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Das Gymnasium der Migrationsgesellschaft

Deutschförderung für mehrsprachige Schüler zwischen Zweit- und Bildungssprache

von Gerald Fischer (Autor:in)
©2015 Dissertation 462 Seiten

Zusammenfassung

Spätestens seit der Jahrtausendwende befindet sich das Gymnasium in einer krisenhaften Umbruchphase. Gerald Fischer beleuchtet eine bislang vernachlässigte Facette jenes Wandlungsprozesses, nämlich den wachsenden Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf den Schulalltag des Gymnasiums? Welche Besonderheiten gymnasialen Unterrichts erklären den geringeren Bildungserfolg mehrsprachiger Schüler mit nichtdeutscher Erstsprache? Wie muss ein Förderkonzept aussehen, das die Erwerbsbedingungen von Deutsch als Zweitsprache berücksichtigt? Auf diese Fragen gibt das Buch u. a. anhand von Sonderauswertungen amtlicher Statistiken und Jahrgangsstufenarbeiten, sowie eigener Sprachstandserhebungen und Expertenbefragungen Antworten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Ziel und Aufbau der Arbeit
  • 2. Migration und Gymnasium in Deutschland
  • 2.1 Deutschland im 21. Jahrhundert: ein mehrsprachiges Migrationsland
  • 2.1.1 Migration und Migrationshintergrund: begriffliche Klärungen
  • 2.1.2 Migration nach Deutschland seit 1950
  • 2.1.3 Vom Wesen erfolgreicher Integration
  • 2.2 Schüler mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
  • 2.2.1 Bildungsbeteiligung und Kompetenzen
  • 2.2.2 Ursachen für die Disparitäten
  • 2.2.3 Bildungspolitische Reaktionen
  • 2.3 Das Gymnasium im gesellschaftlichen Wandel
  • 2.3.1 Charakteristische Merkmale und aktueller Bildungsauftrag
  • 2.3.2 Von der „Eliteschmiede“ zum „Integrationsmotor“?
  • 2.3.3 Schüler mit Migrationshintergrund: Fallbeispiel Bayern
  • 2.3.4 Analyse der bayerischen Jahrgangsstufenarbeiten im Fach Deutsch
  • 2.4 Förderbedarf für Deutsch als Zweitsprache am Gymnasium
  • 3. Deutsch als Zweitsprache im Kontext gymnasialen Unterrichts
  • 3.1 Zweitspracherwerb: Grundlagen und Forschungsstand
  • 3.1.1 Besonderheiten und Einflussfaktoren
  • 3.1.2 Lernersprachen und ihre Entwicklung
  • 3.1.3 Schriftspracherwerb in der Zweitsprache
  • 3.1.4 Häufige Fehlerquellen im Deutschen
  • 3.2 Gymnasiale Unterrichts- und Bildungssprache
  • 3.2.1 „Unterrichtsdeutsch“: eine konzeptionell schriftliche Sprache
  • 3.2.2 Bildungssprache und Lernen
  • 3.2.3 Unterricht als kommunikativer Prozess
  • 3.2.4 Anforderungen in der Abiturprüfung: Fallbeispiel Bayern
  • 3.3 Anspruch und Wirklichkeit: empirische Befunde zur konzeptionellen Schriftsprache in der 5. Jahrgangsstufe
  • 3.3.1 Im „Foyer des Gymnasiums“
  • 3.3.2 Sprachliche Anforderungen vor und nach dem Übertritt
  • 3.3.3 Allgemeine Sprach- und Lesekompetenzen: der C-Test
  • 3.3.4 Schreibkompetenzen nach quantitativen Merkmalen
  • 3.3.5 Qualitative Textanalyse
  • 3.4 „Hindernisparcour“ Gymnasium: zwischen Zweit- und Bildungssprache
  • 4. Mehrsprachige Schüler in der gymnasialen Unterstufe: Perspektiven zur Förderung ihrer schriftsprachlichen Deutschkenntnisse
  • 4.1 Überlegungen zur Didaktik und Methodik gymnasialer Zweitsprachenförderung
  • 4.1.1 Anregungen aus der Zweitsprachendidaktik
  • 4.1.2 Fehleranalyse und Sprachstandserhebungen
  • 4.1.3 Sprachförderkurse versus Integration in den Regelunterricht
  • 4.1.4 Leitlinien einer gymnasialen Zweitsprachenförderung
  • 4.2 Aktuelle Deutschfördermaßnahmen am Gymnasium
  • 4.2.1 Schulrechtliche Regelungen und Förderansätze im Überblick
  • 4.2.2 Fördermaßnahmen an fünf Münchener Gymnasien
  • 4.2.3 Bewertung aus zweitsprachendidaktischer Perspektive
  • 4.3 Konturen eines künftigen Förderkonzepts für mehrsprachige Schüler
  • 4.3.1 Die drei Säulen einer integrativen Sprachförderung
  • 4.3.2 Sprachsensibler Fachunterricht
  • 4.3.3 Zusätzliche Deutschförderkurse
  • 4.4 Zwischen Überforderung und Überförderung: die Grenzen des Machbaren
  • 5. Gymnasien „mit Migrationshintergrund“: Paria- oder Pionierschulen?
  • 6. Anhang
  • 6.1 Literaturverzeichnis
  • 6.1.1 Sekundärliteratur
  • 6.1.2 Primärliteratur und Unterrichtsmaterialien
  • 6.1.3 Internetquellen
  • 6.2 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
  • 6.2.1 Tabellenverzeichnis
  • 6.2.2 Abbildungsverzeichnis
  • 6.3 Tabellen
  • 6.4 Abbildungen
  • 6.5 Abkürzungsverzeichnis
  • 6.6 Glossar
  • 6.7 Zusätzliche Erhebungsmaterialien (s. beiliegende CD)
  • 6.7.1 Sonderauswertung der amtlichen Schuldaten
  • 6.7.2 Auswertung der Jahrgangsstufenarbeiten im Fach Deutsch
  • 6.7.3 Ergebnisse der Schülerbefragung an Münchener Gymnasien
  • 6.7.4 Erhebung des Sprachstands in den 5. Klassen
  • 6.7.5 Interviews mit Förderlehrern an Münchener Gymnasien
  • 6.7.6 Ergebnisse der Delphibefragung
  • 6.7.7 Lehrbuchauswertung (4. und 5. Jahrgangsstufe)

