn die Moderne durch ein gänzlich anderes Sprachverständnis gekennzeichnet ist. Anstelle der Auffassung von einer repräsentativen Bedeutung der Sprache sei, so Schrader, ein formalistisches Sprachverständnis getreten, wie es noch in den jüngsten strukturalistischen und formalistischen Kunsttheorien vorherrsche. „Als Kriterium für den Wert von Literatur gilt dabei die Differenzqualität von konventioneller und ästhetischer Sprachverwendung“, erklärt Schrader.22 Poetisierung werde als Prozess verstanden, in dem Bedeutungselemente des konventionellen Sprachgebrauchs verschoben, verdichtet und in neuen Funktionszusammenhängen geordnet würden. Literatur habe man vor allem als Sprachphänomen aufgefasst: „Sprache, so hieß es in den Kritiken der sechziger und siebziger Jahre, sei das eigentliche Thema moderner Literatur.“23

Die Entwicklung der literarischen Produktion des folgenden Jahrzehnts habe dies jedoch nicht bestätigt, resümiert Schrader. Auch in der Wertungsdiskussion stünde Ende der achtziger Jahre die Untersuchung von Besonderheiten der poetischen Sprache nicht mehr im Mittelpunkt.24 Wie sich die Bedeutung des Sprachkriteriums daraufhin entwickelte, wie die Sprachkritik sich in dem begrenzten Zeilen-Raum neben ausführlichen Inhaltsangaben, Autor- und Werkbiographien, weit ausholender Gesellschaftskritik u.a. behauptet oder durch welche Kriterien sie verdrängt wird, soll anhand ausgewählter literaturkritischer Beispiele aus den Jahren 1995 bis 2001 gezeigt werden.

30 Artikel zum Thema „Mein Jahrhundertbuch“, einer 1999 in der „ZEIT“ veröffentlichten Serie, sowie 296 Rezensionen aus den Literaturbeilagen acht deutschsprachiger Zeitungen, die 1999 anlässlich der Frankfurter Buchmesse erschienen sind, sollen ebenfalls im Hinblick auf die in ihnen gefällten sprachkritischen Urteile untersucht werden.

← 19 | 20 → Marcel Reich-Ranicki, viele Jahrzehnte Deutschlands prominentester und einflussreichster Kritiker, vertrat die Ansicht, die Literaturkritik sollte eine Institution sein, „die der deutschen Literatur zu zeigen vermag, was sie ist, was sie nicht sein darf und was sie sein könnte.“25 Mit Blick auf seine sprachkritischen Bewertungen soll hinterfragt werden, was Reich-Ranickis Literaturkritik „dem Leser zu zeigen vermag“.

Ein besonders spektakuläres Beispiel seiner Karriere war die hitzige Debatte um Günter Grass‘ 1995 erschienenen Roman „Ein weites Feld“, ausgelöst durch eine Briefrezension Reich-Ranickis im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. An der darauf folgenden Reaktion der Literaturkritik soll exemplarisch gezeigt werden, inwiefern nicht nur die Sprache, sondern literarische Kriterien im Allgemeinen zunehmend von außerästhetischen Aspekten, etwa politischen Überzeugungen, verdrängt werden.

Schließlich wird am Beispiel zweier Aufsatzsammlungen von Marcel Reich-Ranicki überprüft, ob er auf die sprachliche Qualität der Texte eingeht. Zum einen sollen Lyrikinterpretationen aus „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“26 untersucht werden, da Gedichte in besonderem Maße Anlass zu Sprachbetrachtungen geben. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, welchen Stellenwert die Sprachkritik in Reich-Ranickis Rezensionen von Prosawerken Vladimir Nabokovs hat.

Die acht Aufsätze über Romane und Erzählungen Nabokovs bieten sich an, weil Reich-Ranicki an Nabokovs Kunst vor allem vier Qualitäten schätzte, zu denen auch die Sprache zählt: „Die Sprache also, die Detailkunst, die Psychologie und die Phantasie.“27 Die Sprache steht an erster Stelle, sie hat demnach nicht unerheblichen Anteil an seiner Einschätzung von Nabokovs Werk. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Rezensionen sich auf Texte bezieht, die ab Mitte 1938 geschrieben wurden, d.h. sie stammen aus der Zeit, als der Emigrant Nabokov bereits in Englisch schrieb. Reich-Ranicki, des Englischen mächtig, konnte daher sowohl die deutsche Übersetzung, als auch das englische Original lesen. Es wird sich ← 20 | 21 → zeigen, ob dieser Umstand zum Anlass diente, die Sprache eingehender zu betrachten.

