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Disziplin durch Bildung – ein vergessener Zusammenhang

Eine historisch-systematische Untersuchung aus antinomischer Perspektive als Grundlage für ein bildungstheoretisches Verständnis des Disziplinproblems

von Cornelia Frech-Becker (Autor:in)
©2015 Dissertation 530 Seiten

Zusammenfassung

In der Arbeit wird der Zusammenhang zwischen Disziplin und Bildung neu diskutiert. Die historisch-systematische Untersuchung von Disziplin aus einem antinomischen Blickwinkel hat gezeigt, dass antinomische Positionen in Bezug auf die Schul-Disziplin an ihre Grenzen stoßen. Das Disziplinproblem muss daher wieder in der Bildung verankert werden. Sich der erzieherischen und normtragenden Dimensionen der Bildung in der Verschränkung mit der Disziplin neu zu besinnen, ist das Anliegen dieser Arbeit. Auch muss der Widerspruch bewusst gemacht werden zwischen der freien Subjektentfaltung und seiner Einschränkung durch erzieherischen Zwang zum Zweck einer funktional ausgerichteten Erziehung, die die Integration des Individuums mit den Ansprüchen der Gesellschaft verbindet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Forschungsmotiv und Hypothesenbildung
  • 1. Begründung für eine historisch-systematische Untersuchung
  • II. Klärende Ausführungen in Zusammenhang mit der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
  • III. Klärung der Begriffe Norm und Wert
  • 1. Normen und Werte
  • 2. Bestimmung des Wertbegriffes
  • 3. Bestimmung des Normbegriffs in der Ethik, praktischen Philosophie und den Sozialwissenschaften
  • 4. Das Verhältnis von Normen und Werten
  • 5. Werte und Normen bezogen auf das Disziplin-/Bildungsproblem dieser Arbeit
  • Erster Teil
  • I. Gliederung der Arbeit
  • II. Fortschreibung der Disziplinproblematik – „Disziplin durch Bildung“ und „Bildung durch Disziplin“
  • 1. Außerschulischer Bildungsort
  • 2. Innerschulischer Bildungsort
  • III. Stand der Forschung
  • 1. Orientierung und Systematisierung
  • a. Historisch-systematische Untersuchungen des Disziplinbegriffs
  • b. Bedeutung der Hilfswissenschaften bei der Behandlung des Disziplinproblems
  • c. Versuch einer Systematisierung der Forschungsliteratur
  • 2. Systematische Zuordnung der wissenschaftlichen Literatur
  • a. Die direkte Verhaltenssteuerung
  • b. Die diskursive Problembewältigung
  • c. Das Normproblem
  • d. Der institutionelle Kontext
  • e. Das antinomische Denken
  • f. Zusammenfassung
  • IV. Methodische Klärung
  • 1. Methode und Systematik
  • 2. Das „Modell der Ellipse und des Kreises“ als elastisches und starres Beobachtungsinstrument von (Schul-)Disziplin
  • V. Begriffsbestimmung
  • VI. Wesen und Funktion der Disziplin
  • 1. Die Struktur der Disziplin
  • 2. Antinomisches in der Disziplin
  • a. Zur Fremddisziplin
  • b. Zur Selbstdisziplin
  • Zweiter Teil
  • Begriffs- und Problemgeschichte der (Schul-)Disziplin – Monistische Positionen versus antinomische Positionen
  • I. Begründung für die Auswahl der Textbeiträge
  • II. Monistische Positionen
  • 1. Sparta
  • 2. Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.)
  • 3. Quintilian (35 – um 96)
  • 4. Benedikt von Nursia (um 480–547)
  • Exkurs: Organisatorisches Regelwissen hinsichtlich der Disziplin in der „Regula Benedicti“ im Vergleich zum Organisationsgebilde Schule
  • 5. August Hermann Francke (1663–1727)
  • a. Quellen der Verderbnis
  • b. Nützliche und nöthige Handleitung zu Wohlanständigen Sitten
  • c. Franckes einfältiger Unterricht und wie man die Heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen sollte
  • d. Über Ordnung und Lehrart im Waisenhaus
  • 6. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
  • a. Rousseaus Denken im Widerspruch zu seiner Zeit
  • b. Naturgemäße und vorherrschende Erziehung
  • c. Erziehung durch die Natur, die Menschen und die Dinge
  • d. Die Macht des Erziehers
  • e. Rousseaus Vorstellungen von Pflicht, Gehorsam und Strafe
  • f. Rousseaus Umgang mit Widersprüchen
  • 7. Immanuel Kant (1724–1804)
  • a. Der Zweck des Menschseins bei Kant
  • b. Kants Menschenbild
  • c. Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?
  • 8. Maria Montessori (1870–1952)
  • a. Anthropologische Voraussetzungen
  • b. Ursachen der Disziplinlosigkeit und Folgerungen
  • – Häusliche Erziehungsfehler
  • – Rollenverständnis der Lehrkräfte
  • – Forderung nach biologischer Entwicklungsfreiheit
  • c. Freiheit und Begrenzung als verträgliche Antinomien
  • d. Aufheben der Antinomien und Synthese von Freiheit und Ordnung
  • 9. Alexander Sutherland Neill (1883–1973)
  • a. Ein anthropologischer „Switch“
  • b. Glück durch Freiheit und Begrenzung
  • c. Strafe bei Neill
  • III. Antinomische Positionen
  • 1. Aristoteles (384 vor Chr. – 322 v. Chr.)
  • a. Erziehungseinflüsse bei Aristoteles
  • b. Die aristotelische Tugendlehre
  • c. Das Wesen der Mitte
  • 2. Comenius (1592–1670)
  • a. Direkte Disziplinierung
  • b. Disziplinierung über die Didaktik
  • 3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1786–1834)
  • a. Verhütung, Gegenwirkung, Strafe und Zucht
  • b. Regel und Freiheit als Gegensätze
  • 4. Johann Friedrich Herbart (1776–1841)
  • a. Geordnetes Verhalten als Grundlage der Erziehung im Bereich der frühen Sozialisation („Regierung der Kinder“)
  • b. Anwendung der Zucht im allgemeinen
  • c. Der Pädagogische Takt – Bindeglied zwischen Theorie und Praxis
  • 5. Theodor Litt (1880–1962)
  • a. Die Disziplinierung des Erzieherwillens zwischen Ideal und Wirklichkeit
  • b. Bestimmung und Begrenzung des Zöglings durch Führen und Wachsenlassen
  • 6. Rainer Winkel (*1943)
  • a. Disziplinstörungen verstehen
  • b. Die Unterrichtsituation als Störfeld
  • c. Belohnung und Strafe bei Winkel
  • d. Winkels antinomische Bewältigung
  • IV. Zusammenfassung
  • Dritter Teil
  • I. Analyse und Bewertung der Modelle
  • 1. Zusammenfassende Gedanken zum Kreismodell
  • 2. Zusammenfassende Gedanken zum Modell der Ellipse
  • 3. Überlegungen zu der „Produktivität“ des Modells von Kreis und Ellipse
  • a. Theoretische Erklärungen für das Theorie-Praxis-Problem in Bezug auf die Disziplin bei Lehrkräften
  • b. Beitrag aus dem Bereich der Systemischen Pädagogik – Erweiterung des Modells auf multiple Sichtweisen
  • – Beispielhafte Darstellungen vom Umgang mit Disziplin bei Arnold und Huschke-Rhein
  • – Problem der ausufernden Kommunikation und Lösungsansätze
  • – Kommunikation reduzieren
  • c. Beitrag aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft – Reduktion des Modells auf drei Faktoren
  • d. Zusammenfassung
  • II. Folgen der Reduzierung von Komplexität
  • Vierter Teil
  • I. Bildung durch Disziplin und Disziplin durch Bildung – ein Problemaufriss
  • 1. Bildung anstelle von Kompetenzen
  • 2. Bildung und Formungsanspruch
  • 3. Der Widerspruch zwischen Sein und Sollen
  • 4. Bildung als Orientierungshilfe
  • a. Vom Wert zur Pflicht
  • b. Lehr- und Lernbarkeit von Moral
  • c. Überführung der Theorie in die Praxis
  • 5. Das Problem des Bildungsideals
  • II. Exemplarische Beispiele für die Sichtbarmachung des Zusammenhangs von Bildung und Disziplin
  • 1. Bildungsbegriffe und ihre Verschränkung mit der Disziplin
  • a. Wilhelm von Humboldt (1767–1835)
  • aa. Humboldts Bildungsbegriff
  • bb. Keine Bildung ohne Disziplin
  • b. Wolfgang Klafki (1927*)
  • aa. Klafkis Bildungsbegriff
  • bb. Normfragen und systembedingte Erziehungsdefizite
  • c. Bildung in der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik
  • aa. Bildung als Selbstorganisation
  • bb. Disziplinbegriff in der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik
  • 2. Auswertung der Bildungstheorien unter dem Aspekt der Verschränkung mit der Disziplin
  • III. Zusammenführungen und Konsequenzen
  • 1. Zusammenführung der bisherigen Erkenntnisse
  • 2. Verknüpfung von (moralischer) Bildung und Disziplin
  • a. Äußere Disziplinierung
  • b. Die Rückbindung an Werte über (moral-)bildende Inhalte
  • c. Zusammenführung von Bildung und Disziplin in einem Modell
  • d. Zusammenfassung
  • Zusammenfassung und Schluss
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