← 10 | 11 → Vorwort

Das erste Mal nahm ich das Phänomen „Deutsch als Zweitsprache“ im Jahre 2005 zur Kenntnis, in meinem zweiten Schuljahr als Lehrkraft an einem Münchener Gymnasium. Ich hatte gerade die Klassenleitung in einer 5. Klasse übernommen, in der etwa zwei Drittel der Schüler1 einen Migrationshintergrund hatten. Diese sprachen mit ihren Eltern zu Hause oftmals nicht Deutsch, sondern z.B. Türkisch, Russisch, Tamil, Vietnamesisch, Serbokroatisch oder Arabisch. Viele von ihnen beherrschten die Unterrichtssprache Deutsch deshalb nicht auf dem Niveau, das nach den allgemeinen Vorstellungen ein Schüler mitbringen muss, wenn er den Übertritt an das Gymnasium geschafft hat. Ich merkte schnell, dass ich nicht einfach den Lehrplan abarbeiten konnte; zu groß war die Heterogenität im sprachlichen Leistungsvermögen, die ich im Klassenzimmer antraf.

Auf diese Situation war ich weder in fünf Jahren Universitätsstudium noch in zwei Jahren Referendariat vorbereitet worden. Aber da ich nun einmal zehn Wochenstunden Deutsch und Geographie in dieser Klasse unterrichten sollte, konnte ich die großen sprachlichen Leistungsnachteile einiger Fünftklässler mit nichtdeutscher Muttersprache nicht einfach ignorieren. Ich musste mich notgedrungen mit der Frage beschäftigen, wie ich diesen Kindern helfen konnte. Ein Blick auf den damaligen Forschungsstand zeigte mir sehr schnell, dass es auf diese Frage noch keine befriedigende Antwort gab: Das Thema „Deutsch als Zweitsprache (DaZ) am Gymnasium“ befand sich noch weitgehend im wissenschaftlichen Niemandsland. Meine alltäglichen Nöte im Unterricht wurden bis dahin offenkundig nicht als ein allzu drängendes Problem empfunden. Was lag also näher, als dass ich aus eigenem Interesse heraus einen Beitrag leiste, um diese Forschungslücke zumindest teilweise zu schließen?

