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Das Massaker erinnern

Katyń als lieu de mémoire der polnischen Erinnerungskultur

von Cordula Kalmbach (Autor:in)
©2015 Dissertation 308 Seiten

Zusammenfassung

Im Fokus dieser Studie stehen zwei Schritte: Erstens soll das Ereignis Katyń in der polnischen Erinnerungskultur verortet und sein Stellenwert für die polnische Gesellschaft erfasst werden, zweitens soll dargestellt werden, welche Auswirkungen diese Aufarbeitung auf die polnisch-russischen Beziehungen seit 1989 hat. Klar ist, dass sich die Republik Polen seit ihrer Wiederentstehung 1989 auf der Suche nach einer neuen Identität befindet und sich im Archiv der Geschichte bedient, um ein neues Gedächtnis konstruieren zu können. Da Erinnerungskultur ein soziales, aktives Phänomen ist, stützt sich diese Arbeit auf mannigfaltige Quellen, seien es Filme, Bücher, Denkmäler oder Zeitungsartikel.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • I) Warum sich mit Katyń als polnischem Gedächtsnisort beschäftigen?
  • I.1) Zusammenhang zur aktuellen Forschung
  • I.2) Die Zielsetzung der Arbeit
  • I.3) Methodische Überlegungen zur Durchführung der Arbeit
  • II) Was ist ein Gedächtnisort? Die ‚lieux de mémoire‘ des Pierre Nora
  • III) Was ist Erinnerungskultur und wozu dient sie uns?
  • IV) Jay Winters „Fiktive Verwandte“ und „Orte der Trauer“
  • IV.1) Einleitung
  • IV.2) Kollektivität & Gedenken
  • IV.3) „Sites of Mourning/Orte der Trauer“ poiu ivdjfvoilnonoun
  • IV.4) Die „fiktiven Verwandten“
  • IV.4.1) Schlüsseldefinition der „Fiktiven Verwandten“
  • IV.4.2) Die Unterschiede staatlicher und privater/ basisgesellschaftlicher Institutionen der Gedenkarbeit
  • IV.4.3) Gemeinsames Erleben traumatischer Ereignisse als Basis der Kooperation
  • IV.4.4) Abläufe des gemeinsamen Erinnerns
  • V) Polnische Erinnerungskultur
  • V.1) Allgemeine Probleme europäischer Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg
  • V.2) Wurzeln und Entstehungsprozesse der polnischen Erinnerungskultur
  • V.3) Entwicklung nach 1945
  • V.3.1) Entwicklungen der offiziellen Erinnerungskultur
  • V.3.2) Entwicklungen der inoffiziellen Erinnerungskultur
  • V.4) Entwicklung nach 1989
  • V.4.1) Die Entwicklungen
  • V.4.2) Die Probleme
  • V.4.3) Die Rolle der Denkmäler in Polen nach 1989
  • V.5) Resümee
  • VI) Katyń – das historische Ereignis und seine wissenschaftliche Aufarbeitung
  • VI.1) Die Chronologie des Verbrechens
  • VI.2) Das internationale Beschweigen des Kriegsverbrechens und seine diplomatischen Folgen
  • VI.3) Die historiografische Aufarbeitung des Kriegsverbrechens
  • VI.4) Katyń als Symbol
  • VI.5) Fazit
  • VII) Katyń und die polnisch-russischen Beziehungen
  • VII.1) Polen und Russland/Sowjetunion vor 1939
  • VII.2) Polen und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg
  • VII.3) Die Volksrepublik Polen und die Sowjetunion 1945-1989
  • VII.4) Die Republik Polen und die Sowjetunion/Russland 1989-2010
  • VII.4.1) Die polnisch-russischen Beziehungen und die Katyń-Frage nach 1990
  • VII.4.2) Die polnisch-russischen Beziehungen und die Katyń-Frage unter Putin und Kaczyński
  • VII.4.3) Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und ihre Folgen für die polnisch-russischen Beziehungen
  • VII.4.3.1) Das Unglück
  • VII.4.3.2) Die Deutung der Katastrophe
  • VII.4.4) Die Folgen für die polnisch-russischen Beziehungen
  • VII.4.5) Fazit – Die Folgen für die Republik Polen
  • VIII) Ein besonderes Denkmal: Andrzej Wajdas Film „Katyń“ als cinematografisches Denkmal
  • VIII.1) Andrzej Wajdas „Katyń“ – eine Filmvorführung
  • VIII.1.1) Die Figuren des Filmes
  • VIII.1.2) Die Komposition des Filmes
  • VIII.1.3) Die an der Produktion von „Katyń“ Beteiligten
  • VIII.2) Die Rezeption und Rezension des Filmes
  • VIII.2.1) In Polen
  • VIII.2.2) Im Ausland
  • VIII.2.3) Eine russische Annäherung
  • IX) Katyń in der Literatur
  • IX.1) Autobiografische Werke von kriegsgefangenen Offizieren
  • IX.1.1) Józef Czapski: Unmenschliche Erde (Na nieludzkiej ziemi)
  • IX.1.1.1) Eine kurze Einführung – Czapskis Kriegsgefangenschaft und sein Weg in die Freiheit
  • IX.1.1.2) Czapski und die Wand des Schweigens