I. Forschungsmotiv und Hypothesenbildung

1. Begründung für eine historisch-systematische Untersuchung

Disziplin in der Gesellschaft erfährt im Augenblick wieder hohe Aufmerksamkeit. Sachbücher, populärwissenschaftliche Literatur und Streitschriften werden erfolgreich vermarktet.1 Das Spannungsgefüge zwischen Ablehnung und Bejahung von mehr oder weniger Disziplin sowohl hinsichtlich normativer Forderungen als auch bezogen auf tatsächliche Vorkommnisse ist Ausdruck der Zwiespältigkeit, die dem Begriff anhaftet. Argumentiert wird zwischen eindeutiger Durchsetzung von Disziplin und Rückgriff auf eine Verstehensdidaktik, die vom Edukanden oder Unterricht her das Problem zu ergründen versucht.2 Weil hinsichtlich der Hoffnung nach Behebung von Disziplinproblemen keine Fortschritte sichtbar werden und ← 15 | 16 → das Lamento andauert, gilt es darüber nachzudenken, ob die Erziehungsaufgabe und die Bildungsfunktion der Schule nicht wieder als zusammengehörig gesehen werden müssen. Die Disziplinierung der Schüler soll nicht mehr abgekoppelt sein von den inhaltlichen Phänomenen, von der Sache also, an denen der Schüler sich in ein Verhältnis zu sich selbst mit der Welt zu setzen lernt. Disziplin muss auch an Wertvorstellungen geknüpft sein, das an den Inhalten geübt wird. Ein tugendpädagogischer Diskurs bereichert den engen Blickwinkel der Alltagserfahrung. Dazu ist die Historie aufzuarbeiten, um die pädagogischen Konzepte kennenzulernen. An die Untersuchung wird die Hoffnung geknüpft, dass sich ein Ansatz herausbildet, der das Disziplinproblem in eine systematische Wertebildung über Bildungsinhalte integriert. Erziehung soll sich an der Sache vollziehen.

Eine historisch-systematische Untersuchung und Gesamtschau auf das Problem der (Schul-)Disziplin unter einem antinomischen Blickwinkel gibt es meines Wissens nicht. In kaum einem der einschlägigen pädagogischen Fachwörterbücher und nicht einmal im Index des Historischen Wörterbuchs der Pädagogik von Benner und Oelkers „Enzyklopädie Erziehungswissenschaft“ findet sich ein expliziter Beitrag zum Begriff „Disziplin“.3 Der Band „The International Encyclopedia of ← 16 | 17 → Education4 thematisiert vergleichsweise ausführlich unter dem Begriff „Discipline in Schools“ u.a. die Zunahme der Besorgnis hinsichtlich der Disziplinproblematik seit Beginn der 1960er Jahre. Mehrere Ursachen werden aufgeführt, u.a. der technische Fortschritt und die plötzlich erforderliche Flexibilität. Die Erziehungsmethoden in den Erziehungsinstitutionen seien aber die alten geblieben. Für die Zunahme der Disziplinprobleme werden die Migrationshintergründe von Schülern benannt. Es bestünde außerdem Unklarheit im Begrifflichen. Einerseits bedeute „discipline […] to correct behavior by exerting external controls. On the other, discipline means to develop internal controls over one’s own behavior“.5

Es liegt daher nahe, die überlieferten Zeugnisse der Geschichte im Bereich der (Schul-)Disziplin aufzufinden und sie im kritischen Vergleich unter bestimmten Leitfragen zu untersuchen. Damit wird ein Verständnis über die Zusammenhänge und die Entwicklung menschlichen Handelns – bezogen auf diesen Problembereich – möglich. Das Quellenstudium auf der Grundlage der hier entwickelten Hypothesen soll den Lehrkräften der theoretischen Orientierung dienen. In der Ausbildung von Lehrkräften ist es bei der hohen Bedeutung von Disziplinproblemen an Schulen mit ihren gravierenden Auswirkungen auf die Bildungsvermittlung konsequenterweise unverzichtbar, unterschiedliche Zugangsweisen und Standpunkte von Pädagogen und Philosophen im Zusammenhang mit der Disziplin und Erziehung kennen zu lernen und dabei neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.6 Einem verkürzten Verständnis der schulischen Disziplinprobleme in Form einer lediglich deskriptiven Darstellung soll entgegengewirkt werden. Mit einem historisch-professionellen Bildungswissen als Hintergrund müsste sich das Verständnis und damit auch das Handeln in der Praxis beeinflussen lassen. Entgegenzusteuern ist einer Entwicklung, bei der Disziplin- und Erziehungsprobleme losgelöst aus ihrer Tradition gleichsam ankoppelungslos nur noch beschrieben ← 17 | 18 → und Positionen ausgetauscht werden und den Faden zur Geschichte verloren haben.7 Sinnvoll wäre es, wenn in der Ausbildung die Lehrkräfte die unterschiedlichen Sichtweisen in philosophischen und pädagogischen Texten im Bereich der Disziplin kennen lernen würden. Kenntnisse der klassischen Pädagogen sind seit der empirisch-sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Pädagogik in den Hintergrund getreten. Damit gehen auch Erfahrungen von Erziehung verloren, die die abendländische Erziehungsgeschichte geprägt haben.8 Die Moderne sollte aber aus guten Gründen aus ihrer Tradition heraus verstanden werden.

Hinzu kommt: Theorie und Praxis miteinander verknüpft, können die Erkenntnis des Zusammenhangs vom Allgemeinen und Prinzipiellen der Theorie9 und der konkreten Wirklichkeit fördern. Damit würde sich die edukative Praxis beeinflussen lassen.10 Die Beschäftigung mit der Theorie hat also immer die Veränderung des praktischen Tuns zum Ziel.

Man könnte argumentieren, dass die Auseinandersetzung mit der Schuldisziplin ein mikroskopisch kleiner Bestandteil in der Pädagogik und daher nicht wirklich relevant ist.11 An ihr lässt sich jedoch eine bisher nicht aufgelöste Diskrepanz zwischen der Orientierung am Menschen oder an der Sache, also der Betonung einer Erziehung hin zum Subjekt oder eher zum Objekt hin ablesen, auch wenn man, wie Klafki zeigt, den formalen und materialen Aspekt der Bildung zusammendenken und das subjektive und objektive Element in der Bildung als Ergebnis einer Einheit bestimmen kann. So wie sich die Frage stellt, ob sich die Bildung nämlich am Menschen oder an der Sache zu orientieren hat oder an beiden, so trifft dieselbe Fragestellung auch auf die Disziplin bzw. Erziehung zu. Überhaupt müsste das gesamte Erziehungsverständnis von dieser Dichotomie nicht notwendigerweise durchdrungen sein, da sich die griechische paideia vor dem 5. christlichen Jahrhundert durch die Einheit von Bildung, Erziehung und Unterricht, wie Pleines hervorhebt, ausgezeichnet hat und erst in Platons „Höhlengleichnis“ für die Hin- und Umwendung des Menschen zu einem Denken des Maßgeblichen steht.12 Böhm et al. sprechen von permanenten Konfliktsituationen im Unterricht, die sich auf die pädagogischen Antinomien als bestimmten Grundpolaritäten zurückführen ← 18 | 19 → lassen.13 Erziehung und Disziplin können auf Grund ihres Zusammenhanges eigentlich nicht losgelöst von der Bildung betrachtet werden.

