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Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifpluralität und die Auswirkungen auf das Betriebsverfassungsrecht

von Lena Kristina Kuzbida (Autor:in)
©2015 Dissertation 300 Seiten

Zusammenfassung

Das Bundesarbeitsgericht hat im Jahre 2010 seinen über Jahrzehnte hinweg das Tarifrecht prägenden Rechtsgrundsatz der Tarifeinheit im Betrieb bei Tarifpluralität und damit das Prinzip «Ein Betrieb-Ein Tarifvertrag» aufgegeben. Zu dieser Entwicklung hat u.a. die stetige Veränderung der Gewerkschaftslandschaft in Deutschland in den letzten Jahren beigetragen. In Konkurrenz zu den klassischen DGB-Gewerkschaften traten immer öfter sogenannte Spezialisten- und Spartengewerkschaften wie die Gewerkschaft der Lokführer (GDL), der Marburger Bund, die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Gewerkschaft der Flugbegleiter (UFO). Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Rechtsprechungsänderung auf die Praxis, insbesondere mit Blick auf das Betriebsverfassungsrecht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Die Entwicklung des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bis 2010
  • I. Historische Entwicklung
  • 1. Tarifeinheit in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
  • a. Tarifeinheit in der Weimarer Republik
  • b. Tarifeinheit im Nationalsozialismus
  • 2. Das Industrieverbandsprinzip
  • 3. Der Umbruch in der Gewerkschaftslandschaft
  • 4. Die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Bisherige Behandlung von Tarifkollisionen in Rechtsprechung und Literatur
  • 1. Problemstellung
  • a. Tarifkonkurrenz im Arbeitsverhältnis
  • aa. Voraussetzungen
  • (1) Geltung mehrerer Tarifverträge für ein Arbeitsverhältnis
  • (a) Mehrfache Tarifbindung
  • (b) Unmittelbare und zwingende Wirkung
  • (aa) Zeitlicher Geltungsbereich
  • (bb) Räumlicher Geltungsbereich
  • (cc) Fachlicher Geltungsbereich
  • (dd) Betrieblicher Geltungsbereich
  • (ee) Persönlicher Geltungsbereich
  • (2) Regelung desselben Sachgebiets
  • bb. Abgrenzung zu scheinbarer Tarifkonkurrenz
  • (1) Kollision schuldvertraglicher Regelungen
  • (2) Selbstbeschränkungsklauseln
  • (3) Sich ergänzende Tarifverträge
  • (4) Ablösung
  • (5) Mischbetrieb
  • b. Tarifpluralität im Betrieb
  • aa. Voraussetzungen für eine Tarifpluralität
  • (1) Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb
  • (a) Voraussetzungen auf Arbeitgeberseite
  • (b) Voraussetzungen auf Arbeitnehmerseite
  • (2) Sich überschneidende Geltungsbereiche
  • bb. Abgrenzung zu scheinbarer Tarifpluralität
  • c. Abgrenzung
  • 2. Die Auflösung von Tarifkollisionen
  • a. Tarifkonkurrenz
  • aa. Die Rechtsprechung des BAG
  • (1) Grundsatz der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis
  • (2) Begründung
  • bb. Literatur
  • cc. Rechtsfolge
  • (1) Spezialitätsgrundsatz
  • (2) Hilfsweise Mehrheitsprinzip
  • (3) Andere Lösungsansätze
  • (a) Prinzip der größeren Sachnähe
  • (b) Posterioritätsprinzip, Prioritätsprinzip
  • (c) Unwirksamkeit einander widersprechender Regelungen
  • (d) Günstigkeitsprinzip
  • (e) Wahlrecht des Arbeitnehmers
  • (f) Vorrang mitgliedschaftlicher Legitimation
  • (4) Zwischenergebnis
  • dd. Folgen der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis
  • b. Tarifpluralität
  • aa. Frühere Rechtsprechung des BAG
  • (1) Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb
  • (2) Wichtige Entscheidungen
  • (3) Begründung
  • (a) Übergeordnete Rechtsprinzipien
  • (aa) Prinzipien der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit
  • (bb) Ordnungsfunktion des Tarifvertrages
  • (b) Praktikabilitätserwägungen
  • (aa) Fragerecht
  • (bb) Abgrenzung von Inhaltsnormen und Betriebsnormen
