Lade Inhalt...

Zivilgesellschaft im Widerstreit

Konkurrenz zwischen Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft in der Realisierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls

von Reinhard Hildebrandt (Autor:in)
©2015 Monographie 211 Seiten

Zusammenfassung

In der gegenwärtigen Demokratie spielt das zivilgesellschaftliche Engagement selbstbestimmter und selbstverantwortlicher Bürger eine immer größere Rolle. Sie geben sich selbst Gesetze und handeln danach, obgleich ihnen eigennütziges Handeln nicht fremd ist. Beide Verhaltensweisen bestimmen zivilgesellschaftliches Engagement. Zivilgesellschaftliche Gemeinwohlbelange treten zunehmend in Konkurrenz zu den etablierten Gemeinwohlbelangen des Staates und der Ökonomie. Dringendste Aufgabe der Gegenwart ist die Erarbeitung eines zivilgesellschaftlich orientierten gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls. Repräsentanten der Zivilgesellschaft sollten künftig gleichberechtigt mit den Entscheidungsträgern aus Staat und Ökonomie das gesamtgesellschaftliche Gemeinwohl realisieren. Geschieht dies nicht, ist die Demokratie gefährdet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Einleitung
  • II. Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements
  • 1. Ehrenamtliches Engagement
  • 1.1 Unterschiede in der Teilnahme
  • 1.2 Tätigkeitsfelder
  • 2. Bedingungsrahmen des freiwilligen Engagements
  • 2.1 Motive der Freiwilligen
  • 2.2 Organisatorische Bedingungen
  • 2.3 Hauptamtliche Mitarbeiter als Ansprechpartner für Freiwillige
  • 2.4 Verbesserungswünsche der Freiwilligen
  • III. Unterschiedliche Definitionen von Zivilgesellschaft
  • 1. Eine Auswahl
  • 1.1 Freiwilligensurvey
  • 1.2 Definition von Bernhard Mark-Ungericht
  • 1.3 Antonio Gramscis Begriffsbestimmung
  • 1.4 Dieter Gosewinkels und Dieter Ruchts Deutung von Zivilgesellschaft
  • 1.5 Definition der Zeitschrift „Sonderweg“
  • 1.6 Zivilgesellschaft aus der Sicht von Thomas Klie
  • 1.7 Julia Mohrs Definitionsversuch
  • 1.8 Zivilgesellschaftsdefinition der Bundeszentrale für politische Bildung
  • 1.9 Thomas Carothers’ kritische Definition der Zivilgesellschaft auf dem Hintergrund US-amerikanischer Erfahrungen
  • 1.10 Christoph Sebalds Kritik an der Zivilgesellschaft
  • 1.11 Die spezifische Positionsbestimmung der EU-Kommission
  • 1.12 Thomas Kerns Bestimmung der Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements
  • 1.13 Variabilität und Differenz in der Definition von Zivilgesellschaft
  • IV. Unterschiedliche Motivationen
  • 1. Der unterschiedlich motivierte zivilgesellschaftlich tätige Mensch als Ursache widersprüchlicher Definitionen
  • 1.1 Selbstgesetzliches und eigennütziges Verhalten von Menschen
  • 1.1.1 Begriffliche Analyse des Verhältnisses von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz
  • 1.1.2 Analyse des praktischen Verhaltens
  • 1.2 Handlungslogisch orientierte Analyse zivilgesellschaftlichen Engagements
  • 1.3 Handlungslogik in der organisierten Zivilgesellschaft
  • V. Interaktionen zwischen Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft zur Erhaltung des „formlosen Gegenhalts“
  • 1. Definition des „formlosen Gegenhalts“
  • 2. Erhaltung des „formlosen Gegenhalts“ durch den Staat?
  • 2.1 Die Exekution von Macht als Handlungslogik von Exekutive, Legislative und Judikative
  • 3. Erhaltung des „formlosen Gegenhalts“ durch die Ökonomie?
  • 3.1 Ungleichheit in gesellschaftlichen Tauschverhältnissen
  • 3.2 Ungleichgewichtige Aufteilung zwischen „Für-sich“ und „Für-den-Anderen“
  • 4. Erhaltung des „formlosen Gegenhalts“ durch die Zivilgesellschaft?