So wie die Bildung den Zusammenschluss sucht zwischen der Ausrichtung auf das Selbst und auf die Sache14, so haben Pädagogen versucht, diesen Zusammenhang auch im Erzieherischen herzustellen. Das zwiespältige Verhältnis der beiden, denen jeweils ein partielles Recht zukommt, hat sich in der Vergangenheit aber immer wieder eher unausgewogen an der Sachlichkeitsanforderung oder an der Persönlichkeitsbildung ausgerichtet.15 Heute herrscht diese Tendenz wieder vor, wenn die systemisch-konstruktivistische Pädagogik versucht, das Selbst mit sich selbst in Einklang zu bringen, seine Konstruktion in den Mittelpunkt zu stellen und seine Selbstorganisation zu unterstützen. Es ist nicht einmal mehr eine Pädagogik vom Kinde aus, bei welcher der Erzieher noch eine Aufgabe hat, sondern das Kind macht sich zum eigenen Erzieher. Die möglichst harmonische Berücksichtigung der beiden Aspekte, also auf Person oder Sache, hängt damit sehr schief, weil zu den Möglichkeiten der Kindorientierung und Sachorientierung noch eine Selbstorientierung tritt. Diese dreifache Schieflage muss in ihrer Komplexität verringert werden. Bildung erhält dann möglicherweise wieder eine neue Chance, und die Rollen zwischen Lehrer und Zögling können neu geordnet werden.

Die erste Hälfte der vorliegenden Arbeit befasst sich mit dem Thema der „(Schul-)Disziplin“ in der Geschichte der Pädagogik unter einem antinomischen Blickwinkel. Es ist die ungelöste Dichotomie zwischen freiheitlicher Selbstentfaltung und Anpassung des Individuums an gesellschaftliche Normen als einer „Bindung an“ und einer „Entbindung von“ Gegebenheiten. Zur Ausschärfung des von dem Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel in Zusammenhang mit dem Disziplinproblem gebrachten Ellipsenmodells, das dem antinomischen Aspekt bei der Behandlung von Disziplinproblemen eher entgegenkommt, wird die Eindimensionalität über das von hier aus monistische Kreismodell abgebildet. Die beiden Metaphern werden auf den historisch-systematischen Teil bezogen.

Im Fortgang der Arbeit und mit Eintritt in die aktuelle Diskussion um die (Schul-)Disziplin vollzieht sich ein Ebenenwechsel – weg von den Disziplinantinomien hin zur Systemsteuerung. Die antinomische Betrachtungsweise verliert zugunsten der Beobachtung kommunikativen Verhaltens an Bedeutung. Die bei der Kommunikativen Didaktik im Zentrum stehende Kommunikation nimmt zunächst zwischen Schülern und Lehrern zu auf Grund der Orientierung an dem ← 19 | 20 → pragmatischen Ansatz von Watzlawick. Aber auch die metakommunikative Ebene nach Habermas gewinnt als kommunikative Kompetenz im praktischen Diskurs im Schulalltag einen wichtigen Stellenwert. Das Anschwellen der sozialen Kommunikation bringt bei allen an der Kommunikation Beteiligten eine enorme Diversität an Meinungen hervor, die sich inzwischen auf das gesamte System ausdehnen, weil im systemischen Sinne der Austausch mit der Umwelt ein notwendiges Korrelat für die selbstreferenzielle Operation darstellt. Die Sichtbarmachung von zwei Extremen reicht nicht mehr aus. Die Meinungsvielfalt befördert jedoch nicht den schulischen Konsentierungsprozess im Bereich der Schuldisziplin, sondern behindert ihn eher. Durch die Erweiterung des Meinungsspektrums treten Lösungen in den Hintergrund. Daraus ergeben sich weitere Hypothesen und Fragestellungen.

Im Fortgang der Untersuchung soll das notwendige Zusammenwirken von Disziplin und Bildung begründet werden. Kritisch untersucht werden die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und die Rolle der Kommunikation im Bildungsprozess, weil mit der Hinwendung zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik die Schule als System in den Vordergrund rückt. Die damit verbundene Ausweitung der Kommunikation auf alle im System Beteiligten betrifft auch das Disziplinproblem. Es stellt sich die Frage, wie und in welchem Umfang überhaupt über das Problem kommuniziert werden soll. Zu untersuchen ist weiterhin, ob eine Neuausrichtung des Blickwinkels weg von der isolierten Betrachtung des Disziplinproblems und hin zu einer Koppelung an die Sache die Problematik wirkungsvoll beeinflussen könnte. Diesterweg hat sich mit diesem Problem bereits auseinandergesetzt, auch wenn er sich sehr stark auf die Unterrichtsformen beschränkt hat.16 Der im Stoff immanente Geformtheitsanspruch und seine eigene Formungskraft könnten Begründung sein für eine didaktische und methodische Umorientierung. Der Lehrgegenstand würde wieder in den Vordergrund rücken. Er würde nicht nur äußeres Wissen, sondern auch etwas von seinen bildenden und charakterbildenden Möglichkeiten erahnen lassen. Vorab aufzuzeigen wären unterschiedliche theoretische Ansätze einzelner Bildungstheorien und Bildungsvorstellungen. Exemplarisch könnte an der Sache aufgezeigt werden, dass das Zusammenspiel zwischen Disziplin und Unterrichtsgegenstand eine aufeinanderbezogene und unauflösbare Einheit darstellt. Die Wahrnehmung des Kindes als ein in seiner Gesamtpersönlichkeit zu entwickelndes Wesen darf Unterricht daher nicht nur auf didaktische und methodische Arrangements verkürzen, um den Spannungsbogen ← 20 | 21 → kurzfristig zu erhöhen. Im Blick bleiben muss die Bildungsanmutung, weshalb die Frage nach den Werten unabdingbar mit Fragen der Disziplin und Erziehung als einheitliche Betrachtung gewährleistet sein muss. Diese Betrachtung löst wissenschaftliche Untersuchungen aus und erfordert die Formulierung einer theoretisch hergeleiteten und praktisch umsetzbaren Bildungsvorstellung in Zusammenhang mit Bildung, Disziplin und kommunikativer Reduktion.

