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Kulturpolitik als Strukturpolitik?

Konzepte und Strategien deutscher und italienischer Kulturpolitik im Vergleich

von Claudia Burkhard (Autor:in)
©2015 Dissertation 567 Seiten

Zusammenfassung

Kann Kulturpolitik als Strukturpolitik wirksam werden? Welche Kulturbegriffe liegen der deutschen und italienischen Kulturpolitik zugrunde? Wie wirken sich die historischen, strukturellen und finanziellen Ausgangsbedingungen für Kulturpolitik auf die konkreten Aktivitäten der verschiedenen Regierungsebenen in Deutschland und Italien aus? Diesen Fragen geht die Autorin in ihrer komparatistisch angelegten Studie nach. Zudem bietet sie umfassende Einblicke in die aktuelle Kulturpolitik beider Länder: Mit Hilfe der empirischen Methode leitfadengestützter ExpertInneninterviews analysiert sie anhand konkreter Fallstudien zu Essen/Nordrhein-Westfalen und Turin/Piemont die kulturpolitischen Konzepte, Strategien und Zielsetzungen der kommunalen sowie regionalen Ebene in Deutschland und Italien.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Begriffsklärung und Stand der Forschung
  • 1.2 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung
  • 1.3 Methodik und Übertragung auf die Analyse der deutschen und italienischen Kulturpolitik
  • 1.4 Aufbau der Arbeit
  • 2. Der Kulturbegriff in der deutschen und italienischen Kulturpolitik
  • 2.1 Kultur für alle? — Kulturbegriff(e) der deutschen Kulturpolitik
  • 2.1.1 Theoretisch orientierte Ansätze zum Kulturbegriff der deutschen Kulturpolitik
  • 2.1.2 Praktisch orientierte Ansätze zum Kulturbegriff der deutschen Kulturpolitik
  • 2.2 Modello Italia — Kulturbegriff(e) der italienischen Kulturpolitik
  • 2.3 Vergleich der Kulturbegriffe in beiden Ländern
  • 3. Kulturpolitik in Deutschland
  • 3.1 Historische Entwicklung der deutschen Kulturpolitik
  • 3.1.1 Rückblick auf die Anfänge der Kulturpolitik im 19. Jahrhundert, die Kulturpolitik in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
  • 3.1.2 Nur Affirmatives zählt? — Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland
  • 3.1.3 Kultur als Ideologie? — Kulturpolitik im geteilten Deutschland
  • 3.1.4 Bürgerrecht Kultur? — Neue Kulturpolitik seit den 1970er Jahren
  • 3.1.5 Konsolidierung oder Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik? — Kulturpolitik der 1980er und 1990er Jahre
  • 3.1.6 Kulturelle Bildung versus Kulturinfarkt? — Kulturpolitik seit der Jahrtausendwende
  • 3.1.7 Zusammenfassung
  • 3.2 Strukturelle Rahmenbedingungen der deutschen Kulturpolitik
  • 3.2.1 Erster Sektor: Staatliche Akteure in der deutschen Kulturpolitik
  • 3.2.2 Zweiter Sektor: Privat-kommerzielle Akteure in der deutschen Kulturpolitik
  • 3.2.3 Dritter Sektor: Zivilgesellschaftliche Akteure in der deutschen Kulturpolitik
  • 3.2.4 Zusammenfassung
  • 3.3 Fallstudie Deutschland: Essen
  • 3.3.1 Vorstellung der Stadt und ihrer kulturellen Infrastruktur
  • 3.3.2 Ergebnisse der Interviews zur Kulturpolitik in Essen
  • 3.4 Zusammenfassung und Verknüpfung der theoretischen und praktischen Ergebnisse
  • 4. Kulturpolitik in Italien
  • 4.1 Historische Entwicklung der italienischen Kulturpolitik
  • 4.1.1 Rückblick auf die Anfänge der Kulturpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
  • 4.1.2 Fruizione elitaria? — Kulturpolitik ab 1947 und bis in die 1960er Jahre
  • 4.1.3 Institutionalisierung, Konsolidierung und Kulturboom — Kulturpolitik der 1970er und 1980er Jahre
  • 4.1.4 Valorizzazione? Devoluzione? Privatizzazione? — Kulturpolitik der 1990er Jahre
  • 4.1.5 Der „Codice dei beni culturali e del paesaggio“ — ein Wegweiser für die Kulturpolitik seit der Jahrtausendwende?
  • 4.1.6 Kultur als Ausweg aus der Krise? — Aktuelle Herausforderungen für die italienische Kulturpolitik
  • 4.1.7 Zusammenfassung
  • 4.2 Strukturelle Rahmenbedingungen der italienischen Kulturpolitik
  • 4.2.1 Erster Sektor: Staatliche Akteure in der italienischen Kulturpolitik
  • 4.2.2 Zweiter Sektor: Privat-kommerzielle Akteure in der italienischen Kulturpolitik
  • 4.2.3 Dritter Sektor: Zivilgesellschaftliche Akteure in der italienischen Kulturpolitik
  • 4.2.4 Zusammenfassung
  • 4.3 Fallstudie Italien: Turin
  • 4.3.1 Vorstellung der Stadt und ihrer kulturellen Infrastruktur
  • 4.3.2 Ergebnisse der Interviews zur Kulturpolitik in Turin
  • 4.4 Zusammenfassung und Verknüpfung der theoretischen und praktischen Ergebnisse
  • 5. Vergleich der italienischen und der deutschen Kulturpolitik
  • 5.1 Vergleich der kulturpolitischen Entwicklung seit
  • 5.2 Vergleich der strukturellen Voraussetzungen
  • 5.3 Vergleich der finanziellen Voraussetzungen
  • 5.4 Qualitative Analyse: Vergleich der Fallbeispiele Essen und Turin
  • 5.5 Methodenkritik
  • 5.6 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 6. Fazit und Perspektiven für die deutsche und italienische Kulturpolitik
  • 7. Anhang
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Kürzel der InterviewpartnerInnen in Deutschland und Italien
  • Abbildungsverzeichnis
  • Leitfaden für ExpertenInneninterviews
  • Literaturverzeichnis
  • Danksagung