  • VI. Gemeinwohlbestimmungen von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft
  • 1. Extreme in der Gemeinwohlausrichtung
  • 2. Anspruch auf Deutungshoheit durch hegemoniale Formationen
  • 2.1 Diskursive Formationen
  • 2.2 Was unterscheidet die hegemoniale von der diskursiven Formation?
  • 2.3 Die Praxis hegemonialer Formationen
  • 2.3.1 Nichtbeachtung des formlosen Gegenhalts
  • 2.3.2 Destruktion des formlosen Gegenhalts und einseitige Gemeinwohlorientierung
  • 2.4 Unzutreffende Differenzbestimmung zwischen Interesse und Gemeinwohl am Beispiel Dietmar von der Pfordtens Untersuchung „Über den Begriff des Gemeinwohls“
  • 3. Anspruch des Staates auf Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls?
  • 3.1 Das Eingriffsrecht des Staates
  • 3.2 Deutungsanspruch des Staates in Staatstheorien
  • 3.2.1 Der Staat als Stufe in der Reinkarnation des entäußerten Weltgeists (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
  • 3.2.2 Der Staat als Garant einer gerechten Gesellschaft (Martha Nussbaum)
  • 3.2.3 Der Staat als Garant einer „Kultur der Freiheit“ (Julian Nida-Rümelin)
  • 3.2.4 Der Staat als Garant eines bürgernahen Kapitalismus (Lisa Herzog)
  • 4. Anspruch der Ökonomie auf Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls?
  • 4.1 Unhinterfragte Annahmen der makroökonomischen Grenzproduktivitätstheorie
  • 4.2 Kapitalrendite höher als der wirtschaftliche Ertrag aus dem Verkauf von Arbeitskraft – Thomas Pikettys r > g
  • 4.3 „Ureigenster Verdienst“ der Erfolgreichen?
  • 4.4 „Marktversagen“ und ökonomische Macht (Joseph E. Stiglitz “Price of Inequality”)
  • 5. Anspruch der Zivilgesellschaft auf Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls?
  • 5.1 Zivilgesellschaftliche Gemeinwohlvorstellungen
  • 5.1.1 Das engere Wohn- und Lebensumfeld als Ausgangspunkt der Wahrnehmung
  • 5.1.2 Gleichheit in der Ungleichheit
  • 6. Kritikwürdige Zustände
  • 6.1 Fragen an die Repräsentanten des Volkes
  • 6.2 Ab wann und wie werden Wähler manipuliert?
  • 6.3 Fragen anlässlich der Mindestlohndebatte
  • 6.4 Fragen zur Daseinsfürsorge
  • 6.5 Negative Auswirkungen der Steuergesetzgebung
  • 6.6 Fragen zum Verhältnis zwischen Legislative, Exekutive und Judikative
  • 6.7 Fragen zur Selbstheilungskraft des Marktes
  • 6.8 Klagen über zunehmend ungleiche Einkommen und Vermögen
  • 6.9 Konzentration in der Medienbranche
  • VII. Die Zivilgesellschaft im Konkurrenzkampf mit Staat und Wirtschaft um die Ausformulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls
  • 1. Zivilgesellschaftliche Gemeinwohlbelange
  • 1.1 Mehr Repräsentation und weniger Herrschaft
  • 1.2 Weitgehende Entscheidungsfreiheit der Repräsentanten gegenüber außerparlamentarischen gesellschaftlichen Kräften
  • 1.3 Zivilgesellschaftliches Engagement ermöglichende Arbeitszeiten, Löhne, Gehälter und Renten
  • 1.4 Restrukturierung der Daseinsvorsorge
  • 1.4.1 Exkurs: Kontroverse um eine die Leistungsbereitschaft der Bürger unterstützende staatliche Daseinsvorsorge am Beispiel des Konflikts zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten
  • 1.4.1.1 Staatliche Daseinsfürsorge im Widerstreit
  • 1.4.1.2 Der Prozess der vertraglichen Verankerung in der EU
  • 1.4.1.3 Umsetzung unter den Vorzeichen des Neoliberalismus
  • 1.5 Voraussetzungen für eine als gerecht empfundene Einkommens- und Vermögensverteilung
  • 1.6 Das Gebot einer ungleiche Lebensverhältnisse ausgleichenden Steuerpolitik
  • 1.6.1 Unterschiedliche Besteuerungsmethoden
  • 1.6.2 Steuerpolitik am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
  • 1.6.2.1 Einkommensteuer
  • 1.6.2.2 Ertragsteuer