Folgende Thesen und Überlegungen ergeben sich in Zusammenhang mit dem intendierten Vorhaben:

II. Klärende Ausführungen in Zusammenhang mit der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik

Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Disziplin, wie er im VIERTEN TEIL der Arbeit schwerpunktmäßig thematisiert wird, ist eine Abgrenzung zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik notwendig – vor allen Dingen bezogen auf die Wahl der Bildungsinhalte und deren Wertgehalt sowie ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ein Problem sind dabei auch die Begriffe, die nach Eva ← 21 | 22 → Matthes, Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik an der Universität Augsburg, im heutigen bildungstheoretischen Diskurs noch präsent seien.17

Eva Matthes bezieht sich in ihrem Lehrbuch „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“ im Vorwort auf Wolfgang Klafki, der bei seiner Darstellung über die Geisteswissenschaftliche Pädagogik für die Fernuniversität Hagen geschrieben hat: „Auf daß sie nicht in Vergessenheit gerate!“18 Die Exzellenz von Matthes’ Analyse ermöglicht die für diese Arbeit notwendige Abgrenzung und Nähe zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Matthes belegt in einem, wie sie selbst bekundet, erstmalig vorliegenden Überblick die zentralen Rezeptionslinien und die kritische Distanz zu dieser pädagogischen Richtung. Wichtig für Matthes ist es, den Unterschied zwischen „der geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ und die „gravierenden“ Unterschiede einzelner geisteswissenschaftlicher Pädagogen herauszuarbeiten. Auch steht bei Matthes die Frage im Zentrum, ob die geisteswissenschaftlichen Pädagogen auf der Basis der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur ihre Theorie verändert oder weiterentwickelt hätten.19

Aus Gründen der problematischen Thematik, die sich automatisch ergibt, wenn die Disziplin wieder mit der Bildung als zusammengehörig gedacht werden soll, bietet sich an, aus Matthes’ Zusammenstellungen der historischen Bewertungen noch einmal jene Vorwürfe zusammenzufassen, die mit zu der Ablösung dieser weitreichenden pädagogischen Richtung beigetragen haben. Die rezeptionsgeschichtlichen Zugänge von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart eignen sich als Bezugspunkt deswegen, weil in der Kürze der Darstellung die biographischen Zugänge und „personalen Verflechtungen“ einzelner Autoren übersprungen werden können.20 Bemerkenswert ist jedoch, dass sich im Verlauf der Rezeptionsgeschichte nach schweren Verrissen Ende der 1970er-Jahre wieder Autoren gemeldet haben, die die problematischen Anteile der geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Verhältnis zu ihren Verdiensten und ihre ungebrochene Gültigkeit neu bewerten, sie in Erinnerung rufen und kritisch reflektieren.21 Diese Entwicklung veranlasst Matthes, die Hoffnung auf eine „Rückbesinnung auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik zur Stärkung der Erziehungswissenschaft […]“22 zu formulieren.

Die Auseinandersetzung mit den Argumenten Matthes’ soll zeigen, dass ein Rückfall in die von Matthes vorgetragenen Kritikpunkte wegen ihrer kritischen ← 22 | 23 → Aufarbeitung und nach der erfolgten Integration in das heutige Pädagogikverständnis eine Übernahme der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, wie sie einmal existent war, per se nicht mehr denkbar ist. Eine in Bezug auf diese Arbeit durchscheinende „Nähe“ zu geisteswissenschaftlichem Gedankengut zu attestieren, muss sich auf dem Hintergrund ihrer historischen Weiterentwicklung bemessen lassen. Dass Anknüpfungspunkte für einen Bezug hin zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik in der heutigen Pädagogik existieren und sich im positiv verstandenen Sinne ableiten lassen, belegt Matthes unter Bezugnahme auf verschiedene Autoren mit ihrer Analyse, die einen jahrzehntelangen Zeitraum erfasst.23 Zu systematisieren sind die Schwächen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, wie sie in einem Zeitraum von den 1960er-Jahren an bis heute formuliert werden, hier unterteilt in philosophische, methodische, institutionelle, anthropologische und linguistische Vorwürfe:24

  1. Die Totalgeltung: Intendiert war eine Pädagogik, die an einem einheitlichen nationalen Bildungsideal beteiligt sein sollte.25
  2. Das mangelnde Kritikbewusstsein: Das Verhältnis von Theorie und Praxis mit dem Ziel der Herausbildung eines kritischen Bewusstseins galt als ein Mangel der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.
  3. Die Wissenschaftsfeindlichkeit: Es sei eine Abgrenzung und keine Kooperation mit anderen Wissenschaften und keine Ausweitung der wissenschaftlichen Methoden erfolgt.26
  4. Die Konzentration auf die Schule: Die institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Probleme seien ausgeblendet worden.
  5. Der Vorrang des Individuums vor dem Ganzen: Die Blickerweiterung der Pädagogik für das Ganze hätte im Gegensatz zu der Bezogenheit auf das Individuum gefehlt.
  6. Die begriffliche Unklarheit: Die Begrifflichkeit sei irreführend gewesen, weshalb das Begriffsinventar heute noch belastet sei.27 ← 23 | 24 →

Nach der kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, bei der auch von Fehlinterpretationen und irrigen Unterstellungen ausgegangen worden sei28, zitiert Matthes eine Wertung des Bildungswissenschaftlers Hans Jürgen Finckh, die als ein zentrales Argument gegenüber einer unreflektierten Übernahme geisteswissenschaftlichen Gesinnungsgutes in dieser Arbeit geltend gemacht werden kann. Der eigentliche Unterschied zwischen der kritischen Erziehungswissenschaft und der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bestünde in der im Vergleich zu früher „neuen Qualität der der Erziehungswissenschaft heute zur Verfügung stehenden empirischen und ideologiekritischen Theorien“.29

Mit Helmut Heilands Beitrag lässt sich ergänzen, dass eine „direkte Wiederholung des Forschungsansatzes der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik […] also nirgendwo festzustellen [ist].“30 Diese Wertung soll auf das in diese Arbeit zum Ausdruck ← 24 | 25 → gebrachte Anliegen, die Verbindung zwischen Disziplin und Bildung wieder sichtbar zu machen, bezogen werden. Eine direkte Wiederholung des Forschungsansatzes der geisteswissenschaftlichen Pädagogik lässt sich aus dem Grund ad absurdum führen, weil die heutige Pädagogik nach ihrer Befassung mit der Kritischen Theorie und den empirischen Methoden nicht mehr hinter ein Gegenstandsverständnis aus der Zeit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zurückfallen kann. Erziehungswissenschaft geht heute eine Verbindung mit der empirischen Wissenschaft ein. Die heutige Pädagogik sieht sich nicht mehr als eigenständige Wissenschaft in der Weise, dass ihre Fragestellungen nicht von anderen Wissenschaftsbereichen wie der Psychologie, der Soziologie und der Philosophie mittels einer anderen Methode vertreten werden können.31 Als normative Wissenschaft wollte sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik ohnehin nicht verstanden wissen, da sie von der Erziehungswirklichkeit ausging und diese als Zwischenwelt zwischen Empirikern und der Wertephilosophie verortet haben wollte. Theologische Glaubenssätze oder philosophische Theoreme waren nicht das Ansinnen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Dies zumindest war Flitners Auffassung, dessen Ortsbestimmung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik allerdings einen vergleichsweise hohen Grad an Differenziertheit erreicht hat, wie Matthes ihm bestätigt.32

Ein Bruch mit der pädagogischen Historie wäre wegen seiner implizierten Lückenhaftigkeit daher unwissenschaftlich, da das historische Kontinuum und die damit verbundene Ausdifferenzierung und Neubestimmung der Positionen ausgeblendet würden. Innerhalb der rezeptionsgeschichtlichen Aufarbeitung wurde sogar argumentiert, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik als Vorstufe zur Kritischen Theorie gegolten habe, bzw. dass sich die Kritische Theorie lediglich als reflektierter und in ihrer Entwicklung als fortschrittlichere Methode erwiesen habe, weil ihr andere Theorien zur Verfügung gestanden hätten.33 Weil diese Theorien auch heute noch zur Verfügung stehen, muss sich jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildung und Disziplin daran prüfen lassen, inwieweit sie unreflektiert Meinungen übernimmt und mit normativen Standpunkten undialektisch verfährt, obwohl ihr inzwischen empirische und kritische bzw. dialektische Methoden zur Verfügung stehen, die die Spannungen stehen lassen und sie eben ← 25 | 26 → nicht um der Vereinheitlichung willen aufzuheben versuchen. Mit diesen methodischen Verfahren lässt sich der praktische Umgang mit Sachthemen im Unterricht begründen. Er ist nicht auf harmonische Lösungen bedacht, sondern macht die Differenzen sichtbar und lässt sie bestehen. Einer rein hermeneutischen Bearbeitung sind in der Tat Erkenntnisgrenzen gesetzt, da ihr Wesen lediglich in der Auslegung besteht. Diese „Erkenntnis“form wurde daher in ihrer Subjektivität nicht unberechtigterweise als unzureichend beurteilt.