Die Motivation war groß, und so machte ich mich ans Werk. Die mit diesem Buch vorliegende Arbeit entstand zwischen Juli 2009 und November 2013 und wurde im Juli 2014 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Sie fasst die wichtigsten Ergebnisse meiner langjährigen Forschungstätigkeit zusammen. Die empirischen Erhebungen und ihre Auswertung fanden von März 2010 bis September 2011 statt. Befunde, die aus Platzgründen nicht Eingang in das Buch gefunden haben, sind als Anhang auf CD beigefügt worden. Nach Abschluss des Promotionsverfahrens wurde die ← 11 | 12 → Dissertation bis Ende 2014 außerdem nochmals für die Publikation sprachlich überarbeitet, aktualisiert und um ein Glossar ergänzt.

Offen gestanden: Wenn ich geahnt hätte, welchen Zeit- und Arbeitsaufwand dieses Dissertationsvorhaben bedeutet, dann hätte ich es vermutlich erst gar nicht in Angriff genommen. Ich glaubte, die Forschungsergebnisse würden sich en passant aus meinen eigenen Unterrichtserfahrungen ergeben. Doch aus dem geplanten Spaziergang im wissenschaftlichen Niemandsland entwickelte sich – zumindest dem Empfinden nach – die anstrengende Erstbesteigung eines Berges, mit steilen Felswänden, schmalen Graten und so manchen Irrwegen. Gerade in der Endphase der Arbeit wurde die Luft ein ums andere Mal auch ziemlich dünn: Ich habe die Mühen schlichtweg unterschätzt, die eine solche Dissertation neben der beruflichen Arbeitsbelastung darstellt.

Dass ich die Strapazen, die mit einem solchen Vorhaben verbunden sind, dennoch durchgehalten habe, verdanke ich vor allem der intensiven Betreuung durch meinen Mentor Prof. Klaus H. Kiefer, der mich beständig zum Weitermachen ermuntert hat. Ihm gilt daher mein besonderer Dank. Zu danken habe ich ferner Stefan Krimm und Martin Sachse-Weinert im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Jürgen Rotschedl im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung sowie Karin Spoerl und Wilhelm Nutzinger im Referat für Bildung und Sport (ehemals Schul- und Kultusreferat) der Stadt München, die 2010 die empirischen Erhebungen ermöglicht haben. Leider ist es schon allein aus Datenschutzgründen ausgeschlossen, an dieser Stelle alle Personen und Institutionen zu erwähnen, die mich durch ihre Expertise bzw. Teilnahme an Befragungen unterstützt haben. Bedanken möchte ich mich aber vor allem noch bei meiner ehemaligen Schulleitung in München, ohne deren Aufgeschlossenheit empirische Arbeiten wie der Sprachstandstest schon im Ansatz gescheitert wären.

Dieses Buch widme ich meiner Frau Katja und meinem Sohn Jaron, für die ich in der heißen Phase der Dissertation leider nur wenig Zeit hatte: Sie bewiesen über Jahre hinweg, in denen ich so manchen Samstag und etliche Ferientage in der Bibliothek verbrachte, eine nahezu grenzenlose Geduld. Ich hoffe sehr, dass sich der enorme Aufwand gelohnt hat und ich mit dieser Arbeit einen Impuls für weitere Untersuchungen zur gymnasialen Zweitsprachenförderung setzen konnte. Die erfolgreiche Integration mehrsprachiger Kinder wird fortan nämlich sicherlich ein entscheidender Gradmesser dafür sein, ob das Gymnasium in der Migrationsgesellschaft überhaupt eine Zukunft hat.

Madrid, Januar 2015
Gerald Fischer

__________

1 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird bei Personenbezeichnungen in der Regel nur die männliche Form verwendet. Sie schließt die weibliche Form automatisch mit ein.