  • 1.6.2.3 Verbrauchsteuer
  • 1.6.2.4 Substanzsteuer
  • 1.6.3 Wachsende Ungleichheit als Folge unterschiedlicher Regelungen
  • 1.7 Die Bewahrung von Medienvielfalt zur Artikulation von und Kritik an gesellschaftlichen Missständen
  • 1.8 Ein austariertes Verhältnis zwischen Exekutive, Legislative und Judikative
  • 2. Einverleibung zivilgesellschaftlicher Gemeinwohlbelange durch den Staat
  • 3. Einverleibungsversuche zivilgesellschaftlicher Gemeinwohlbelange durch staats- oder unternehmensfreundliche Stiftungen – z.B. Stiftung Zukunft Berlin, Netzwerk Bürgerbeteiligung, Bertelsmann Stiftung
  • 4. Einverleibungsversuche zivilgesellschaftlicher Gemeinwohlbelange durch Unternehmen und Markt – Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)
  • VIII. Staatliches Handeln zwischen Markt und Macht
  • 1. Unzulängliches Eingreifen des Staates
  • 1.1 Die Illusion des idealen Marktes
  • 1.2 Öffnung der hierarchischen Struktur des Staates
  • 1.3 Ungenügendes Eingreifen des Staates (dargestellt durch Joseph E. Stiglitz am Beispiel der USA)
  • 1.4 Stiglitzs Reform Agenda
  • IX. Ein austariertes Verhältnis zwischen zivilgesellschaftlichem, staatlichem und ökonomischem Gemeinwohl in der Gesamtgesellschaft
  • 1. Zu relativierende Deutungsansprüche
  • 1.1 Relativierter Deutungsanspruch des Staates
  • 1.2 Relativierter Deutungsanspruch der Ökonomie
  • 1.3 Relativierter Deutungsanspruch der Zivilgesellschaft
  • 2. Präsentation eines austarierten Verhältnisses zwischen den drei gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohlbestimmungen
  • 2.1 Was bedeutet mehr Repräsentation und weniger Herrschaft des Staates?
  • 2.2 Wie erreicht man mehr Entscheidungsfreiheit der Repräsentanten in Legislative, Exekutive und Judikative gegenüber mächtigen außerparlamentarischen Kräften?
  • 2.3 Wie sind Arbeitszeiten, Löhne, Gehälter und Renten auszurichten, damit zivilgesellschaftliches Engagement möglich ist?
  • 2.4 Auf welche Weise muss die Daseinsvorsorge restrukturiert werden?
  • 2.4.1 Gesundheitsanforderungen und mehr Ernährungssicherheit
  • 2.4.2 Kultur
  • 2.4.3 Bildung
  • 2.4.4 Umwelt, Wasser, Energie und Transport
  • 2.4.5 Wohnungswesen
  • 2.5 Steuerpolitik zur Herstellung einer als gerecht empfundenen Einkommens- und Vermögensverteilung
  • 2.6 Informations- und Meinungsfreiheit
  • 2.6.1 Schutz vor weltweiter Ausspähung der Bürger durch Geheimdienste
  • X. Zusammenfassung und Schlussreflexion
  • 1. Partialinteresse und Gemeinwohl
  • 2. Vom ehrenamtlichen Engagement zur organisierten Zivilgesellschaft
  • 3. Selbstgesetzliches und eigennütziges Handeln
  • 4. Die Erhaltung des „formlosen Gegenhalts“ in der Gesellschaft
  • 5. Kann der Staat seiner ihm anvertrauten Aufgabe gerecht werden, den „formlosen Gegenhalt“ zu erhalten?
  • 6. Kann die Ökonomie den „formlosen Gegenhalt“ garantieren?
  • 7. Erhält zivilgesellschaftliches Handeln den „formlosen Gegenhalt“?
  • 8. Was spricht gegen den Anspruch des Staates auf Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls?
  • 9. Woran mangelt es der Ökonomie, die Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls zu beanspruchen?
  • 10. An welchem Mangel scheitert bisher der Anspruch der Zivilgesellschaft auf Deutungshoheit in der Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls?
  • 11. Was sind zivilgesellschaftliche Gemeinwohlbelange? – eine kurz gefasste Aufzählung der wichtigsten Belange
  • 12. Anstrengungen zur Schaffung eines austarierten Verhältnisses zwischen zivilgesellschaftlichem, staatlichem und ökonomischem Gemeinwohl in der Gesamtgesellschaft
  • XI. Anmerkungen
  • XII. Literaturverzeichnis