Diese Begründung betrifft den wissenschaftlichen und methodischen Vorwurf. Eng damit verbunden ist der Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verflechtung von Pädagogik und Gesellschaft. Hier führt Matthes in ihrer letzten These aus, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik ihr Nachdenken nicht nur auf ein pädagogisches Handlungsfeld, also die Schule, bezogen habe, sondern auf die pädagogischen Handlungsfelder in ihrer Fülle. Matthes stellt fest, dass dies in der Rezeption häufig nicht beachtet worden sei.34

Auf den Rückbezog von Normen und Werten hat Heinrich Roth in seinem 1962 erschienenen Beitrag unter dem Titel „Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung“ bei aller Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik explizit und in aller Deutlichkeit darauf verwiesen, dass die Pädagogik weder auf ihre historische noch philosophischen Ziele und Normen reflektierende Dimension verzichten dürfe.35 Dass diese Forderung von einem Psychologen und Empiriker vorgetragen wurde, dessen Beitrag nach Matthes eher als Abgesang auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik bewertet wurde, zeigt aber auch – und darauf verweist Matthes ebenfalls– Roths integratives Verständnis, wie mit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Verbindung mit der sozialwissenschaftlich-empirischen Forschung umzugehen sei.36 Roth als Gewährsmann für die eigene Position in Bezug auf diese Arbeit zu zitieren, scheint von hier aus legitim, da der Zusammenhang von Bildung und Disziplin ohne Rückbezug auf die Norm- und Wertfrage überhaupt nicht zu leisten wäre. Unweigerlich muss man auf geisteswissenschaftliche Methoden wie die Hermeneutik zurückgreifen, sie aber mit empirischen Methoden stützen. Die erfahrungswissenschaftlichen Tatsachen „entzaubern“ die Vorstellung von einer Wertepädagogik, die sich eins zu eins umsetzen lässt. Sich der Dichotomie zwischen Normanspruch und Normausweichung bewusst zu sein, wurde mit dem Problemkomplex der Disziplin als erkenntnisleitendem Motiv als gegeben vorausgesetzt. Wenn davon ausgegangen werden könnte, dass der Mensch die Norm erfüllt, bedürfte es keiner Disziplin. Daher enthält bereits der Titel dieser Arbeit ein dialektisches Spannungsverhältnis. Eine Begründung für oder gegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik erübrigt sich an dieser Stelle wegen der vorgezeichneten Thematik. ← 26 | 27 →

III. Klärung der Begriffe Norm und Wert

1. Normen und Werte

Im Hinblick auf die Ausführungen im VIERTEN TEIL der Arbeit sollen zu dem Problem der Wert- und Normgeltung der Versuch der Klärung und die Konkretion der Begriffe „Norm“ und „Wert“ vorangestellt werden. Ziel ist eine Verwendung der Begriffe auf der Grundlage des Schulgesetzes und der Bildungspläne.37 In der Pädagogik stellt sich die Wertfrage in besonderer Weise, da sie sich im Hinblick auf ihren Auftrag hierzu zwangsläufig bekennen muss. Da der Erziehende an den Bildungsplan gehalten ist, wird er sich auf die dort vom Grundgesetz abgeleiteten und über das Schulgesetz zum Ausdruck gebrachten Wertstellungen beziehen. Dort heißt es in §1 (1) und (2):

Der Auftrag der Schule bestimmt sich aus der durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Landes Baden-Württemberg gesetzten Ordnung […]

und weiter

„[…](2) Die Schule hat den in der Landesverfassung verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verwirklichen. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler […] zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen, die im einzelnen eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ausschließt, wobei jedoch die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie in Grundgesetz und Landesverfassung verankert, nicht in Frage gestellt werden darf […]38

Die Normen des Grundgesetzes sind in Artikeln niedergeschrieben und daher für jeden nachlesbar. Die hinter den Normen stehenden Werte, so der Politikwissenschaftler Joachim Detjen, seien hingegen nicht explizit aufgeführt, obwohl sie den Normen erst Sinn verliehen. Die Werte erschlössen sich erst in der synthetischen und vergleichenden Betrachtung mehrerer Normen.39 Diese Unbestimmtheit der Werte wird auch sichtbar in den Bildungsplänen, die vom Schulgesetz, der Landesverfassung und diese wiederum vom Grundgesetz abgeleitet sind. Dort heißt es in der Einführung zum Bildungsplan 2004 des allgemein bildenden Gymnasiums: ← 27 | 28 →

Die Landesverfassung und das Schulgesetz erteilen den Schulen den Auftrag: ‚[…] die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte’ zu erziehen“.40

Unklar bleibt, um welche Bildungs- und Kulturwerte es sich handelt. In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb in den verschiedenen Fächern werden die Begriffe Wert und Norm ebenfalls allgemein verwendet. Es ist die Rede von der Förderung demokratischer Grund- und Werthaltungen, der Schärfung des Blicks für unterschiedliche Wertsysteme, der Notwendigkeit von Normen und Werten, der Relativierung des eigenen kulturspezifischen Wertesystems im Vergleich zu anderen, die immer neue Auseinandersetzung mit Normen und Werten und die Orientierung an ihnen. Verlangt wird, diese zu erklären, zu beschreiben und zu begründen. Auch sollen die Zusammenhänge zwischen Werten und Normen bestimmt werden.41 Wenn beispielsweise in den Kompetenzen und Inhalten für das Fach Englisch in der Kursstufe des Gymnasiums gefordert wird, dass das eigene kulturspezifische Wertesystem im Vergleich mit anderen zu relativieren sei, dann verbergen sich hinter dieser Forderung Konkretisierungen, die fachabhängig sind und in einem anderen Fach eine andere Gestalt annehmen. Werte und Normen treten daher gerne in theoretischer Abstraktion auf, weil sie in viele Kontexte eingebunden sind.42

Innerhalb dieses Rahmens wird in der vorliegenden Arbeit ein Wertbegriff zugrundegelegt, der in diskursiven Prozessen den Anspruch von Werten auf ihre allgemeine Verbindlichkeit thematisiert. Es geht nicht darum, Werte und Normen festzulegen, sondern sie in ihrer Relativität wahrzunehmen und über sie zu reflektieren. Zu thematisieren wäre auch eine Wertvorstellung, die absolute Wertmaßstäbe als objektive Gegebenheiten versteht.43 Dahinter verbergen sich metaphysische Vorstellungen, deren Geltungsanspruch jedoch nicht begründet und nicht bewiesen werden kann. Normbegründungen können sich daher nur aus relativen Werten ableiten, denn diese haben ihren Geltungsanspruch offengelegt und begründet. ← 28 | 29 →

Allerdings wird sich auch zeigen, dass es verbindliche Regeln44 innerhalb der Gesellschaft – im vorliegenden Falle der Institution Schule – gibt, über deren Geltung nicht ständig diskutiert werden kann. Ihr Orientierungspotenzial hat sich bewährt und sie sind relativ stabil in ihrer sozialen Anerkennung.45 In der Schule haben wir es also mit Regeln, die das soziale Miteinander thematisieren, mit Normen und mit der Reflexion über Wertfragen zu tun.

Ein besseres Verständnis für die Komplexität dieser Thematik ermöglicht die Befragung des Historischen Wörterbuches der Philosophie, das den beiden Schlüsselbegriffen eine umfassende begriffsgeschichtliche Explikation widmet. Die Ausführungen dienen als Begründung dafür, weshalb auch im schulischen Bereich unter Berücksichtigung der sich zum Teil widersprechenden Definitionen eine inhaltliche Wert- und Normdefinition nicht vorgenommen werden kann. Es soll in einem historischen Überblick die Mehrdeutigkeit der Begriffe aufgezeigt werden. Vorweggenommen werden kann, dass die tendenzielle Interpretationsoffenheit der beiden Begriffe Norm und Wert in den jeweiligen Wissenschaften bis heute nicht ausgeräumt werden konnte. Eine wissenschaftliche Lösung des Werteproblems wird angezweifelt, weil sich verschiedene Wertordnungen miteinander im Konflikt liegen.46 Der vorliegende „Klärungsversuch“ kann demnach nur das theoretische und praktische Blickfeld mit seinen Widersprüchen vergrößern und sich abgrenzen gegen eine undialektische Übernahme einer feststehenden Begrifflichkeit von Norm und Wert und genau dies hat das Grundgesetz auch so gesehen, indem es eine inhaltliche Festlegung vermieden hat, um Entscheidungsmöglichkeiten offen zu halten. Der Verbleib auf einer nur abstrakten Argumentationsebene wäre wohl nicht im Sinne des Grundgesetzes. Diskurse über Werte und Normen lassen sich daher besonders an bestimmungsungeklärtem und widerspruchshaltigem Material führen.