  • IX.1.1.3) Die Rolle der Erinnerung und der polnischen Kultur in Czapskis Augen
  • IX.1.2) Stanisław Swianiewicz: Im Schatten von Katyń (W cieniu Katynia)
  • IX.1.3) Salomon Slowes: Der Weg nach Katyń
  • IX.1.3.1) Slowes Ziele für seine Autobiografie
  • IX.1.3.2) Jüdische Spuren in seiner Erzählung
  • IX.2) Katyń in der fiktionalen Literatur
  • IX.2.1) Katyń in der polnischen Lyrik
  • IX.2.1.1) Zbigniew Herbert: Guziki (Knöpfe)
  • IX.2.1.2) Tadeusz Szyma: Bezimiennym (Den Namenlosen)
  • IX.2.2) Schreibwettbewerbe der Katyń-Akteure: fiktionale Literatur der Angehörigen
  • IX.2.2.1) Liliana Ojrzanowska: Cieszyłam Nim dwanaście lat (Ich habe mich zwölf Jahre über ihn gefreut)
  • IX.2.2.2) Jerzy Wielebnowski: Byłem na Jego grobie (Ich war an seinem Grab)
  • IX.3) Resümee
  • X) Die Verortung Katyńs im Alltag. Katyń und seine Denkmäler
  • X.1) Was ist ein Denkmal?
  • X.1.1) Merkmale eines Denkmals
  • X.1.2) Funktionen eines Denkmals
  • X.1.3) Träger von Denkmälern
  • X.1.4) Problematik
  • X.1.5) Krieger-/Kriegsdenkmäler
  • X.2) In Polen und weltweit von Exil-Polen errichtete Katyń-Denkmäler 1950-2010
  • X.2.1) Von Exil-Polen errichtete Katyń-Denkmäler
  • X.2.1.1) Das Stockholmer Katyń-Denkmal
  • X.2.1.2) Das Londoner Katyń-Denkmal von 1976
  • X.2.1.3) Das Katyń-Denkmal von Adelaide, Australien
  • X.2.1.4) Das Katyń-Denkmal von Toronto, Kanada
  • X.2.1.5) Das Katyń-Denkmal von New Jersey, USA
  • X.2.1.6) Das Katyń-Denkmal von Baltimore, USA
  • X.2.2) An den historischen Stätten des Verbrechens von Katyń errichtete Denkmäler und Gedenkstätten
  • X.2.3) In Polen errichtete Katyń-Denkmäler
  • X.2.3.1) Das Denkmal für die im Osten Gefallenen und Ermordeten
  • X.2.3.2) Das Sanktuarium für die im Osten Gefallenen an der Boromeusz-Kirche auf dem alten zivilen Powązki-Friedhof
  • X.2.3.3) Das Katyń-Denkmal in der Senatorska-Straße/Warschau
  • X.2.3.4) Das Katyń-Denkmal vor der Katedra Polowa WP in Warschau
  • X.2.3.5) Das Katyń-Sanktuarium in der Hl. Kreuzkirche in Warschau
  • X.2.3.6) „Pietà und Engel des Todes“ in Breslau
  • X.2.3.7) Das Katyń-Kreuz auf dem Osobiwicki Friedhof in Breslau
  • X.2.3.8) Das Katyń-Kreuz auf dem Grabiszyński-Friedhof in Breslau
  • X.2.3.9) Das Sanktuarium Golgota des Ostens auf der Klosteranlage der Redemptoristen-Kirche in Breslau
  • X.2.3.10) Die Katyń-Kapelle in der Laurentius-Kirche in Breslau
  • X.2.3.11) Das Katyń-Kreuz in Krakau
  • X.3) Die Macht der Bilder und die Bedeutung einer Jahreszahl
  • XI) Die Akteursgruppen der Erinnerungskultur um Katyń
  • XI.1) Die Akteure der Erinnerungskultur um Katyń – Die Angehörigenverbände und andere Gruppierungen „fiktiver Verwandter“
  • XI.1.1) Katyń-Gesellschaft Szczecin: Der Erinnerungsband „Słowa tęsknoty“ (Worte der Sehnsucht)
  • XI.1.2) Verband der Katyń-Familien Białystok: „Ostatnia Droga“ (Der letzte Weg)
  • XI.1.3) Gemeinschaft der Katyń-Familien von Kraków: Der Jahresrückblick von 1989 bis 1995
  • XI.1.4) Verband der Katyń-Familien aus Września: Das Katyń-Denkmal in Września
  • XI.1.5) Gesellschaft der Katyń-Familien Łódź: Biogramme
  • XI.1.6) Zdzisław Peszkowski- ein Leben für die Opfer und ihre Angehörigen
  • XI.2) Die politischen Akteure der Erinnerungskultur um Katyń 1989-2010
  • XI.2.1) Polnisch und sowjetisch-russisches Engagement für Katyń seit 1989
  • XI.2.2) Lech Wałęsa
  • XI.2.3) Aleksander Kwaśniewski
  • XI.2.4) Lech Kaczyński
  • XI.2.5) Fazit
  • XI.2.6) Lech Kaczyński – Sein Leben und Wirken für Katyń
  • XI.3) Institutionen, die sich an der Manifestation des Gedächtnisortes Katyń beteiligen
  • XI.3.1) Das Katyń-Museum in Warschau
  • XI.3.2) Das IPN – Instytut Pamięci Narodowe
  • XI.3.3) Rada Ochrony Pamięci Walk i Męczeństwa - ROPWiM (Rat zur Sicherung der Erinnerung an Kampf und Martyrium)
  • XI.3.4) Katyń im Schulunterricht
  • XI.3.5) Andrzej Przewoźnik – die Stimme des Rada Ochrony Pamięci Walk i Męczeństwa (des Rates zur Erinnerung an Kampf und Martyrium)
  • XII) Resümee – Warum ist Katyń so ein wichtiger Gedächtnisort für die polnische Erinnerungskultur?
  • XIII) Abkürzungsverzeichnis
  • XIV) Literaturverzeichnis
  • XV) Abbildungsverzeichnis