| 5 →

Vorwort

Die positive Konnotation der Wortverbindung „zivilgesellschaftliches Engagement“ verdeckt den Widerstreit, in dem sich zivilgesellschaftliches Handeln in Auseinandersetzung mit dem Staat und der Ökonomie befindet. Zivilgesellschaftliches Handeln ist nicht per se altruistisch, idealistisch, interessenungebunden, uneigennützig, nicht egoistisch. Sich selbst Gesetze zu geben und danach zu handeln, also selbstgesetzlich zu agieren und dem Eigennutz als dem Gegenteil zu entsagen, entspricht nicht der Konstitution des Menschen und wird von Organisationen und Institutionen zwar angestrebt, aber oftmals verfehlt. Warum das so ist und welche Anstrengungen dennoch unternommen werden müssen, dem zivilgesellschaftlichen Engagement einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, ist das Anliegen dieses Buches.

Zivilgesellschaftliches Engagement ist in vielen Gesellschaften anzutreffen und darüber berichtende Informationen sind insbesondre über das Internet abrufbar. Sie alle zu sichten und einzuordnen würde den Umfang eines Buches sprengen. In der hier vorliegenden Behandlung des Themas wird deshalb vorwiegend auf Informationen über die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zurückgegriffen.

Großer Dank gebührt Simone Lück-Hildebrandt für die Korrektur des Manuskripts und ihre hilfreichen Verbesserungsvorschläge.

| 15 →

I. Einleitung

Die Frage, wie zivilgesellschaftliches Engagement zu beurteilen ist, öffnet zugleich den Diskurs über die Grundlagen parlamentarischer Demokratie. Während Verfassungskommentatoren die parlamentarische Demokratie unisono als Ort der Umsetzung „praktischer Vernunft“ preisen (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2013, Bd. 5, S. 24), erblicken kritische Stimmen darin das Bestreben etablierter gesellschaftlicher Kräfte, ihre Partialinteressen auf Kosten einflussärmerer Mitbewerber zum Gemeinwohl zu erheben und mit Gesetzeskraft auszustatten. Das Ideal des gesellschaftlichen Gemeinwohls als Ziel menschlichen Handelns hat für differierende Akteure unterschiedliche Bedeutung. Zivilgesellschaftlich engagierte Bürger verbinden mit ihm aufgrund ihrer besonderen Interessen etwas anderes als Parteien, Parlamentsmehrheiten, Regierungen, Unternehmen und Finanzinstitute.