Oft wird von Journalisten Platzmangel für die Vernachlässigung der Sprache verantwortlich gemacht. Bei den hier untersuchten Aufsätzen zu Nabokovs Prosa von durchschnittlich zehn Buchseiten à 30 Zeilen, trifft diese Einschränkung nicht zu. Das gilt ebenso für die Literaturkritiken in der Zeitschrift „literaturen“, die bis September 2008 von Sigrid Löffler herausgegeben wurde. Anhand von 63 Rezensionen aus den Jahren 2001/2002 soll untersucht werden, ob mehr Zeilen-Raum auch mehr Raum für Sprachkritik bedeutet.

Die ausgewählten Theater- und Literaturkritiken wurden in lediglich vier Kategorien eingeteilt, um eine eindeutige Zuordnung und Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Die Kategorie „nichtsprachliche Kriterien“ umfasst Kritiken, in denen die sprachliche Qualität völlig ignoriert wird. Eine weitere Kategorie umfasst alle „undeutlichen Urteile“, in denen die Sprache zwar bewertet wird, die Kritiker sich aber auf bilderreiche, oft schwer verständliche Umschreibungen beschränken, die dem Leser keine konkrete Vorstellung von der sprachlichen Qualität vermitteln. Oft wird in diesen „undeutlichen Urteilen“ nicht klar zum Ausdruck gebracht, ob der Rezensent die Sprache des besprochenen Werkes positiv oder negativ bewertet. In diese Kategorie gehören auch Kritiken des von Walter Höllerer als „Darüber-Hinaus-Typ“ klassifizierten Rezensenten, der einen „Stil der Unsagbarkeit“ beschwört, „der uns aber keineswegs kritisch auf eine Spur hilft.“28

In der Kategorie „kurze Urteile“ geben die Kritiker mit wenigen Worten ihr Urteil über die Sprache wieder, ohne weitere Erklärungen oder erhellende Zitate. Der Leser erfährt hier zwar, ob die Sprache dem Rezensenten positiv oder negativ aufgefallen ist, muss dessen Urteil aber hinnehmen, ohne es argumentativ nachvollziehen zu können. In die Kategorie „detaillierte Sprachurteile“ fallen die Kritiken, deren Autoren ausführlich auf die Sprachqualität eingehen, d.h. ihre Sprachurteile durch Beispielzitate veranschaulichen oder sogar längere Erklärungen darüber abgeben, was sie bewogen hat, das jeweilige Urteil zu fällen. Somit wird dem Leser ermöglicht, ← 21 | 22 → die Urteilsbildung des Rezensenten zu verfolgen und dadurch – wenn auch durch den Kritiker angeleitet – zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Der Leser kann hier selbst entscheiden, welche Kriterien und Argumente des Rezensenten er überzeugend findet.

Abschließend werden zwei Beispiele vorgestellt, bei denen die Sprache im Zentrum literaturkritischer Überlegungen steht: Karl-Heinz Deschner, der in „Kitsch, Kunst, Konvention“ die sprachliche Qualität zum entscheidenden und „objektiven“ Maßstab erhebt und die Schriftstellervereinigung „Hamburger Dogma“, die sich selbst sprachliche Regeln verordnete, statt auf sprachkritische Anregungen seitens der Literaturkritiker zu warten.

_________

1Borges, Luis Jorge: Die abergläubische Ethik des Lesers. In: Ders.: Essays 1. Evaristo Carriego. Diskussionen. München/Wien 1999. S. 165.

2„Das literarische Quartett“ auf der „Expo 2000“ ausgestrahlt im ZDF am 30.06.2000.

3ebd. S. 162.

4Schopenhauer, Arthur: Aber die Sprache laßt unbesudelt. Wider die Verhunzung des Deutschen. Waltrop/Leipzig 2006. S. 19.

5Heißenbüttel, Helmut: Über Literatur. Stuttgart 1995. S. 239.

6Schrader, Monika: Sprache als Kriterium literarischer Kritik. In: Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Zeitschrift für Literaturkritik und Linguistik 71 (1988). S. 48.

7Müller, Adam: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Neuwied, Berlin 1967. S. 50.

8Werner, Hans-Georg: Selbstdenken und Mitfühlen. Zu Eigenart und Rang der Literaturkritik Lessings. In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1990. S. 25.

9ebd. S. 34.

10Barner, Wilfried: Vorbemerkungen. In: ebd. S. IX.

11Schlegel, Friedrich: Vom Wesen der Kritik. In: Kritische Schriften. München 1964. S. 394.

12ebd. S. 400.

Details

Seiten
291
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052145
ISBN (ePUB)
9783653970081
ISBN (MOBI)
9783653970074
ISBN (Hardcover)
9783631658840
DOI
10.3726/978-3-653-05214-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Theaterkritik Feuilletonismus Stilistik literarisches Quartett
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 291 S.

Biographische Angaben

Nicole Kaminski (Autor:in)

Nicole Kaminski studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Anschluss folgte ein Aufbaustudium in Buch- und Medienpraxis. Ihr besonderes Forschungsinteresse liegt in den Neueren Philologien.

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