  • (cc) Erhöhte Verwaltungskosten
  • (dd) Betriebsfrieden
  • (ee) § 87 Abs. 1 BetrVG
  • (c) Normative Herleitung
  • (aa) Analogie zu § 3 Abs. 2 TVG
  • (bb) Analogie zu § 87 I 1 BetrVG
  • (cc) Analogie zu § 613a I 3 BGB
  • (d) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • (e) Tarifpolitische Aspekte
  • bb. Teile der Literatur
  • (1) Koalitionspluralismus und Gewerkschaftswettbewerb – Zersplitterung der Gewerkschafts- und Tariflandschaft
  • (2) Unter- und Überbietungswettbewerb
  • (3) Doppelmitgliedschaft und „Gewerkschaftshopping“
  • (a) Doppelmitgliedschaft
  • (b) „Gewerkschaftshopping“
  • cc. Rechtsfolge
  • (1) Spezialitätsprinzip
  • (2) Hilfsweise Mehrheitsprinzip
  • dd. Folgen der Tarifeinheit im Betrieb
  • (1) Individualnormen, § 4 Abs. 1 S. 1 TVG
  • (2) Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtliche Normen, § 3 Abs. 2 TVG
  • ee. Durchbrechung des Prinzips der Tarifeinheit
  • (1) Ausnahmen der Rechtsprechung
  • (a) Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln
  • (b) Nachwirkung, § 4 V TVG
  • (c) „Gewillkürte“ Tarifpluralität
  • (2) Abweichende gesetzliche Regelungen
  • (a) § 613a Abs. 1 S. 1–4 BGB
  • (b) § 8 Abs. 2 AEntG
  • ff. Kritische Stimmen
  • (1) Literatur
  • (a) Fehlende Rechtsgrundlage
  • (b) Unzulässige Rechtsfortbildung
  • (aa) Keine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung
  • (bb) Keine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung
  • (c) Widerspruch zu § 5 Abs. 4 TVG
  • (d) Verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 GG
  • (e) Bedenken gegen das Spezialitätsprinzip
  • (2) Landesarbeitsgerichte
  • (a) Rechtsprechung des LAG Bremen
  • (b) Rechtsprechung des LAG Brandenburg
  • (c) Rechtsprechung des LAG Niedersachsen
  • (d) Rechtsprechung des LAG Baden-Württemberg
  • (e) Rechtsprechung des LAG Hessen
  • (f) Rechtsprechung des LAG Rheinland-Pfalz
  • (g) Rechtsprechung des LAG Sachsen
  • (3) Rechtsprechung des BAG
  • (a) Entscheidung des 1. Senats
  • (aa) Tariffähigkeit der UFO
  • (bb) Tariffähigkeit der CGM
  • (b) Entscheidung des 7. Senats
  • (c) Entscheidung des 4. Senats
  • C. Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifpluralität
  • I. Entscheidung des 4. Senats
  • II. Entscheidung des 10. Senats
  • D. Stellungnahme zu der aktuellen Bewertung von Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität heute
  • I. Tarifkonkurrenz
  • II. Tarifpluralität
  • 1. Tarifpolitische und grundrechtliche Aspekte
  • 2. Unterschiedliche Bewertung bei Individual- und Kollektivnormen
  • a. Individualnormen
  • b. Kollektivnormen
  • c. Auflösung „betriebsweiter Tarifkonkurrenzen“
  • 3. Fazit
  • E. Neue Gesetzesentwürfe
  • I. Vorschlag von BDA und DGB
  • 1. Inhalt des Gesetzesvorschlags
  • 2. Rechtspolitische Motive
  • 3. Verfassungsrechtliche Bedenken
  • a. Verdrängung der Minderheitsgewerkschaft
  • b. Friedenspflicht
  • II. Vorschlag einer Bundesratsentschließung
  • III. Vorschlag einer Professorengruppe
  • IV. Fazit
  • F. Folgeprobleme bei Tarifpluralität
  • I. Feststellung der Gewerkschaftszugehörigkeit
  • 1. Fragerecht bei der Einstellung
  • 2. Fragerecht während des laufenden Arbeitsverhältnisses
  • 3. Auskunftsanspruch
  • II. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln
  • 1. Nichtorganisierte Arbeitnehmer
  • 2. Gewerkschaftsmitglieder
  • III. Fazit
  • G. Auswirkungen der Tarifpluralität auf das Betriebsverfassungsrecht
  • I. Folgen für die betriebliche Mitbestimmung
  • 1. Tarifvorbehalt gem. § 77 Abs. 3 BetrVG – Auswirkungen der Tarifpluralität auf die Wirkung von Betriebsvereinbarungen
  • a. Regelungsinhalt
  • aa. Begriff des Tarifvorbehalts
  • bb. Schutzzweck
  • cc. Voraussetzungen für die Sperrwirkung