Alle Beteiligten artikulieren zunächst die aus ihren Lebenslagen entstehenden Ziele, Wünsche und Bedürfnisse und die daraus abgeleiteten Belange und Interessen. Dietmar von der Pfordten konstatiert: „Würden sie das schon von vornherein mit Blick auf das Gemeinwohl tun, so würde eine normativ-individualistische Begründung gemeinschaftlichen Handelns mit Rekurs auf eben diese Belange und Interessen verfälscht oder sogar ganz unmöglich. Die Verpflichtung der Bürger auf das Gemeinwohl besteht dann erstens darin, in Formen der Abwägung dieser ihrer Belange vernünftig zu kooperieren, um das Gemeinwohl herauszufinden, und zweitens das schließlich erreichte Ergebnis zu akzeptieren und auch zu realisieren, selbst wenn sich die eigenen Belange nicht durchsetzen ließen“ (Dietmar von der Pfordten, Über den Begriff des Gemeinwohls, Universität Göttingen dpfordt@gwdg.de, S. 23/24). Die von den Bürgern mit dieser Aufgabe betrauten Parteien „gewinnen an Glaubwürdigkeit“, meint von der Pfordten, wenn sie ihre „unaufhebbare Janusköpfigkeit“ als Repräsentanten aller Bürger sowie Interessenvertreter ihrer Mitglieder und Wähler und der daraus entstehenden Spannungen reflektieren und offenlegen. Welche spezifische Verknüpfung zwischen Interessen und Gemeinwohl besteht und ob statt „vernünftiger Kooperation“ eher die Bewältigung harter Konflikte die Tagesordnung bestimmt und Repräsentanten dem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zwischen ← 15 | 16 → eigennützigem und selbstgesetzlichem Verhalten überhaupt nicht entfliehen können, beantwortet von der Pfordten nicht.

Den Repräsentanten des Volkes fällt im Parlament in der Tat die Entscheidung zu, zwischen unterschiedlichen Gemeinwohlbelangen zu wählen und hierbei die Machtunterschiede der Interessenten im Auge zu behalten. Der Parlamentsmehrheit und der Regierung obliegt die Aufgabe, für die Gemeinschaft zu handeln und in bester Abwägung das gesamtgesellschaftliche Gemeinwohl zu realisieren (ebd.). Favorisieren sie einseitig die im Parlament eingebrachten Vorschläge etablierter gesellschaftlicher Kräfte, setzen sie sich der Gefahr aus, außer- oder vorparlamentarische Diskurse engagierter Bürger nur noch als Nötigung wahrzunehmen und die darin artikulierten Zielsetzungen zu diskreditieren. Sind sie jedoch gemäß ihrem Gesamtauftrag bestrebt, das Gemeinwohl der Gesellschaft auf ein breites Fundament zu stellen, fühlen sie sich umgekehrt durch forciert eingebrachte Gemeinwohlvorschläge etablierter gesellschaftlicher Kräfte unangemessen unter Druck gesetzt. Sie fordern eventuell engagierte Bürgervereinigungen auf, Gegengewichte zur Verhaltensweise etablierter gesellschaftlicher Kräfte zu bilden, selbst in den parlamentarischen Gremien vorstellig zu werden und ihre eigenen Gesetzesvorschläge für die Ausgestaltung des Gemeinwohls einzubringen; denn wenn Bürger den Eindruck erhalten, dass ihre Belange im parlamentarischen Verfahren weitgehend unberücksichtigt geblieben sind, sehen sie sich zur Kritik aufgerufen und auf die außerparlamentarische Präsentation ihrer Vorschläge verwiesen.