2. Bestimmung des Wertbegriffes

Voranzustellen ist, dass Normen und Werte immer auch abhängig sind von den „interpretierten Gedankengängen47 und ihrer Kontextgebundenheit. Hans Joas verweist auf diese Problematik, wonach ein Ausgangsgedanke im Durchgang durch eine vielfältige Diskurswelt, wie er sagt, am Ende nicht mehr der ist, der er einmal gewesen ist.48 Anhand ausgewählter Autoren spürt er der Frage nach der Entstehung der Werte und dem Wertbegriff (Wertrelativismus und Wertobjektivismus)49 nach, wonach sich „reflektiertere Gedanken50, wenn auch nicht klarere Bestimmungen für den Begriff ergeben würden. Sie in ein System zu ordnen, ist kaum möglich. ← 29 | 30 →

Gleichermaßen komplex und bei weitem ausdifferenzierter erweist sich die Bedeutungsvielfalt des Wertbegriffs im Historischen Wörterbuch der Philosophie.

Aus übergeordneter Sicht finden sich Bestimmungen, bei denen die Werte in Beziehung zu einer übersinnlichen Wirklichkeit stehen oder die als absolute Werte oder Werte mit absoluter Geltung in Form der „Idee des Guten“ gesetzt sind oder die dem urteilenden Subjekt als ein „transzendentes Sollen“ gegenüberstehen.51 Eine solche teleologisch idealistische Sicht vertritt der deutsche Philosoph Hermann Lotze. Das Gemüt erhebt sich ihm zufolge in der religiösen „Ahnung“ bis zum Gedanken eines absoluten Wertes.52 Gleichermaßen sind Bestimmungen vertreten, die ein „transzendentales Normalbewußtsein“53 gegenüber hedonistischen Bewertungen voraussetzen. Einmal ist die Idealwelt eine vom Menschen geschaffene zur Befriedigung ethischer, ästhetischer und religiöser Bedürfnisse, dann wieder sind es objektiv absolute Werte, die der Entfaltung bedürfen. Sie lösen ein Streben um der Realisierung willen aus, können auch nicht erfunden werden, sondern nur entdeckt – eine Definition, wie sie der österreichische Philosoph Alois Riehl vertritt.54

Aber auch Werte in ihrer Subjektbezogenheit verlangen Erfüllung in der Wirklichkeit. Das subjektive Moment der Wertorientierung vertreten u.a. Max Weber sowie der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch.55

Auf der Grundlage psychischer Phänomene und im Fortgang bei der phänomenologischen Ethik spielt bei dem Werterleben das Gefühl eine Rolle, auf ein hinzukommendes Urteil wird verzichtet.56 Wert und Begehrlichkeit als Wertgefühle künden von der Bedeutung des Erlebens in Zusammenhang mit dem Gegenstand. Neu präzisiert wird der Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Realisierung der Werte und ihrem objektiven Wert bei Husserl. Nach der formalen Bestimmung unterscheidet Husserl mit Bezug auf die materiale Seite der Werte zwischen sinnlichen Werten und geistigen Werten, wobei die sinnlichen Werte als Voraussetzung für die geistigen Werte erachtet werden. Heidegger schließlich wendet sich gegen jede Bestimmung des Wertes, weil der Wert zum Gegenstand degradiert würde.57

Mit Nicolai Hartmann wird wieder eine idealistische und transzendente Wert-Begründung formuliert. Werte sind ihm zufolge Wesenheiten, die unabhängig vom Bewusstsein bestehen. Er blendet aber die phänomenologische Ebene nicht aus, sondern unterscheidet in ihrer Qualität zwischen einem realen, also wirklichen, und einem idealen Ansichsein. Letzteres verortet er in einem „eigenen, ← 30 | 31 → abgesonderten Bereich58, einem objektiven Reich. Wie zuvor bei Scheler, wenn auch in feineren Differenzierungen gedacht, attestiert Hartmann den Werten eine Rangordnung von höherer und tieferer Werthöhe,59 auch wenn er wiederum einem obersten feststehenden Wert ablehnt. Die Werthöhe verlangt ihm zufolge eine ständige Justierung.60 Hartmann begründet die Wertblindheit des Menschen damit, dass er nicht in der Lage ist, den Wert zu erfassen. Dies hängt ihm zufolge mit dem Fehlen eines Wertgefühls zusammen. Ein Weg, die Werte zu erkennen, sei die Aufgabe der Seinserkenntnis.61

Die Sozialpsychologie beschäftigt sich im Fortgang mit der Wertdefinition, was zu einer pragmatischen Werttheorie führt. Die metaphysische Dimension bleibt ausgeklammert und die praktischen Einwirkungen werden beschrieben.62 Werte bilden sich über dynamische Kommunikationen zwischen Individuen und Gesellschaft. Aus einer pragmatischen Sicht heraus sind Werte weder subjektiv noch objektiv, sondern entwickeln sich innerhalb sozialer Interaktionen. Diese Richtung wird u.a. von dem amerikanischen Philosophen Hilary Whitehall Putnam vertreten.63 In der analytischen Philosophie wird mit dem englischen Philosophen George Edward Moore das Problem der Definierbarkeit von Werten erneut thematisiert. Auch er vertritt die Auffassung, dass Werte undefinierbar seien. In der Ethik würde besonders gerne der Begriff mit der Eigenschaft des Wertes verwechselt.64 Die analytische Philosophie sieht in der bisherigen Behauptung der Ethik, das Wesen der Werte definieren zu können, somit eine Schwäche. Nicht natürliche Eigenschaften könnten ihr zufolge nicht auf natürliche Eigenschaften reduziert werden.65

Georg Hörmann, Professor em. am Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Bamberg, attestiert Werten eine totale oder partielle Gültigkeit für einen bestimmten Bereich und für eine bestimmte Dauer und beschreibt ihre Abhängigkeit von einem umfassenden Faktorenbündel, dessen Elemente häufig ineinander verflochten seien.66 ← 31 | 32 →

Abschließend sei noch ein Blick auf die Gegenwartsdiskussion geworfen. Erneut im Blickfeld steht in der Realismus-Debatte in der Moralphilosophie und in den daraus abgeleiteten neueren Ansätzen von Robert Nozick, Thomas Nagel und Charles Taylor das Problem der Annahme objektiver Werte – gerade auch im Hinblick auf ihre anthropologischen Verankerungen. Damit würden alte Spannungsfelder wieder reaktiviert.67 In die Ansätze dieser Autoren, die die Realismus-Debatte in der Moralphilosophie weiterführen, ist das Problem eingebettet, wie es sein kann, dass es Werte nur in Zusammenhang mit Personen gibt, ihnen aber eine von den Menschen unabhängige Realität zugestanden würde.68 In diesem Zusammenhang taucht erneut die Frage auf, inwieweit objektive Werte handlungsleitend sein können. Eine neue, realisationalistische Definition lehnt eine wertnihilistische Vorstellung ab, aber auch eine von den Menschen unabhängige Existenz von Werten. Ihr Vertreter ist Robert Nozick, der den Werten keine kausale Kraft zugesteht. Sie müssten, um ins Leben zu treten, aber bewusst von den Menschen gewählt werden.69 Das setze voraus, dass der Mensch an Werte glaubt, sonst würde er sie nicht wählen. Die Voraussetzung solcher Werte, die ihren eigenen externen Maßstab in sich führten und bereits da seien, bedeutet aber auch, dass dem Wert schon eine Bestimmung inhärent ist – und sei es nur durch die Kulturgebundenheit. Werte existieren also schon und sind somit unabhängig von unserer Definition.70 Dass Werten eine solche objektive Unabhängigkeit zugestanden wird, hängt – so die Erklärung des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel – mit der Fähigkeit des Menschen zusammen, die Dinge aus einer objektiven Sicht zu betrachten.71 Aber es gibt weiterhin auch subjektive Werte, und objektive und subjektive Werte stehen nach Nagel weiterhin miteinander in Konflikt.72 Auch in der Gegenwartsdiskussion findet sich die Frage nach der Hierarchie der Werte, sie sind begrifflich nur anders gefasst. Es ist die Rede von starken und schwachen Wertungen, wobei die schwachen lediglich Präferenzen ausdrücken, aber nicht reflektiert-wertend sind. Für den US-amerikanischen Philosophen Charles Taylor steht fest, dass es in der Verantwortung der Menschen liegt, zu klareren Werten zu kommen und dass der Mensch an starke Werte gebunden bleiben müsse, weil er sonst zerbreche.73