← 12 | 13 → 1. Ziel und Aufbau der Arbeit

Als die deutsche U21-Fußballnationalmannschaft 2009 in Schweden den EM-Titel gewann, besaßen elf der 23 Nachwuchsspieler einen sogenannten Migrationshintergrund.2 Die Berichterstattung darüber erregte großes Aufsehen, stand sie doch im deutlichen Kontrast zu der ansonsten üblichen Darstellung des Themas „Migration“ in der Öffentlichkeit, die bis dahin zumeist von negativ besetzten Schlagwörtern wie z.B. Moscheenstreit, Kopftuchverbot, Zwangsehen, Ausländerkriminalität oder Parallelgesellschaften beherrscht wurde. Als Folge einer massenmedial derart gefilterten Wahrnehmung empfanden bislang viele alteingesessene Deutsche Zuwanderung in erster Linie als Bedrohung für das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Dementsprechend passen jubelnde Spieler mit internationalen Wurzeln, die für Deutschland Titel holen und auf die man stolz sein kann, nicht zum gängigen Klischee vom „integrationsunwilligen Verlierertypen“. Stattdessen ist auf einmal von der „Kraft des kulturellen Kollektivs“ und der „Multi-Kulti-Normalität“3 die Rede. Dass Einwanderer auch in den Jahrzehnten zuvor schon erfolgreich in der deutschen Mittelschicht Fuß fassten, wurde lange Zeit weitgehend ignoriert. Sie stellen für die sozioökonomische und soziokulturelle Entwicklung Deutschlands immer noch ein „unterschätzte[s] Potenzial“4 dar. So betrachtet helfen Nachrichten über sportliche Erfolge, die längst überfällige Korrektur althergebrachter Vorurteile zu beschleunigen und ein differenzierteres Bild von „Gastarbeitern“, „Aussiedlern“ oder „Ausländern“ zu gewinnen.

Zugleich lenkt das Beispiel der jungen Europameister das Augenmerk auch auf eine der wichtigsten sozialpolitischen Herausforderungen der Gegenwart: die Frage der Integration verschiedener Zuwanderergruppen. Der „Melting Pot“ Fußballnationalmannschaft eröffnet in dieser Hinsicht eine optimistisch stimmende Perspektive, nämlich dass eine so zentrale Zukunftsaufgabe, bei allen erkennbaren Schwierigkeiten, durchaus lösbar zu sein scheint.

Aber wie sieht es außerhalb des Fußballplatzes aus? Handelt es sich bei dieser Elf nicht nur um ein gelungenes, sondern auch ein repräsentatives Beispiel für Integration oder stellt es vielmehr die sozialromantische Verklärung einer weniger ← 13 | 14 → erfreulichen Wirklichkeit dar? Unbestreitbar können viele Zugewanderte Integrationsleistungen vorweisen. Mittlerweile ist es Migranten der zweiten Generation vereinzelt sogar gelungen, in höchste politische Ämter aufzusteigen, wie z.B. Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, oder Yasmin Fahimi, die neue Generalsekretärin der SPD, beweisen.5 Obwohl solche Karrieren exemplarisch die Chancen verdeutlichen, die die Migration für Deutschland bietet, darf man aber nicht übersehen, dass es einem bedeutenden Teil der Einwanderer nach wie vor schwerfällt, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzukommen.

Um einen realistischeren Eindruck von der aktuellen Situation zu erhalten, genügt ein kurzer Blick auf das deutsche Bildungssystem, denn Schulen sind immer auch Spiegelbild demografischer und sozioökonomischer Strukturen. Außerdem kommt ihnen im Hinblick auf die soziale Integration eine Schlüsselfunktion zu, da sie über die jeweiligen Bildungsabschlüsse die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe massiv beeinflussen. Der mangelnde schulische Erfolg vieler Zuwandererkinder, wie ihn z.B. auch der Bundesbildungsbericht 2006 als Fazit festhält, ist deshalb umso besorgniserregender: „Insgesamt haben Schüler mit Migrationshintergrund […] nicht nur Schwierigkeiten, in höhere Schularten überzugehen, sondern sie haben darüber hinaus größere Probleme, sich dort zu halten.“6