Überaus zahlreiche regierungsamtliche Beteiligungsappelle erregen jedoch auch Misstrauen bei den Adressaten. Es kann sogar der Eindruck entstehen, in eine „Mitmachfalle“ gelockt zu werden. So heißt es z.B. in einer Aufforderung der „Mieterecho-Redaktion“ zur Vorstellung des Buches von Thomas Wagner: „Lange Zeit erschallte der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung vor allem aus alternativen Milieus. Mittlerweile nutzen Politik und Wirtschaft dieses Instrument vermehrt, um der schwindenden Zustimmung zu neoliberalen Reformen und umstrittenen Bauvorhaben entgegenzuwirken. Die realen Einflussmöglichkeiten werden dabei keineswegs größer. Ganz im Gegenteil: Befriedung statt Demokratisierung ist der gewünschte Effekt der simulierten Partizipation…“ (Internettext zur Buchvorstellung und Diskussion mit Thomas Wagner, Autor von „Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument“, 27.9.2013, osi-liste-owner@lists.fu-berlin.de). ← 16 | 17 → Ob jedoch generell Partialinteressen Vorrang genießen oder ein gesamtgesellschaftlicher Bezug vorherrscht, ist erst nach einer Analyse des als gesamtgesellschaftlich ausgewiesenen Gemeinwohls, seiner Strukturierung und der Vorstufen zu seiner Entwicklung erkennbar.

Eine solche Analyse rückt die vielfältigen und sehr unterschiedlichen Beweggründe aller Beteiligten ins Blickfeld und zeigt zugleich Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements auf, die sich vor allem aus der Konfrontation der vorwiegend zivilgesellschaftlichen Handlungslogik mit Handlungslogiken anderer gesellschaftlicher Kräfte ergeben. Der Widerstreit nistet im zivilgesellschaftlichen Engagement selbst und in seinem Verhältnis zu Staat und Ökonomie.

| 19 →

II. Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements

1. Ehrenamtliches Engagement

Der Freiwilligensurvey1 (Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement), im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) vom Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung München im Jahr 2009 durchgeführt (nach gleichlautenden Untersuchungen 1999 und 2004), unterscheidet für öffentliche Organisationen und Institutionen in unbesoldete/ehrenamtliche Mitarbeiter und bezahlte hauptberuflich Tätige. Ob die hauptberuflich Angestellten andere Motive leiten als die Freiwilligen, bleibt zunächst ungeklärt. Der Survey benutzt den Begriff „freiwilliges Engagement“ als sozialwissenschaftlichen Dachbegriff. Er bezieht sich mit seinen Forschungen auf die „Infrastruktur der Zivilgesellschaft“, dem sogenannten „Dritten Sektor“, worunter vor allem die in Vereinen organisierten Bereiche Sport und Bewegung sowie Kunst, Kultur und Musik zählen, aber auch Politik- und Berufsverbände sowie Freizeit und Geselligkeit, kirchliches Engagement, Beteiligungsformen in Schul-, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Umwelt- und Tierschutz sowie als besonderes Beispiel die freiwillige Feuerwehr. Die organisatorischen Formen von Gruppen und Initiativen reichen bis hin zu Großverbänden. Der sogenannte „Dritte Sektor“, innerhalb dessen sich öffentliche Beteiligung und Engagement vollziehen, ist laut Survey ein wichtiger gesellschaftlicher Bereich neben Wirtschaft und Staat. Dessen Angebote stünden allen „gutwilligen Menschen“ offen.

1.1 Unterschiede in der Teilnahme

Details

Seiten
211
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051780
ISBN (ePUB)
9783653970180
ISBN (MOBI)
9783653970173
ISBN (Hardcover)
9783631658765
DOI
10.3726/978-3-653-05178-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Gemeinwohl Entscheidungsträger Demokratie Bürger
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 211 S., 3 farb. Abb.

Biographische Angaben

Reinhard Hildebrandt (Autor:in)

Reinhard Hildebrandt studierte Politische Wissenschaften in Berlin. Er war Assistent und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Referent beim Informationszentrum des Senats von Berlin, freier Mitarbeiter des Goethe-Instituts Berlin in der Lehrerfortbildung für Deutschlehrer aus dem Ausland und Referent beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Er ist Vorstandsmitglied des Vereins SpreeAthen und organisiert in diesem Rahmen Vortrags- und Diskussionsabende zu philosophischen, literarischen und historischen Themen.

Zurück

Titel: Zivilgesellschaft im Widerstreit
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
214 Seiten