  • dd. Verhältnis zu § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG
  • ee. Ausnahmen
  • b. Bisherige Lösung
  • c. Reichweite der Sperrwirkung des § 77 III BetrVG bei Tarifpluralität
  • aa. Auslösung der Sperrwirkung bei Regelung durch einen der bestehenden Tarifverträge
  • (1) Sperrwirkung durch einen bestimmten bestehenden Tarifvertrag
  • (2) Sperrwirkung durch jeden der bestehenden Tarifverträge
  • (3) Stellungnahme
  • bb. Auslösung der Sperrwirkung bei Regelung durch unterschiedliche bestehende Tarifverträge
  • cc. Sperrwirkung bei Tarifüblichkeit
  • dd. Öffnungsklausel nach § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG
  • (1) Mehrere Tarifverträge enthalten Öffnungsklauseln
  • (2) Ein Tarifvertrag enthält eine Öffnungsklausel
  • d. Bedeutung für die unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen
  • aa. Tarifgebundene Arbeitnehmer
  • bb. Nichttarifgebunde Arbeitnehmer
  • e. Konsequenzen für bestehende Betriebsvereinbarungen
  • f. Ergebnis
  • 2. Tarifvorrang gem. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG – Auswirkungen der Tarifpluralität auf die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats
  • a. Bisherige Lösung
  • b. Probleme bei Tarifpluralität
  • c. Regelungsinhalt und Sinn und Zweck
  • aa. Begriff des Tarifvorrangs und dessen Voraussetzungen
  • bb. Normzweck
  • cc. Geltungsbereich des Tarifvorrangs
  • dd. Tarifbindung
  • (1) Rechtsprechung des BAG
  • (2) Literatur
  • (3) Stellungnahme
  • (a) Gegen eine Tarifbindung durch mindestens einen Arbeitnehmer
  • (b) Gegen eine generelle Tarifbindung aller Arbeitnehmer
  • (c) Gegen eine beiderseitige Tarifbindung bei Inhaltsnormen i.S.d § 87 Abs. 1 BetrVG
  • (aa) Schutz der Tarifautonomie
  • (bb) Praktische Auswirkungen der beiderseitigen Tarifgebundenheit
  • (cc) Schutz der Nichtorganisierten
  • (4) Zwischenergebnis
  • d. Reichweite des Tarifvorrangs
  • aa. Ausschluss des Mitbestimmungsrechts im tarifpluralen Betrieb
  • (1) Auslösung der Sperrwirkung durch jeden Tarifvertrag
  • (2) Auslösung der Sperrwirkung durch einen Tarifvertrag
  • (3) Stellungnahme
  • (a) Schutzzwecke des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG
  • (aa) Auslösung der Sperrwirkung durch einen der Tarifverträge
  • (bb) Auslösung der Sperrwirkung durch jeden der Tarifverträge
  • (cc) Ausnahme bei berufsgruppenspezifischen Tarifverträgen
  • (b) Ordnungspolitische Argumente
  • (4) Konsequenzen für die Mitbestimmung des Betriebsrats
  • (5) Ergebnis
  • bb. Bindung des Arbeitgebers an zwei oder mehrere inhaltlich abweichende Tarifverträge ohne abschließende Regelung
  • (1) Zwingende Kollisionsauflösung bei Betriebsnormen
  • (2) Geltung mehrerer Tarifverträge bei Individualnormen
  • (3) Ergebnis
  • II. Folgen der Tarifpluralität für § 3 Abs. 1 BetrVG und die Organisation der Arbeitnehmervertretung durch Tarifvertrag
  • 1. Probleme bei Tarifpluralität
  • 2. Reglungsinhalt
  • 3. Lösungsansatz
  • a. „Betriebsweite Tarifkonkurrenz“
  • b. Auflösung der „betriebsweiten Tarifkonkurrenz“
  • c. Bezugspunkt für das Mehrheitsprinzip
  • 4. Ergebnis
  • III. Gemeinsame Einrichtungen gem. § 4 Abs. 2 TVG
  • 1. Überblick
  • 2. Unterscheidung nach Tarifvertrag
  • a. Tarifvertrag nach dem AEntG
  • b. Tarifverträge außerhalb des AEntG
  • aa. Kollision eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages mit einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag
  • bb. Kollision mehrerer mitgliedschaftlich legitimierter Tarifverträge
  • cc. Kollision mehrerer allgemeinverbindlicher Tarifverträge
  • 3. Ergebnis
  • H. Zusammenfassung und Endergebnis
  • I. Zusammenfassung
  • II. Endergebnis
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A.  Einleitung