← 10 | 11 → Danksagung

Besonders möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Neutatz für die vorbildliche und großartige Betreuung bedanken. Eine bessere und zuverlässigere Betreuung lässt sich nicht vorstellen. Mit viel Umsicht und fachlicher Expertise hat er diese Arbeit begleitet und auch ins Leben gerufen. Herrn Prof. Dr. Werner Frick möchte ich für die Inspiration zu den kulturwissenschaftlichen Themen danken, seine Oberseminare boten einen tiefgehenden und breitgefächerten Einstieg in das interdisziplinäre Arbeiten. Meine erste Auseinandersetzung mit Pierre Noras Gedächtnisorten fand in einem dieser Oberseminare statt.

Dem Land Baden-Württemberg danke ich für die Förderung, die ich als Stipendiatin des Promotionskollegs „Geschichte und Erzählen“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erhalten habe. Dem DAAD möchte ich für die Förderung der Forschungsaufenthalte in Polen danken, die ich während der Promotionsphase durchführen konnte.

Mein Dank gilt auch ganz besonders Frau Prof. Dr. Monika Fludernik und Herrn Prof. Dr. Ralf von den Hoff, die als Sprecher des Promotionskollegs „Geschichte und Erzählen“ sich engagiert für uns Stipendiaten einsetzten, viele anregende Diskussionen und Workshops ermöglichten und uns immer mit genügend Kritik unterstützten.