Im 20. Jahrhundert dauert die Diskussion um absolut geltende Werte an. In Bezug auf die begriffsgeschichtlichen Bedeutungen von Werten haben sich folgende ← 32 | 33 → meist qualitativen Oppositionen heraus kristallisiert. An dieser Stelle werden sie noch einmal in ihren Dichotomien zusammengefasst.

Im Hinblick auf die Wertedebatte in der Schule kann festgehalten werden, dass der in den Bildungsplänen geforderte Bezug auf Werte aus dem Grundgesetz abgeleitet ist und von dort seine Verbindlichkeit erhält. Die Wertgesichtspunkte, die sich in der Aufarbeitung der Historie, wie hier vorgelegt, ergeben haben, decken sich mit dem Bildungsanspruch in der Schule am ehesten in der Beschreibung für das Fach Ethik, Klasse 6, im Bildungsplan des Gymnasiums 2014 von Baden-Württemberg. Dort heißt es:

„Die Schülerinnen und Schüler können unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen wahrnehmen, beschreiben und deren Entstehung erklären […];74

Diese eher abstrakte Formulierung soll laut Bildungsplan anhand von altersangemessenen und anschaulichen Beispielen dargelegt werden.

3. Bestimmung des Normbegriffs in der Ethik, praktischen Philosophie und den Sozialwissenschaften

Die Ethik ist zum einen der Ort der Wesensbestimmung für den Normbegriff.75 Er erhält seine eigenständige terminologische Bedeutung erst im 19. Jahrhundert, wo die moralphilosophische Tradition retrospektiv auf den Normbegriff gedeutet wird. Als Oberbegriff werden unter ihm subsumiert: nomos, regula, mensura, lex, ordo, kategorischer Imperativ, Sittengesetz, Tugend, Pflicht sowie Prinzip und Regel, in Erweiterung auch Maßstab, regelnde Grundlage von moralischer Beurteilung.76 Bereits hier wird sichtbar, welche Bedeutungsvielfalt dem Begriff innewohnt.

Der Begriff der Norm zeichnet sich zunächst in Kants formalistischer Ethik als „formale“ Bestimmung des Moralischen aus, (er leitet die Moralität allein aus der ← 33 | 34 → Vernunft ab), ihr haftet der Gedanke der Allgemeingültigkeit an und der Notwendigkeit eines Sittengesetzes. Überhaupt beziehen sich nachfolgende Auslegungen häufig auf Kants Begriffsbestimmungen, die dann kritisiert, erweitert, differenziert oder verworfen werden.77 Die faktische Geltung von Normen wird bei den Philosophen Friedrich Eduard Beneke und Christoph von Sigwart zunächst durch psychologische und geschichtliche Analysen zu beantworten versucht.78 Ausgehend von einem positiven Menschenbild wird mit Wilhelm Wundt unterstellt, dass die Willensrichtungen des Menschen auf die Verwirklichung von Sittlichkeit ausgelegt sind. Dem Sein stellt er ein Sollen gegenüber, wobei über lange Zeit von den Folgen von Handlungen abgesehen wird. Nach der Ausdifferenzierung von sittlichkeitsumfassenden Grundnormen in abgeleitete Normen (z.B. Rechts-Normen) werden zwei Klassen von Allgemeinbegriffen verwendet – der Tugendbegriff, der das Motiv beleuchtet, und der Pflichtbegriff, der den Gegenstand bzw. die Handlung unter dem Aspekt der Zwecks betrachtet. Im Gegensatz zu Kant wird in der teleologischen Ethik von Friedrich Paulsen ein innerer Zusammenhang zwischen Norm und Zweck behauptet.79

Die sittliche Norm wird im Verlauf ihrer Bestimmung in der katholischen Morallehre in Abgrenzung zu Kant – hier bei dem Theologen Albert Stöckl – einerseits als Richtschnur betrachtet, andererseits als Imperativ. Daran wird eine Zweiteilung der Norm sichtbar, einmal als sittliche Ordnung im Hier und andererseits als letzte und höchste Norm als eine im göttlichen Verstande begründete, so Stöckls Fazit.80

In der praktischen Philosophie ist der Begriff ebenfalls nicht eindeutig definiert. Unter den Begriff der Normen fallen u.a. Handlungsanweisungen im Sinne von Handlungsmaximen, für die mit Bezug auf Habermas allgemeine Anerkennung gefordert wird.81

Soziologisch argumentierende Autoren verwenden ein anderes Begriffsvokabular als Autoren mit psychologischen oder philosophischen Begründungen.82 Auch ← 34 | 35 → die unterschiedlichen Theorieansätze83 zur Normfindung und Normbegründung sind nur teilweise hilfreich bei der Normklärung.

In den Sozialwissenschaften sind Normen konkrete Vorschriften, sie sind meist als Wertmaßstäbe formuliert, die das soziale Verhalten betreffen, es regeln, integrativ wirken, das Verhalten normieren und soziales Handeln vereinfachen.84 Darunter fallen Sitten und Gebräuche, die den Menschen Orientierung geben, sie aber auch auf die Einhaltung der Normen verpflichten. Sie haben ihre Geltung im Sozialbereich.85 Vorausgesetzt wird, dass die Norm auf einem Wert gründet, von dem her sie ihre sittlichen Begründungen erhalten. Soziale Normen unterliegen gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen und sind wandelbar. Auch gibt es in Gesellschaften partikulare Normen, die nicht für alle Mitglieder verpflichtend sind. Allgemeine Normen abstrahieren hingegen von besonderen Merkmalen.86 Im Kern bleibt das Problem von Allgemeingültigkeit und Majoritätenbestimmung bestehen. In der Moderne sind praktische Normen handlungsorientierende Hilfen oder moralische Prinzipien, die geprüft, begründet und gerechtfertigt werden müssen. Ihre Allgemeingeltung wird beibehalten. Für den christlichen Anthropologen und Sozialethiker Arno Anzenbacher87 ist das Normenproblem eines der Hauptthemen der abendländischen Philosophie. Er beschränkt sich auf die Darstellung der sittlichen Normen vorwiegend unter Bezug auf Kant.88 Kant ist für die vorliegende Arbeit wesentlich bei Fragen der „(moralischen) Bildung“.

Zusammenfassend lassen sich für Normen folgende Merkmale bestimmen, die man in zwei Gruppen unterteilen kann. ← 35 | 36 →

Einmal gibt die Norm

a. eine inhaltliche Richtschnur vor.