Die Ursachen dafür sind sicherlich sehr vielfältig. Im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich jedoch weitgehend einig, dass zu geringe Kompetenzen in der deutschen Sprache eine entscheidende Erklärungsvariable sind, wenn Migrantenschüler im Bildungssystem scheitern. Häufig sprechen sie zu Hause eine andere Familiensprache und lernen Deutsch als Zweitsprache (DaZ), was zu einem verzögerten Deutscherwerb führen kann. Die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache (DDaZ) versucht Unterrichtsprinzipien und Methoden zu ermitteln, um die sprachlichen Leistungsnachteile der Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache ausgleichen zu können.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung konzentriert sich dabei allerdings vor allem auf die Elementar- und Primarstufe sowie, im Falle der weiterführenden Schulen, auf den Hauptschulbereich. Das Gymnasium erfährt in der Zweit- spracherwerbsforschung bis zur Gegenwart dagegen kaum Beachtung. Diese Schulart wird derzeit noch so gut wie überhaupt nicht mit dem Phänomen ← 14 | 15 → „Migration“ assoziiert, weil Schüler mit Migrationshintergrund im Gymnasium, verglichen mit anderen Sekundarschularten, deutlich unterrepräsentiert sind. Oftmals geht man davon aus, dass sie dort nur dann zu Recht anzutreffen sind, wenn sie Deutsch wie ihre muttersprachlichen Altersgenossen beherrschen. Diese Auffassung mutet erstaunlich kurzsichtig an, stellt der gymnasiale Bildungsweg und das von ihm angebotene Abitur doch die Eintrittskarte schlechthin für die Mittelschicht bereit. Deshalb müsste das Gymnasium bei der erfolgreichen Integration der Zuwandererkinder eigentlich eine Vorreiterrolle übernehmen.

Ziel dieser Dissertation ist es, das Problembewusstsein für die Bedeutung dieser Thematik auch im Gymnasium zu schärfen und einige offene Fragestellungen zu behandeln. Sie versteht sich als Beitrag, in Zukunft besser ein wichtiges Anliegen des Nationalen Integrationsplans umzusetzen, und zwar „Menschen mit Migrationshintergrund […] mit allen Kräften in Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt zu integrieren“,7 um damit für ein Stück mehr Chancengleichheit im gesellschaftlichen Leben zu sorgen.

Die Struktur der Arbeit orientiert sich an drei grundlegenden Leitfragen. In Kapitel 2 wird zunächst der gesellschafts- und bildungspolitische Kontext des Themas „Deutsch als Zweitsprache am Gymnasium“, wie er soeben skizziert worden ist, näher beleuchtet. Er bildet den inhaltlichen Rahmen, in den diese Forschungsarbeit eingebettet ist, und schließt mit einer exemplarischen Analyse des bayerischen Gymnasiums ab. Dabei steht folgende Leitfrage im Vordergrund:

Leitfrage 1:Inwiefern wirkt sich die zunehmende Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der deutschen Migrationsgesellschaft auch auf das Gymnasium und seinen Schulalltag aus?

Diese Analyse basiert auf einer Sonderauswertung des Bayerischen Landesamts für Statistik und Datenverarbeitung sowie ergänzenden Erhebungen an fünf Münchener Schulen, die einen hohen Anteil an Zuwandererkindern aufweisen. Außerdem wird anhand einer statistischen Untersuchung zentraler Jahrgangsstufenarbeiten überprüft, ob sich in verschiedenen sprachlichen Kompetenzbereichen ein Zusammenhang zwischen dem Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund und den durchschnittlichen Lösungsgraden feststellen lässt. Daraus lassen sich erste Anhaltspunkte dafür ableiten, wie hoch der potenzielle Förderbedarf für Deutsch als Zweitsprache am Gymnasium ist.

← 15 | 16 → Das dritte Kapitel hat die Aufgabe, die besonderen Bedingungen des Zweitspracherwerbs im Kontext gymnasialen Unterrichts zu erschließen, was von zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven aus erfolgt: der Perspektive des Lerners, der Deutsch als Zweitsprache erwirbt, sowie der Perspektive der gymna sialen Unterrichtssprache und ihrer spezifischen Anforderungen. Auch diesem Kapitel liegt eine Leitfrage zugrunde:

Leitfrage 2:Welche Besonderheiten des gymnasialen Unterrichts und der gymnasialen Unterrichtssprache erklären den geringeren Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund am Gymnasium?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werden als Erstes bereits bestehende Befunde aus der Zweitspracherwerbsforschung, der Linguistik, der Lernpsychologie und Kommunikationstheorie sowie die offiziellen Anforderungen im Abitur präsentiert. Daran schließt sich eine empirische Fallstudie in der 5. Jahrgangsstufe eines Münchener Gymnasiums an, die dazu dient, die vorherigen Ausführungen zu konkretisieren. Anhand einer Lehrbuchanalyse und eines Sprachtests wird exemplarisch erfasst, ob bereits unmittelbar nach dem Übertritt die sprachlichen Anforderungen dermaßen gestiegen sind, dass sich im schriftsprachlichen Bereich Leistungsdifferenzen zwischen Fünftklässlern mit deutscher und nichtdeutscher Familiensprache zeigen.