Mein besonderer Dank gilt meinen Co-Stipendiatinnen und -Stipendiaten und vielen Kommilitoninnen und Kommilitonen, mit denen ich viele angeregte Diskussionen und einen intensiven Austausch pflegte. Besonders möchte ich hier Michel Abesser, Simone Baum, Leslie Brückner, Andrea Erkenbrecher, Christopher Meid, Anna Poeplau, Laura Polexe und Kuba Sawicki danken. Mein besonderer Dank für die freundschaftliche Begleitung dieser Arbeit gilt Sibylle Willnauer, die diese Arbeit vom ersten bis zum letzten Tag unterstützte. Meiner Familie möchte ich für die langjährige Geduld und Unterstützung bei diesem Dissertationsprojekt danken und ganz besonders meiner Mutter Margret Kalmbach. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. ← 11 | 12 →

← 12 | 13 → I) Warum sich mit Katyń als polnischem Gedächtsnisort beschäftigen?

Im Zentrum dieser Arbeit steht das polnische Gedenken an das Massaker von Katyń1, das während des Zweiten Weltkrieges begangen wurde, und das im Spannungsfeld von historischem Diskurs und kulturell-gesellschaftlicher Identitätskonstruktion hier behandelt werden soll. In Betracht kommen hierfür unterschiedliche polnische Erinnerungsmedien, wie z.B. Denkmäler, Filme, literarische Texte und Zeitungsartikel. Mit ihrer Hilfe soll ein Blick auf die polnische Erinnerungskultur geworfen werden, wie sie im 20. und 21. Jahrhundert geprägt und konstruiert wurde, nämlich in Hinblick auf Funktionen von Geschichte und Erzählen in der Moderne. Der interdisziplinäre Ansatz zwischen Osteuropäischer Geschichte und Kulturwissenschaft versucht ganzheitlich das Phänomen der polnischen Erinnerungskultur zu erfassen und seine Auswirkungen im Alltagsleben der Polen festzuhalten und zu verstehen.

Die polnische Erinnerungskultur zu erforschen, ist aus vielschichtigen Gründen erstrebenswert und wichtig für einen europäischen Dialog der Nachbarländer. Die Bedeutung Polens durch seine Lage im Herzen Europas, seine vergessene Rolle in der Anti-Hitler-Koalition sowie nicht zuletzt durch seine Neumitgliedschaft in der EU regt dazu an, sich mit der Geschichte unseres Nachbarlandes zu befassen. Es herrscht dringender Nachholbedarf, Wissen und Kenntnis über unseren polnischen Nachbarstaat zu gewinnen. Dies gehört u.a. zu den Zielen dieser Arbeit. Das Leid, das der polnische Staat durch sein 123-jähriges Verschwinden von der europäischen Landkarte durch die Teilungen des 18. Jahrhunderts und durch die zwei Weltkriege erlebte, prägte eine ganz besondere Erinnerungskultur, in der sich die Polen als Märtyrernation der Welt verstanden. Zu sehen, inwiefern sich die Polen heute noch als „Messias der Nationen“ verstehen, und wie sich diese martyrologische Erinnerungskultur auf politische Handlungen und den Status quo der polnischen Gesellschaft auswirkt, erschließt ← 13 | 14 → einen zentralen Erkenntnisgewinn, um die Mentalität Polens zu verstehen und interkulturelle Missverständnisse verhindern zu helfen.

Die Umbrüche, die die polnische Gesellschaft und der polnische Staat nach dem Zusammenbruch des Sozialismus seit 1989 erleben, sind im Alltag allgegenwärtig und auf vielen Ebenen zu erfahren. So mussten der polnische Staat und die polnische Gesellschaft sich nicht nur einem radikalen ökonomischen Transformationsprozess stellen, sondern auch ihre politische und juristische Ordnung umstellen. Damit einher geht die Suche nach einer neuen polnischen Identität für Staat und Gesellschaft.

Hierfür sind Geschichte, Erinnerung und Geschichtsschreibung als Instrumente des „nation narrating process“ von zentraler Bedeutung. Die Identität zeigt sich eng mit der Vergangenheitsbewältigung verknüpft und die Erzählung soll identitätsstiftend auf die Gesellschaft wirken. Der bedeutendste Aspekt des Erzählens besteht in der Identitätskonkretheit2: „Erzählen“, um sich abzugrenzen und um die eigene Identität zu konstruieren. Die zeitgenössischen Diskurse, die über Erinnerungskultur geführt werden, spiegeln historische Ereignisse und ihre Wahrnehmung und Deutung durch die Gesellschaft wider, wobei hier die Differenzierung zwischen der Deutung durch Historiker und der „sozialen Oberfläche“ wichtig ist. Der gesellschaftliche Umgang mit der Vergangenheit, besonders die Gestaltung verschiedener Medien wie Denkmäler, Film, Literatur oder Publizistik, unterscheidet sich oft von den analytischen Deutungsversuchen der Historiker. Diese kulturellen Medien sollen der Korpus für diese Arbeit sein, um die polnische Erinnerungskultur um Katyń konkret anhand von Beispielen analysieren zu können.

