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Aufklärung als Weltprojekt

Zu ihrer Phänomenologie, Geschichte und Geographie

von Hans-Otto Dill (Autor:in)
©2015 Monographie 313 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor verwendet «Aufklärung» statt als Epochenbegriff des 18. Jahrhunderts als menschlichen Subjektwerdungsprozess, nicht als Philosophie, sondern als praktisch-lebensweltliche Bewegung mit den Zielen Herrschaft der Vernunft, Toleranz, Rationalität, Gleichheit, Freiheit und Bürgerrechte. Er beschreibt Aufklärung nicht nur als Zeitverlauf, sondern als räumliche Erstreckung über West- und Mitteleuropa hinaus auf Balkan, Apennin und Pyrenäen sowie auf Nord- und Südamerika, also auf die okzidentalen bzw. semiokzidentalen Teile der Erdkugel. Aufklärung wird so zum globalisierenden Weltphänomen, dem Dill die Begriffe «Menschheit» und «Menschenrechte» zuordnet, womit aus nationalen bzw. historischen oder lokalen Identitäten eine universale, gesamtmenschheitliche Identität erwächst.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Erster Teil: Zur Geschichte und Phänomenologie der Aufklärung
  • Zweiter Teil: Aufklärung als globale räumliche Erstreckung
  • Dritter Teil: Der Erde- und Weltbegriff der Aufklärung
  • Vierter Teil: Menschheit und Menschenrechte
  • Fünfter Teil: Mythos und Aufklärung im 20. Jahrhundert
  • Schlussbemerkung
  • Bibliographie

Erster Teil

Zur Geschichte und Phänomenologie der Aufklärung

Toleranzbewegung und Aufklärung

Die Aufklärung war eine geistige Bewegung, die sich im 18. Jahrhundert in Frankreich weitgehend außerhalb der offiziellen akademischen, staatlichen und kirchlichen Institutionen entwickelte. Sie bestand ohne jede feste Organisationsstruktur aus Privatleuten, meist sogar Privatgelehrten, die sich des seit der Renaissance stark anwachsenden Widerspruchs zwischen den politischen und ökonomischen Strukturen der hochentwickelten spätfeudalen Gesellschaft und dem herrschenden obsoleten, halbmittelalterlichen Denken bewusst geworden waren und sich entschlossen hatten, dieses durch ein neues, zeitgemäßes zu ersetzen, das sie selber erarbeitet hatten und in Wort und Schrift vertraten und verbreiteten. Sie waren dabei, die folgenreichste geistige Umwälzung der damals bekannten Welt zu vollbringen.

An ihrem Beginn aber war die Aufklärung weder eine neue Gesellschaftstheorie noch eine politische Heilslehre, wie man aus dieser widersprüchlichen Konstellation zwischen avancierter Gesellschaft und zurückgebliebenem Denken schließen könnte, auch war ihr erstes Anliegen keineswegs wie man aus heutiger Perspektive und dem Wissen um die spätere Fortuna dieser Bewegung annehmen könnte, die Entlarvung von Ignoranz und Aberglauben und die Verbreitung von Rationalismus, Vernunft und Wissenschaft; sondern sie war in ihrem ersten Ursprung etwas ganz Anderes, nämlich eine praktisch-pragmatische Bewegung zur Schaffung des Friedens oder doch Waffenstillstands zwischen den beiden sich sowohl geistig, in gelehrten Abhandlungen, als auch physisch, militärisch und juristisch auf dem Schlachtfeld und vor Gericht bekämpfenden Hauptkonfessionen Frankreichs, dem Katholizismus und dem Calvinismus.

In dieser Konfliktsituation, die das Land zu zerreißen drohte, nahm sie den Kampf für ein relativ bescheidenes aber für die Bewohner des Landes hochwichtiges Ziel auf, für die Toleranz, genauer, gegen Intoleranz, und damit für den Frieden. Das Negat Intoleranz ging historisch dem positiven Begriff „Toleranz“ voraus. Erst im Ergebnis der unermüdlichen Kampagnen der Aufklärer wurde die – immer wieder einmal zurückgenommene – gegenseitige Anerkennung von Katholiken wie Protestanten als Kombattanten wie als Christenmenschen, und damit die wechselseitige „Toleranz“ von den Aufklärern durchgesetzt. ← 7 | 8 →

Toleranz vs. Intoleranz war im Ursprung ein innerchristlicher religiös-konfessioneller Dissenz zwischen katholischer Orthodoxie und protestantischer Heterodoxie. Letztere war theologischer Ausdruck des Reformwillens großer Teile der christlichen Gläubigen gegenüber der Immobilität die kirchliche Oligarchie, die sich den nach der Renaissance vor sich gehenden gesellschaftlichen, kulturellen und geistigen Veränderungen widersetzte.