Das vierte Kapitel widmet sich am Beispiel der gymnasialen Unterstufe schließlich einer weiteren wichtigen Leitfrage dieser Arbeit:

Leitfrage 3:Wie muss ein künftiges Sprachförderkonzept für sprachlich leistungsschwächere Schüler in der gymnasialen Unterstufe aussehen, das auch die besondere Erwerbssituation von Deutsch als Zweitsprache berücksichtigt?

Hierfür wird zuerst überblicksartig der aktuelle Forschungsstand der Zweitsprachendidaktik betrachtet, aus dem sich dann Leitlinien einer gymnasialen Zweitsprachenförderung ableiten lassen. Im Anschluss daran erfolgt eine Bestandsaufnahme der aktuellen Deutschförderung an Gymnasien. Nach einer zusammenfassenden Darstellung derzeitiger schulrechtlicher Regelungen und Ansätze werden entsprechende Fördermaßnahmen an den fünf Münchener Gymnasien, die bereits an der Erhebung in Kapitel 2 teilgenommen haben, vorgestellt und im Hinblick auf zweitsprachenspezifische Prinzipien bewertet. Mittels qualitativer Experteninterviews stellen die zuständigen Förderlehrer beispielhaft dar, wie betroffene Gymnasien auf den steigenden Umfang an Schülern mit Migrationshintergrund reagieren. Hieraus und aus einer ← 16 | 17 → Delphibefragung8 werden Anregungen für ein praxistaugliches Förderkonzept in der gymnasialen Unterstufe gewonnen.

Eine umfassende Rezeptologie würde den Rahmen einer Dissertation zwar bei weitem sprengen. Es werden aber zumindest Wege aufgezeigt, die man in der gymnasialen Zweitsprachenförderung einschlagen sollte. Diese Arbeit möchte folglich keinen allgemeingültigen Leitfaden für den Unterricht an die Hand geben, sondern versteht sich vielmehr als Impulsgeber, der die Notwendigkeit weiterführender Forschungsprojekte im Bereich der gymnasialen Zweitsprachenförderung vergegenwärtigt. ← 17 | 18 →

__________

2 Vgl. das Medienecho in vielen überregionalen Tageszeitungen am 18. Juni 2009 (z.B. Theweleit u. Leroi: Deutsche aus aller Welt, S. 27).

3 Hartmann: Wurzeln bis nach Sibirien, S. 35.

4 Raiser: Neue Eliten? Das unterschätzte Potenzial, S. 4.

5 Ein weiteres Beispiel hierfür ist Aygül Özkan, die ehemalige Sozialministerin in Niedersachsen. Vgl. insbesondere die Reaktion der Zeitungen auf Aygül Özkans Vereidigung im April 2010 (z.B. Prantl: Das neue Deutschland, S. 59 oder Topçu: Das neue Wir, S. 2).

6 Avenarius u.a.: Bildung in Deutschland, S. 152.

7 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Der Nationale Integrationsplan, S. 62.

8 Zu den Grundlagen vgl. Häder u. Häder: Die Delphi-Methode, S. 12ff.; s. auch das Glossar im Anhang.

← 18 | 19 → 2. Migration und Gymnasium in Deutschland

„meines vaters fremde ist meine heimat geworden / meine heimat
ist die fremde meines vaters geblieben / wo wir uns begegnen ist
niemandsland“ (Nevfel Cumart)