Diesen Phänomenen der Identitätskonkretheit und des Erzählens, um die Geschichte aufzuschlüsseln und nachvollziehbar zu gestalten, soll in diesem Projekt nachgegangen werden. Im Vordergrund dieser Arbeit steht der polnische Weg der Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung, mit seinen Folgen für die Gesellschaft und den polnischen Staat, insbesondere mit Blick auf die polnisch-russischen Beziehungen.

← 14 | 15 → Diese Untersuchung soll anhand des Gedenkens an Katyń exemplarisch durchgeführt werden. Die zentralen Fragen sind wie und wieso Katyń als Symbol der polnischen Erinnerungskultur angesehen werden muss und welche Folgen diese polnische Erinnerung mit sich bringt. Anhand dieses Beispiels soll untersucht werden, wer in der polnischen Gesellschaft erinnert und wie erinnert wird, wie die Vergangenheit erzählt und gedeutet wird und welchen Stellenwert sie für die Gegenwart und Zukunft einnimmt. Hierzu gehört auch die Frage, welche Gruppen sich zu Erinnerungsträgern gebildet haben und was sie mit ihrer Erinnerung erreichen möchten. Hier ist besonders auf die Unterschiede zwischen der offiziellen Erinnerungskultur des polnischen Staates und der inoffiziellen Erinnerungskultur einzugehen, die von der Bevölkerung in heterogener Form getragen wird. Gerade Andrzej Wajdas Werk „Katyń“, das er seinem in Katyn ermordeten Vater gewidmet hat, zeigt den Stellenwert Katyńs im gegenwärtigen Polen und die Vernetzung von inoffizieller und ­offizieller Erinnerungskultur. Die Filmpremiere im Jahr 2007 wurde zum Teil des polnischen Staatsaktes am 17. September, der alljährlich an den Überfall der Sowjetunion im Jahr 1939 und auch an die Opfer von Katyń erinnert. Kaum ein Film erhielt national soviel Aufmerksamkeit für seine Premiere, dass er vor den politischen Führungskräften des Staates an einem nationalen Gedenktag in der Nationaloper vorgeführt wurde. Der Entstehungsprozess „Katyńs“ wurde auch jahrelang von der polnischen Presse verfolgt und dokumentiert. Deshalb eröffnet schon ein Kapitel zu Wajdas Film viel über die Erzählweisen und Mechanismen der polnischen Erinnerungskultur.

Der Einblick in die polnische Erinnerungskultur lässt gleichzeitig auch einen Blick auf den Status quo der polnischen Nation und auf die schon abgeschlossenen und noch anstehenden Stationen des Transformationsprozesses zu.

Aus diesem Grund bringt die vorliegende Untersuchung wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung der polnischen Nation in der jüngsten Vergangenheit. 20 Jahre nach dem Fall des Sozialismus ist interessant, ob sie fähig ist, sich als Staat in die Europäische Staatengemeinschaft zu integrieren oder ob sie noch mit „ihrem Chaos im kollektiven Gedächtnis“3 beschäftigt ist. Am besonderen Fall des polnischen Umgangs mit Vergangenheit ← 15 | 16 → und Erinnerung lässt sich deutlich zeigen, dass historisch entwickelte Empfindlichkeiten lange brauchen, um abzuklingen. Hierzu möchte diese Untersuchung auch einen Einblick gewähren, um die Besonderheiten des martyrologischen Geschichtsbildes und -verständnisses der Polen zu verstehen.