Seit mehr als 50 Jahren galt bislang nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei Tarifkollision der Grundsatz der Tarifeinheit. Nach dem Prinzip „Ein Betrieb – Eine Gewerkschaft“ konnte sich lediglich ein Tarifvertrag in einem Betrieb durchsetzen, auch wenn der Arbeitgeber für diesen Betrieb an mehrere Tarifverträge mit sich überschneidenden Geltungsbereichen gebunden war. Dies galt sowohl für den Fall der Tarifkonkurrenz als auch im Falle einer Tarifpluralität. Hintergrund für diese Rechtsprechung war der pragmatische Gedanke, eine einfache und handhabbare Lösung bei auftretenden Tarifkollisionen zu schaffen. In der Literatur ist diese Vorgehensweise seit jeher auf heftige Kritik gestoßen. Bemängelt wurde durchweg ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit. Zudem hatte sich auch in der Rechtsprechung unterinstanzlicher Gerichte sowie bei vereinzelten Senaten des Bundesarbeitsgerichts in den letzten Jahren eine schleichende Distanzierung vom Grundsatz der Tarifeinheit bei Tarifpluralität im Betrieb angekündigt.

Maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat die stetige Veränderung der Gewerkschaftslandschaft in Deutschland. Neben den klassischen DGB-Gewerkschaften bildeten sich zum einen sog. Spezialisten- und Spartengewerkschaften, wie die Gewerkschaft der Lokführer GDL, der Marburger Bund, die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Gewerkschaft der Flugbegleiter UFO. Zum anderen traten zunehmend Richtungsgewerkschaften, insbesondere die im CGB zusammengeschlossenen christlichen Gewerkschaften, auf und damit ebenfalls in Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften. Diese Wandlung führte immer öfter zu einem Aufeinandertreffen konkurrierender Tarifverträge in einem Betrieb.