2.1 Deutschland im 21. Jahrhundert: ein mehrsprachiges Migrationsland

2.1.1 Migration und Migrationshintergrund: begriffliche Klärungen

Der Begriff „Migrationshintergrund“ hat mittlerweile – ebenso wie andere Modewörter – aufgrund seiner ständigen Verwendung in unterschiedlichen Kontexten sehr viele Facetten. Er wird gemeinhin Personen zugewiesen, die durch eigene Migration bzw. die Migration ihrer Eltern geprägt sind und sich deshalb in einer ähnlichen transkulturellen Situation befinden, wie sie der türkischstämmige Lyriker Nevfel Cumart für sich selber beschrieben hat.9 Eine Definition des Begriffes „Migration“ sollte folgende drei Merkmale enthalten: a) geografischer Ortswechsel, b) Veränderung des sozialen Beziehungsgeflechts und c) nationalstaatliche oder soziokulturelle Grenzerfahrungen.10 Je nach Forschungsinteresse werden in den verschiedenen Fachdisziplinen darüber hinaus weitere Dimensionen des Migrationsprozesses beleuchtet, um den Wanderungsverlauf konkreter zu erfassen. Petrus Han unterscheidet z.B. eine motivationale (Gründe, Aspirationen), räumliche (Distanz, Fremdheit), zeitliche (dauerhaft, vorübergehend) und soziokulturelle Dimension (neues Lebensumfeld).11 Annette Treibel betont außerdem, dass es bedeutend ist, ob die Migration freiwillig (z.B. Arbeitsmigration) oder erzwungen (Flucht, Vertreibung) erfolgte.12

Die Übergänge zwischen verschiedenen Migrationsformen sind aber oftmals fließend. Aus diesem Grund scheint es angebracht, im weiteren Verlauf ein relativ allgemein gehaltenes Verständnis von Migration zugrunde zu legen, das sich eng an Ingrid Oswalds folgende Definition anlehnt:

← 19 | 20 → Migration wird […] verstanden als ein Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts, also einiger bis aller relevanten Lebensbereiche, an einen anderen Ort, der mit der Erfahrung sozialer, politischer und/oder kultureller Grenzziehung einhergeht. […] Die Grenzerfahrungen beziehen sich neben den räumlichen auf komplexe persönliche/psychische Aspekte, sodass ein Migrationsprozess […] eine außerordentliche psycho-soziale Leistung bedeutet und sich über einen langen Zeitraum hinziehen kann.13

Unberücksichtigt bleiben dabei sowohl Zeitdauer und Umfang der Wanderungen als auch Entfernungen und Motivationen, denn diese gehören lediglich zu den näheren Begleitumständen einer Versetzung des Lebensmittelpunktes. Dafür wird im Gegenzug der enge Zusammenhang zwischen Migration und anschließender Integration auf der Mikroebene (z.B. Familie, Wohnung), Mesoebene (z.B. Schule, Wohnumfeld) und Makroebene (z.B. Rechtsstatus, Migrationspolitik) hervorgehoben.

Es findet keine ausdrückliche Unterscheidung nach internationaler Migration und Binnenmigration statt.14 Die Grenze, die überwunden wird, kann zwar auch eine nationalstaatliche Grenze sein – und wird das faktisch auch bei den meisten Migrationsfällen sein, die im Rahmen dieser Arbeit relevant sind –, wesentlich erheblicher ist aber, ob dabei eine soziokulturelle Grenze überschritten wird. Auf internationaler Ebene spricht man seit 1998 von einem dauerhaften Wohnortwechsel ab einem voraussichtlichen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten.15 Auch nach dem Ortswechsel werden aber nicht alle Brücken zum alten Wohnort abgebrochen. Vielmehr bestehen in der Regel familiäre, emotionale oder informationelle Bindungen fort.

Details

Seiten
462
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653053968
ISBN (ePUB)
9783653971224
ISBN (MOBI)
9783653971217
ISBN (Hardcover)
9783631660577
DOI
10.3726/978-3-653-05396-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Deutschunterricht Deutschdidaktik Schriftsprache Zweitsprachenförderung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 462 S., 2 farb. Abb., 20 s/w Abb., 40 Tab.

Biographische Angaben

Gerald Fischer (Autor:in)

Gerald Fischer absolvierte sein Zweites Staatsexamen für Lehramt an Gymnasien in Bayern und arbeitete zehn Jahre als Lehrkraft an einem Gymnasium in München. Seine Promotion legte er im Fachbereich Deutschdidaktik und Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der LMU München ab. Zurzeit ist er Fachleiter für Deutsch/Deutsch als Fremdsprache an der Deutschen Schule Madrid.

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Titel: Das Gymnasium der Migrationsgesellschaft
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