Die Kommandozentrale der Toleranzgegner war die römische Kurie, die in Westeuropa gegenüber den protestantischen Rebellen eine kompromisslos harte Politik verfolgte, die zu den genannten juristischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteiungen führte.

Die Folge war im günstigsten Fall Mundtotmachung oder Vertreibung der Toleranzanhänger ins Exil, das ihnen die protestantisch regierten Länder gewährten, im schlimmsten die Entfesselung von Kriegen, Annektion von Gebieten mitsamt ihren Bewohnern und ihre Verbrennung lebendigen Leibes wegen Häresie auf den Scheiterhaufen der geistigen Polizei der Orthodoxie, der Inquisition. Es ging also nicht nur wie Friedrich II. an d’Alembert schrieb darum, „ein paar Glaubensartikel fallen zu lassen“, sondern um politische Macht und Politik und um ideologische Alleinherrschaft, weil die Konfessionen wie überhaupt die Religionen und Kirche mehr als bloße transzendente Glaubenssache waren, nämlich sich als oberste politische, ideologische, juristische und moralische In­stanzen und somit als letzte Erben eines urtümlichen Synkretismus von religiöser und weltlicher Macht ansahen.

„Toleranz“ als geistig-politische Bewegung entstand nicht zufällig, war keineswegs ein spontanes intellektuelles Phänomen, sondern war von den Exilierten in protestantischem Ambiente regelrecht als eine politisch-religiöse Strategie konzeptionell „erarbeitet“ worden. Die Idee der „Toleranz“ wurde in Ruhe, fern von den Auseinandersetzungen, in den Niederlanden unter den dorthin exilierten Protestanten und im Schutz der Könige aus dem reformierten Haus Oranien entwickelt.

Die seehandeltreibenden und handwerklich und gewerblich sehr entwickelten Niederlande demonstrierten den dortigen Exulanten höchst anschaulich, dass sich protestantischer Reformismus und wirtschaftliche sowie künstlerische und überhaupt geistige Blüte, ob im Handel und Gewerbe oder in der flämischen Malerei oder der Grotiusschen Rechtsschule, sehr gut miteinander vertrugen, dass sogar eine Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Phänomenen bestand. Die Niederlande waren nicht nur die Hauptstütze des Protestantismus, sondern auch der Toleranz und boten vielen religiös Verfolgten Unterschlupf. ← 8 | 9 → Exilgewährung muss als Maßstab und höchste Form aktiver Toleranz gewertet werden.

Das Holland der Oranier war der Fluchtort für Verfolgte aller Couleur. Unter ihnen befand sich auch der rationalistische jüdisch-portugiesische Philosoph und Linsenschleifer Baruch (E)spinoza (1632–77), der mit seiner Ethik- und Natur-Philosophie das europäische Denken aus der mittelalterlichen Scholastik führte. Er war Sohn von Israeliten, die aus Portugal wie auch aus Spanien von den „katholischen Königen“ vertrieben worden waren. Er wurde sogar wegen seiner Lehre aus dem scheinbar so toleranten Amsterdam nach Den Haag verbannt. Holland gewährte später, im aufklärerischen 18, Jahrhundert, auch dem großen französischen Aufklärer La Mettrie Exil. Doch derjenige Exulant in den Niederlanden, der die Toleranzidee, also die wechselseitige Duldung von Protestanten und Katholiken als erster systematisch ausarbeitete, war der französische Theologe, Philosoph und Universitätsgelehrte Pierre Bayle (1647–1706).

Dieser verlegte den Fokus vom „Protestantismus“ weg hin zur „Toleranz“ spätestens mit dem Erscheinen seines dictionnaire philosophique, das den Terminus „Toleranz“ in die Diskussion der Gelehrten einbrachte.

Die Toleranzbewegung wurde zum Auslöser für die Aufklärung als praktischer und dann auch theoretischer Philosophie, aber noch nicht als Kampf gegen Mythen, Fiktionen, Vorurteile und Wunderglauben, der erst später eröffnet wurde; sondern sie war eine religionspolitische Kampagne zur Durchsetzung der Toleranz zwischen den Konfessionen und Religionen.

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Toleranzidee und dem Entstehen des Protestantismus bzw. Calvinismus. – „Hugenotte“ ist weiter nichts als die volkstümliche französische Verballhornung des schwyzerdeutschen Ausdrucks Eidgenosse und wurde bald auf die Bewohner der Schweizerischen Eidgenossenschaft bzw. der Republik Genf, der Wirkungsstätte Calvins, und endlich auf alle Calvinisten ausgedehnt. In der Großregion Genf hatten sich bereits zuvor die Waldenser und Albigenser ausgebreitet – Vorläufer antiorthodoxer Sekten, die von den Behörden vertrieben worden waren.