Das Bundesarbeitsgericht hat nunmehr seinen über Jahrzehnte hinweg das Tarifrecht prägenden Rechtsgrundsatz der Tarifeinheit im Betrieb bei Tarifpluralität aufgegeben. Mit Beschluss vom 27.01.20101 stellte der 4. Senat eine Anfrage auf Rechtsprechungsänderung an den 10. Senat. Dieser stimmte mit seinem ← 17 | 18 → Beschluss vom 23.06.20102 der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit für die Fälle von Tarifpluralität zu. Am 07.07.20103 gab der 4. Senat dann schlussendlich seine bisherige Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Betrieb auf und beendete damit eine Ära.

Diese Rechtsprechungsänderung wirft für die Praxis zahlreiche Neuerungen auf. Die Abkehr von dem Grundsatz der Tarifeinheit bedingt, dass jetzt mehrere Tarifverträge nebeneinander in einem Betrieb zur Anwendung gelangen und gegebenenfalls unterschiedliche Regelungen enthalten können, ohne dass, wie bisher, einer der konkurrierenden Tarifverträge zurücktreten muss.

Vor diesem Hintergrund stellt sich aktuell die Frage, wie mit den Folgeproblemen umzugehen ist. Zum einen führt die Umsetzung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb für den Arbeitgeber zu erheblichen organisatorischen Konsequenzen. Dieser ist nunmehr gehalten, auf jeden gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter, den für diesen gültigen Tarifvertrag anzuwenden. Dazu ist es aber unerlässlich, dass der Arbeitgeber überhaupt weiß, welcher Tarifvertrag für welchen Arbeitnehmer Wirkung entfaltet. Dies führt wiederum zu der wesentlichen Frage, ob dem Arbeitgeber ein Fragerecht nach der Gewerkschaftszugehörigkeit zusteht. Des Weiteren ist problematisch, wie mit bestehenden Bezugnahmeklauseln umzugehen ist, da es jetzt an der Bestimmtheit fehlen kann. Zudem sind auch die Auswirkungen auf das Arbeitskampfrecht nicht zu unterschätzen.

Unter Berücksichtigung der von den Kritikern der Tarifpluralität angeführten rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten soll der Fokus dieser Arbeit jedoch schwerpunktmäßig auf den Auswirkungen für das Betriebsverfassungsrecht liegen. Hier gilt es zu begutachten, welche Veränderungen sich durch das Ende der Tarifeinheit bei Tarifpluralität mit Blick auf die §§ 80 Abs. 1, 87 Abs. 1 Einleitungssatz, 77 Abs. 3, 3 Abs.1 BetrVG sowie die Gemeinsamen Einrichtungen ergeben und wie diese folglich für den tarifpluralen Betrieb zu lösen sind.

Bei mehreren, in einem Betrieb anwendbaren Tarifverträgen stellt sich auf betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Ebene daher die Frage, ob die Rechtsprechungsänderung auch hier konsequent umzusetzen ist und damit alle geltenden Tarifverträge Wirkung entfalten, oder ob zugunsten der Betriebsautonomie nur einem der Tarifwerke Vorzug eingeräumt werden darf. Anders als bei Individualnormen, wird bei betrieblichen Angelegenheiten gem. § 3 Abs. 2 TVG allein auf die Tarifbindung des Arbeitgebers abgestellt. Damit kommt es ← 18 | 19 → unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer zur Verbindlichkeit tariflicher Vorschriften für den gesamten Betrieb, wenn der Arbeitgeber an den Tarifvertrag gebunden ist. Aus diesem Grunde besteht zukünftig vermehrt die Gefahr unterschiedlicher betrieblicher Regelungen durch verschiedene Tarifverträge.