In einem zusammenwachsenden Europa, in dem die westliche Hälfte immer noch zu einem großen Teil auf Erkenntnisgewinn und Wissensvermittlung über unsere östlichen Nachbarn verzichtet, strebt diese Arbeit eine vermittelnde Position an, welche der deutschen und westeuropäischen Forschung neue Beiträge zur Osteuropaforschung bieten möchte. Wie verschiedene interkulturelle Missverständnisse in der Vergangenheit zeigten, ist unser Wissen und Verständnis über Osteuropa nicht ausreichend und selbstverständlich. Wer die „master novel“ eines Landes und seiner Gesellschaft versteht, kann sich kritisch und konstruktiv damit auseinandersetzen und erhält einen Zugang zu einer fremden Kultur.

I.1) Zusammenhang zur aktuellen Forschung

Die historische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen des Katyń-Komplexes ist weitgehend abgeschlossen. Die Arbeiten von Madajczyk, Lebedeva, Materski, Sanford und Cienciala4 liefern einen genauen Überblick über die Planung und Durchführung der Massaker, die Tabuisierung bis 1989 und decken viele Fakten auf, beruhend auf den 1989 gefundenen NKWD-Unterlagen. Die bisherige Aufarbeitung ist nicht vollständig, was jedoch der über 40-jährigen Tabuisierung geschuldet ist, die die Befragung der Täter als Zeugen erschwerte oder unmöglich machte. Es gibt auch Untersuchungen, die sich der juristischen Aufarbeitung und insbesondere den unterschiedlichen rechtsmedizinischen Untersuchungen der Massengräber, die von 1943 bis in die 1990er Jahren durchgeführt wurden, widmen. Da ← 16 | 17 → der Prozess der juristischen Aufarbeitung bis zum heutigen Tage nicht zufriedenstellend abgeschlossen ist, ist es schwierig, eine eindeutige Zusammenfassung zu erstellen. Das Thema der juristischen Aufarbeitung soll in dieser Arbeit nur am Rande erwähnt werden.

Auffallend ist, dass Katyń einerseits als Phänomen der Erinnerungskultur kaum erforscht ist, während Katyń und die Erinnerung an dasselbe andererseits in der polnischen Gesellschaft omnipräsent sind. Insbesondere nach der Präsidentschaft Lech Kaczyńskis und der Instrumentalisierung des Gedächtnisortes Katyń für innenpolitische und außenpolitische Zwecke sowie der tragischen Flugzeugkatastrophe von Smolensk hat Katyń selbst in der polnischen Gesellschaft einen ganz neuen Stellenwert als Gedächtnisort erhalten. Aus diesem Grunde ist es von großem Stellenwert, die Geschichtswissenschaft mit der „sozialen Oberfläche“ zusammenzuführen und beide zu hinterfragen.

Zum anderen sehen die meisten Historiker und Geisteswissenschaftler Polen in einer Übergangsphase der Identitätsfindung. Dieser Standpunkt wird sowohl von polnischer als auch von ausländischer Seite vertreten. Nach 1989 begann der polnische Staat sich radikal neu zu definieren. Der Kalender erhielt neue Feier- und Erinnerungstage, Feiertage der kommunistischen Ära wurden gestrichen. Denkmäler wurden gestürzt, Straßennamen zum wiederholten Male in der polnischen Geschichte geändert, die Geschichtsbücher wurden ausgetauscht und offiziell wehte ein neuer Wind durchs Land.5

Doch welche Veränderungen wurden vorgenommen, was haben diese für eine aktuelle Bedeutung? Und ist es ausreichend Denkmäler zu stürzen und Straßennamen zu ändern, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen? Die konkrete Frage, wie die polnische Gesellschaft und der polnische Staat mit ihrer Vergangenheit umgehen und wie sie versuchen, ihre kommunistische Vergangenheit in ein neues Polen zu integrieren, ist eminent wichtig, um das Land Polen und seine Gesellschaft verstehen zu können. ← 17 | 18 → Geschichtsaufarbeitung scheint einerseits omnipräsent zu sein, andererseits aber noch zu wenige tiefgreifende Auseinandersetzungen hervorzurufen. So gibt es zwar eine klare Distanzierung zur Volksrepublik, aber noch keine grundlegende Aufarbeitung der eigenen Rolle in der Volksrepublik. Das Negative wird oft noch stereotyp auf die Sowjetunion abgeschoben.