Die sittliche Norm soll aber auch

b. realisiert werden (Handlungspflicht):

Zu a:

  • Normen gehen auf ideale Sollensinhalte zurück89
  • Die Norm wird meist als Regel, Richtschnur, Maßstab oder Gesetz begriffen (nicht bei Kant)
  • Sie formulieren das Normale, Gewöhnliche
  • Sie sind Maßbegriffe und stellen Regeln der Beurteilung auf
  • Sie wird als allgemeines Sittengesetz vorausgesetzt bzw. als oberste unbedingte Norm
  • Normen werden durch Werte begründet
  • Normen verlangen das Einfügen in eine ontologische Ordnung

Zu b:

  • Normen haben Sollenscharakter, der sich mit der Zeit verändern kann (Problem der Vieldeutigkeit). Sie implizieren meist angemessenes Handeln und wollen verwirklicht werden90
  • Normen dienen Zwecken und Zielen
  • Handlungsfolgen und ihre Wirkungen müssen Berücksichtigung finden

Als Resümee bei der Auseinandersetzung mit dem Normbegriff bleibt, dass Normen eine objektive Geltungskraft wegen ihrer Vieldeutigkeit nicht zugeschrieben werden kann und die gegenwärtigen Theorien zur Normen-Klärung und zur Bestimmung des Norm-Begriffs diese Unbestimmtheit nicht auszuräumen vermögen.91 Trotzdem lassen sie sich von Werten abgrenzen.

4. Das Verhältnis von Normen und Werten

Nicht nur in der Philosophie sondern auch in den Sozialwissenschaften sind die Begriffe Wert und Norm und ihre Beziehung zueinander meist nicht eindeutig festgelegt,92 weshalb an dieser Stelle nur unterschiedliche Positionen vorgetragen ← 36 | 37 → werden können, die sich vor allen Dingen auf folgende Verhältnisse beziehen: die absolute oder relativ-subjektive Geltung.

Nach den Darstellungen im Historische Wörterbuch der Philosophie trennt in der neukantianischen Wertphilosophie der Philosoph Hans Rickert die Begriffe Wert und Wirklichkeit terminologisch, indem er den Wert zwar als undefinierbar bezeichnet, ihm aber Geltung zuschreibt, weil es Gebilde gäbe, die nicht existierten und trotzdem „Etwas“ seien.93 Die Wertgeltung zeige sich dadurch, dass Werte zur Verwirklichung gelangten. Sie würden den kulturellen Objekten anhaften. Rickert unterscheidet zwischen zwei Wertgruppen, von denen die eine u.a. die soziale Sittlichkeit betrifft, die mit dem persönlichen aktiven Dasein verbunden ist. Er konkretisiert hierbei den Wertbegriff. Rickert insistiert auf der absoluten Geltung an sich seiender Werte.94

Die Anerkennung objektiv geltender Werte als Voraussetzung lässt daneben eine Vorstellung von Wert zu, die Werte auch in ihrer Subjektbezogenheit anerkennen und aus dieser Definition Aufgaben ableiten, die nach Erfüllung in der Wirklichkeit verlangen. Diese vermittelnde Position vertritt der Neukantianer Bruno Bauch.95 Die Differenzen zwischen der absoluten Geltung von Werten und subjektiven Momenten sind Hauptthema bei den südwestdeutschen Neukantianern.96

Dem Verhältnis von Normen und Werten widmet sich Detlev Horster, Professor für Sozialphilosophie an der Universität zu Hannover. Er datiert das Verhältnis von Normen und Werten in der Moralphilosophie in die Entstehung der materialen Wertethik von Max Scheler und Nicolai Hartmann. Für Scheler bestünde der Zusammenhang darin, dass die Normen sich aus den Werten ergäben.97 Nicolai Hartmann behält, wie Horster darlegt, diese Aufeinanderbezogenheit bei, differenziert aber zwischen einem idealen (Wert) und realem (Norm) Seinsollen. Die Realisierung alles Wertvollen würde nach dieser Position durch Normen gewährleistet. Man solle das Wertvolle tun. So wird der Zusammenhang zwischen Werten und Normen in der materialen Wertethik bestimmt.98

Habermas hingegen unterscheidet, wie Horster ausführt, zwischen kulturellen Werten und universellen Normen. Die objektive Geltung einer universalistischen Moral würde im Diskurs gefunden, eine Position, die Horster als „Verengung“ bezeichnet, da die Objektivität der Normen im Diskurs generiert würde.99 Für die vorliegende Untersuchung ist wichtig, dass zwischen Werten und Normen unterschieden wird.100 ← 37 | 38 →

Hans Joas, der dem klassischen Pragmatismus zuzuordnen ist, hält – folgt man hier Horster – ebenso an der Trennung von Werten und Normen fest, allerdings sei nicht einmal die Bestimmung der Begriffe einhellig – ganz unabhängig vom Verhältnis der Begriffe zueinander. Werte seien attraktiv-motivierend, Normen hingegen restriktiv-obligatorisch. Für Joas seien Werte nicht unabhängig von den Subjekten oder deren Meinung darüber, was sie als wertvoll ansehen würden. In Joas’ Wertethik seien die Werte stark an Personen gebunden, so dass hier eine affektive Dimension hinzukomme.101

Im moralischen Realismus wird weder die diskursive Position noch die Bindung der Werte an die Person weitergeführt. Demzufolge gewinnt erneut eine Bestimmung Vorrang, die von objektiven und nicht von diskursiv zu ermittelnden oder personenabhängigen Wertvorstellungen ausgeht.102

Normen als Resultate spekulativer Reflexion definiert der Erziehungswissenschaftler Georg Hörmann (Universität Bamberg) als Soll-Sätze, die als „unbedingte“, „bedingte“, „absolute“ und „relative“ Normen und damit häufig in diesem Bereich als Werte identifiziert würden.103 Der Brockhaus bezeichnet soziale Normen als die konkreter ausgeprägten im Vergleich zu den Werten. Werte fundierten und rechtfertigten die Normen hingegen. Sie hätten also Legitimationsfunktion.104

Die vollkommene oder graduelle Entscheidungsinstanz seien das Gewissen oder die Vernunft und würden bei der mündigen Person, die über internalisierte Normen zu reflektieren und zu urteilen verstehe, grundsätzlich nicht bestritten. Der Brockhaus spricht im ethischen Sinne von Handlungsorientierungen, womit Tugenden, sittliche Motive und Pflichten gemeint sind mit dem Ziel, das menschlich Gute zu realisieren. Nach Kant gehören hierzu Maximen als selbstgesetzte Grundsätze aber auch, wie der Brockhaus sie charakterisiert, allgemeine anerkannte, moralisch verbindliche Werte, die die Ansprüche einer vernünftigen Rechtfertigung ← 38 | 39 → erfüllen müssten.105 Werte sind hierarchisch strukturiert von denen die höchsten die Ideal- und Grundwerte sind. Bei Platon erfolgt eine Trennung zwischen Sein und Wert und existiert als transzendente Idee eines höchsten Gutes oder später als ideale Qualität, deren Kennzeichen ihre Objektivität ist.106

Es folgen die instrumentellen Werte, die als Norm- oder Sollensvorstellung in Erscheinung treten, um die oberste Wertegruppe zu erreichen. Sie gelten als weniger abstrakt. Je weiter man in der Wertehierarchie nach unten steigt, desto konkreter werden sie und nähern sich eher objektgerichteten Wertschätzungen. Es ist aber die Philosophie, die nach der Berechtigung der Verbindlichkeit von Werten fragt.107

Details

Seiten
530
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055054
ISBN (ePUB)
9783653970661
ISBN (MOBI)
9783653970654
ISBN (Hardcover)
9783631660935
DOI
10.3726/978-3-653-05505-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Antinomien in der Pädagogik Systemische Pädagogik Selbstorganisation Kompetenzorientierung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 530 S., 18 s/w Abb.

Biographische Angaben

Cornelia Frech-Becker (Autor:in)

Cornelia Frech-Becker studierte an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe Englisch und Bildende Kunst für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Nach einem Studienaufenthalt in England und Lehrtätigkeiten an zwei Grammar Schools absolvierte sie ein sozialwissenschaftliches Studium und promovierte an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Die Autorin ist Referentin für Museumspädagogik im Regierungspräsidium Karlsruhe. Sie hat mehrere Bücher und wissenschaftliche Artikel im Bereich Disziplin, Bildung, englische Methodik/Didaktik und Museumspädagogik veröffentlicht.

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Titel: Disziplin durch Bildung – ein vergessener Zusammenhang
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