Im Hinblick auf die betriebliche Mitbestimmung ist zum einen § 77 Abs. 3 BetrVG von dem Paradigmenwechsel betroffen. Hier gilt es zu klären, welcher Tarifvertrag den Tarifvorbehalt nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG auslöst und damit abweichende Betriebsvereinbarungen des Betriebsrats sperrt. Problematisch ist zudem, wie es sich mit konkurrierenden Öffnungsklauseln gem. § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG verhält, da diese der Sperrwirkung grundsätzlich entgegenstehen. Mit Blick auf § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG und § 77 Abs. 3 BetrVG muss erörtert werden, wie mit „alten“ Betriebsvereinbarungen umzugehen ist, die bereits vor der Rechtsprechungsänderung Bestand hatten und nunmehr möglicherweise im Widerspruch zu der neuen Rechtslage stehen.

Zum anderen sind von der Rechtsprechungsänderung auch die Regelungsgegenstände des § 87 Abs. 1 BetrVG betroffen, beispielsweise Arbeitszeitmodelle oder Fragen der betrieblichen Lohngestaltung. Nach der Rechtsprechungsaufgabe sind konsequenterweise Arbeitnehmer, die dieselbe Tätigkeit ausüben, unter Umständen aufgrund ihrer jeweiligen Gewerkschaftszugehörigkeit unterschiedlich zu entlohnen, müssen unterschiedlich viel arbeiten oder haben Anspruch auf unterschiedlich viele Urlaubstage. Dies kann mit Blick auf verschiedene tarifliche Regelungen zu Arbeitszeitmodellen aber zu weitreichenden praktischen Schwierigkeiten führen. Des Weiteren ist hinsichtlich § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG zu untersuchen, welche Auswirkungen die Tarifpluralität auf den Bereich der Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten hat. In diesem Zusammenhang ist fraglich, nach welchen Kriterien zukünftig der Tarifvorrang behandelt werden soll. Hier muss mit Blick auf den Normzweck entschieden werden, ob jeder Tarifvertrag die Sperrwirkung gegenüber dem betrieblichen Mitbestimmungsrecht auszulösen vermag, oder eben nur einer der konkurrierenden Tarifverträge. Ferner ist problematisch, wie es sich mit unterschiedlichen Betriebsvereinbarungen je nach Gewerkschaftszugehörigkeit verhält. Dabei kommt es maßgeblich auf das Verhältnis zwischen Betriebs- und Tarifautonomie nach der Intention des Gesetzgebers an.

Darüber hinaus spielt die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb auch eine entscheidende Rolle in Bezug auf betriebsverfassungsrechtliche Organisationsnormen, insbesondere auf § 3 Abs. 1 BetrVG. Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass es dem Arbeitgeber frei steht, mit mehreren Gewerkschaften ← 19 | 20 → Zuordnungstarifverträge abzuschließen, die nunmehr unabhängig voneinander abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen vorsehen können.

Letztlich ergeben sich für den tarifpluralen Betrieb auch wichtige Fragen hinsichtlich der Tarifverträge über die Gemeinsamen Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG. Insbesondere außerhalb des AEntG gilt es eine Lösung zu finden, die der Aufgabe gemeinsamer Einrichtungen gerecht wird.

Das Ziel der Arbeit ist demnach eine Analyse der Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts zum Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb. Im Fokus steht dabei insbesondere, inwieweit einer Aufgabe der Tarifeinheit zugunsten von Tarifpluralität im Betrieb mit besonderem Blick auf das Betriebsverfassungsrecht gefolgt werden kann und welche Konsequenzen sich hieraus für die Arbeitsvertragsparteien und andere betriebliche Institutionen ergeben. Aus diesen Erkenntnissen gilt es, eine praxistaugliche und rechtsdogmatisch fundierte Lösung bei auftretenden Tarifkollisionen im BetrVG zu entwickeln. ← 20 | 21 →

                                                   

  1  BAG, Beschluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08, AP Nr. 46 zu § 3 TVG, NZA 2010, 645ff.

  2  BAG, Beschluss vom 23.06.2010, 10 AS 2/10, AP Nr. 47 zu § 3 TVG, NZA 2010, 778; Beschluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10.