Es scheint nahezuliegen, dass Polen bisher weder einen einheitlichen noch einen gut funktionierenden Weg der Geschichtsaufarbeitung gefunden hat. Die letzten Ereignisse der „Luctracja“ (die behördliche Überprüfung von Staatsangestellten und Personen des öffentlichen Lebens auf eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen System) glichen eher neuen Stasi-Methoden als einem Weg, die kommunistische Ära aufzuarbeiten. Tschechien oder die ehemalige DDR könnten hier als Vorbilder dienen.

Doch woher rührt die beschwerliche Art sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Geschichte zu erzählen? Liegt dies nicht auch an der martyrologischen Besonderheit und der Jahrhunderte währenden Krise zwischen Polen und Russland, die ihren tragischen Niederschlag in der kommunistischen Besatzung Polens fand? Um Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktion zu verstehen, wendet sich diee Arbeit auch dieser Frage zu. So sollen die Beziehungen zwischen Polen und Russland über einen längeren Zeitraum betrachtet werden, um die Vorbelastungen dieser Beziehung im 20. und 21. Jahrhundert verstehen zu können. Bei allen Schwierigkeiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen, sich mit der gemeinsamen tragischen Geschichte auseinanderzusetzen, sticht doch immer wieder ins Auge, dass dieser Prozess der Verständigung in den russisch-polnischen Beziehungen kaum besteht. Die Ära der Glasnost, die auch eine kurze Ära der russisch-polnischen Annäherung und gemeinsam begonnenen Geschichtsaufarbeitung war, dauerte nur bis zur Ära Jelzin. In Putins Ära wurden die russischen Archive geschlossen und ein Dialog mit Polen abgebrochen, bis es nach der erfolgreichen Annäherung durch Tusks Bemühen ab September 2009 wieder leichte diplomatische Schritte aufeinander zu gab.

Doch wie sehr benötigt Polen eine gemeinsame Geschichtsaufarbeitung zusammen mit Russland, um sich von seinem „Chaos im kollektiven Gedächtnis“6 lösen zu können? Um mit Aleida Assmann zu sprechen, ist ← 18 | 19 → eine Begegnung zwischen Opfern und Tätern vonnöten, um die Wunden der Vergangenheit heilen zu können7. So will sich diese Arbeit besonders der Frage nach dem Einfluss der polnischen Erinnerungskultur auf die ­polnisch-russischen Beziehungen widmen, als ein weiteres Beispiel der Verschränkung von kollektiver Erinnerung und Identitätskonstruktion.

Um diesen Prozess beschreiben zu können, kommt die Organisation der Erinnerung in den Blick, sprich die unterschiedlichen Erinnerungsgruppen: Welche Rollen nehmen die Angehörigen der Opfer ein, kann man sie nach Jay Winters These als „fiktive Verwandte“ einordnen? Welche Rolle nimmt die staatliche Ausführung der offiziellen Erinnerungskultur ein? An diese Stelle gehört auch die Frage nach den Funktionen der polnischen Exilgemeinschaft und internationaler Organisationen wie beispielsweise Memorial, die sich weltweit für eine Erinnerung an Katyń einsetzen.

I.2) Die Zielsetzung der Arbeit

Das Ziel dieser Arbeit ist es schließlich, den Transformationsprozess der polnischen Gesellschaft bzw. des polnischen Staates nach dem Fall des ­Sozialismus am Beispiel Katyńs in der polnischen Erinnerung nachzuzeichnen, die Entwicklungen des Wandels zu beobachten und einzuordnen, den Status quo der polnischen Gesellschaft zu ermitteln und die polnischen Verfahren der Geschichtsaufarbeitung, inklusive der Funktion von Geschichte für die Konstruktion von Identität, der Suche nach einer neuen polnischen Identität, der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Besatzung und sowjetisch erzwungenen offiziellen Geschichtsschreibung der Volksrepublik Polen aufzuzeigen. Die Grundfrage bleibt hier jedoch die nach dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und eigener Identität.

I.3) Methodische Überlegungen zur Durchführung der Arbeit

Details

Seiten
308
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051896
ISBN (ePUB)
9783653970289
ISBN (MOBI)
9783653970272
ISBN (Hardcover)
9783631658710
DOI
10.3726/978-3-653-05189-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Kommunismus Erinnerungsorte Kriegsverbrechen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 308 S., 39 s/w Abb.

Biographische Angaben

Cordula Kalmbach (Autor:in)

Cordula Kalmbach studierte Osteuropäische Geschichte und Germanistik in Freiburg im Breisgau, Basel und Krakau.

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