Auch der Schweizer Urcalvinismus war wie alle Protestantismen nicht allein ein religiös-konfessionelles Phänomen, sondern tangierte politische und ökonomische Interessen. Seine Entstehung hing ursächlich mit dem Unabhängigkeitsstreben der Schwyzer von dem autoritär-zentralistischen Papsttum und der Habsburgermonarchie zusammen, ein Streben, das sich mit den politischen und wirtschaftlichen Interessen der frühkapitalistischen, eine protestantische Arbeitsethik vertretenden Hugenotten eng verband. ← 9 | 10 →

Wenn Max Weber von „protestantischer“, nicht von evangelischer Wirtschafts­ethik sprach, meinte er das franco-helvetische Europa, entwickelte er seine These vom Wirtschaftsethos des Protestantismus als Arbeitsethos aus dem Studium des Genfer Calvinismus, aus dem auch die für die Aufklärung grundlegende Staatsauffassung des „Sozialvertrags“ von Jean-Jacques Rousseau stammte, der sich gern „citoyen de Génève“ nannte.

Wenn man wie nachzulesen Webers zentrale These von der protestantischen Wirtschaftsethik mit dem Hinweis zu widerlegen versuchte, dass es statt des Protestantismus vielmehr die seinerzeitige fortgerückte Wirtschaftsentwicklung der Niederlande selber war, die aus sich heraus eine entsprechende Arbeitsideologie ohne religiös-konfessionelle Verbrämung generiert habe, so wird vergessen, dass eben diese zu den urprotestantischen Regionen Europas gehörten, sich dort Protestantismus und Wirtschaft kompatibel nebeneinander entwickelten, bis sie sich mit der Aufklärung in zwei voneinander verschiedene Sphären spalteten.

Auch das allerchristlich-katholische Frankreich hatte bereits in voraufklärerischer Zeit mit Michel de Montaigne, Jean Bodin und François Rabelais, diesen Vorläufern bzw. Zeitgenossen von René Descartes, des Begründers des Rationalismus, eine protestantische Mentalität erworben, die auch bei bekennenden Katholiken durchschlug. Mentalitätsmässig ist Frankreich eher protestantisch, wenngleich der Konfession nach überwiegend katholisch.

In gewisser Weise setzt der Protestantismus das Werk des französischen Kirchenmannes Bernard de Clairvaux und des von ihm gegründeten Mönchsordens der Zisterzienser fort, die im Unterschied zu den wirtschaftlich unproduktiven, rein konsumptiven Bettelorden, den Franziskanern, Dominikanern und Karmelitern – die als Mendikanten eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten betrieben – höchst aktive Kolonisatoren in den zuvor Subsistenzproduktion und Tauschhandel betreibenden ostdeutschen Gebieten waren und diese auf agrikole und handwerkliche Produktivität und, vor allem, auf Arbeitsamkeit orientierten. Ihr von Bernard de Clairvaux geprägtes Motto ora et labora, bete und arbeite, das diese Einheit von Religion und Wirtschaft proklamiert, würde auch auf die Calvinisten passen und hat deren Denken sicher mit beeinflusst.

Aber auch ein politischer Paradigmenwandel vollzog sich, war sogar das hauptsächliche Motiv der Reformation, wenn man sich die wesentlichen Aktivitäten Calvins im durch ihn reformierten Genf vor Augen führt, die politisch-staatsrechtlicher und nicht nur religiös-theologischer Natur waren. Man darf sich auch keine Illusionen bezüglich der Toleranz der Reformierten gegenüber Andersgläubigen machen. Calvin persönlich ordnete die öffentliche Verbrennung des ihm missliebigen Miguel de Serveto, genannt Michel Servet an, spanischer ← 10 | 11 → Mediziner, Jurist und Philosoph, der den Kleinen Blutkreislauf wiederentdeckt hatte. Servet war vor der in seinem Heimatland besonders intransigenten Inquisition zunächst 1530 nach Frankreich geflüchtet und später, nach der Revokation des Toleranzedikts von Nantes, in Genf asyliert. Als Theologe dekonstruierte er wie später Friedrich II. das christliche Fundamentaldogma der Trinität, der Einheit von Gottvater, Sohn und „Heiliger Geist“, in seinem Werk Christianismi Restitutio (1553), womit er Calvins auf der Trinität beruhende Institutio christianismi in Frage stellte.

Details

Seiten
313
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055061
ISBN (ePUB)
9783653970623
ISBN (MOBI)
9783653970616
ISBN (Hardcover)
9783631660959
DOI
10.3726/978-3-653-05506-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Erdebegriff Weltbegriff Menscheitsbegriff Subjektwerdungsprozess
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 313 S.

Biographische Angaben

Hans-Otto Dill (Autor:in)

Hans-Otto Dill ist Romanist und Professor für lateinamerikanische Literatur (Humboldt-Universität Berlin, Göttingen, Hamburg, Sao Paulo). Der Autor hat zahlreiche Bücher über lateinamerikanische Literatur sowie über Alexander von Humboldt geschrieben und ist Herausgeber von Sammelbänden zu Victor Klemperer, Rousseau und Fichte.

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