  3  BAG, Urteil vom 07.07.2010, 4 AZR 549/08, AP Nr. 140 zu Art 9 GG, NZA 2010, 1068ff.

B.  Die Entwicklung des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bis 2010

Der Grundsatz der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis und im Betrieb hat eine lange Entwicklung hinter sich. Das bisherige Verständnis zur Behandlung von Tarifkollisionen beruhte dabei maßgeblich auf den geschichtlichen Strukturen der Gewerkschaftslandschaft sowie auf der Rechtsprechung des BAG. Viele Jahrzehnte lang galt der Grundsatz der Tarifeinheit daher als unumstößliches Rechtsprinzip. Seine gesetzliche Fixierung erfolgte jedoch nie. Vielmehr wurden von Wissenschaft und Rechtsprechung für dessen Begründung „allgemeine Rechtsprinzipien“ herausgearbeitet, die mitunter auch den der heutigen Bundesrepublik Deutschland vorangegangenen historischen Gegebenheiten geschuldet waren. Sowohl das System des Tarifrechts, als auch der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb folgten zunächst aus dem Industrieverbandsprinzips.4

Die jüngere Geschichte hat jedoch gezeigt, dass ein Wandel in der Organisationstruktur der Gewerkschaften stattfand, der mit dem Grundsatz „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ nicht immer zu vereinbaren war. Die Zunahme von sog. Sparten- und Spezialistengewerkschaften hat daher dazu geführt, dass der Druck auf das Prinzip der betriebsweiten Tarifeinheit immer größer wurde, da es der Praxis nicht länger gerecht werden konnte.

I. Historische Entwicklung

Unter dem Einfluss der TVVO im Koalitionspluralismus der Weimarer Republik gewannen die Rechtsinstitute der Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität und damit auch der Grundsatz der Tarifeinheit an Bedeutung. Zunächst stand jedoch alleine die Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis im Vordergrund. Eine Verfestigung der Tarifeinheit im Betrieb konnte erst unter den Tarifordnungen im Nationalsozialismus beobachtet werden.5 Im Nachgang wurde das Prinzip der Tarifeinheit in der Rechtsprechung immer weiter vorangetrieben. ← 21 | 22 →

1. Tarifeinheit in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

a. Tarifeinheit in der Weimarer Republik

Der Grundsatz der Tarifeinheit hatte seinen Ursprung bereits in der Weimarer Republik. Maßgeblich hierfür war die Zersplitterung der Gewerkschaftslandschaft in Richtungsgewerkschaften.

Zu Beginn des Tarifvertragswesens war die Tarifgestaltung weitestgehend dezentral organisiert, so dass es zu keiner Kollision tariflicher Regelungen kam. Damals dominierten eher kleinräumig organisierte Berufsverbände.6 Nach Aufhebung des Koalitionsverbots im Jahre 1869 und der Gründung erster gewerkschaftlicher Zentralverbände stieg jedoch die Anzahl der Tarifverträge rasch an.7 Vorherrschend waren zunächst Firmentarifverträge, so dass Tarifkonkurrenzen weiter selten blieben.

Details

Seiten
300
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051926
ISBN (ePUB)
9783653970166
ISBN (MOBI)
9783653970159
ISBN (Hardcover)
9783631658789
DOI
10.3726/978-3-653-05192-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Tarifkonkurrenz Gesetzesentwürfe Spezialistengewerkschaften GDL Pilotenvereinigung Cockpit BAG 2010
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 300 S.

Biographische Angaben

Lena Kristina Kuzbida (Autor:in)

Lena Kristina Kuzbida studierte Rechtswissenschaften an der Universität Mainz. Nach dem Referendariat am Landgericht Darmstadt folgte der Masterstudiengang Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln. Die Autorin ist als Rechtsanwältin in einer Kanzlei in Bensheim tätig.

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