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1. Einleitung

Bereits der Titel der vorliegenden Arbeit, Kulturpolitik als Strukturpolitik? – Konzepte und Strategien deutscher und italienischer Kulturpolitik im Vergleich, unterstreicht die komparatistische Ausrichtung und verdeutlicht die Zielsetzung, durch die Gegenüberstellung der in den beiden Ländern verfolgten Ansätze neue Erkenntnisse zu gewinnen. Sowohl Deutschland als auch Italien gelten als klassische „Kulturnationen“: Deutschland verfügt über eine vielgestaltige und über das gesamte Land verteilte, in vielen Städten exzellente Kulturlandschaft, während Italien mit den città darte wie Rom, Florenz und Venedig sowie den einzigartigen Kulturzeugnissen in Pompei oder auf Sizilien die europäische Kulturgeschichte auf beispiellose Art und Weise repräsentiert.

Dass das bestehende Kulturerbe langfristig zu schützen ist und die vielfältigen Kultureinrichtungen zu erhalten sind – darüber besteht in beiden Ländern zwar weitestgehend gesellschaftlicher Konsens. Doch immer wieder wird – auch innerhalb des (kultur-)politischen Diskurses – die Forderung laut, die Kultursubventionen zu kürzen oder gar ersatzlos zu streichen. Dieser radikalen Argumentation nach könne (oder müsse) auf Angebote, die aufgrund ihrer beschränkten Nachfrage am Markt keinen Bestand haben, vollständig verzichtet werden. Die Einstufung von Kunst und Kultur als meritorische Güter habe sich überlebt und könne insbesondere mit Blick auf die kontinuierlich schwieriger werdende Finanzlage der öffentlichen Haushalte nicht länger gerechtfertigt werden. Zudem nutze nach wie vor nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Kulturangebote und das Gesamtsystem sei in starren, längst überholten Strukturen gefangen. Demgegenüber steht die Position, gerade aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kultur (und Bildung) intensiv zu fördern, da in einer Kultur- und Wissensgesellschaft die einzige Alternative zum Industriezeitalter gesehen wird, das mit seinem Fortschritts- und Wachstumsglauben seinem Ende entgegengehe.

Diese beiden einander unversöhnlich gegenüberstehenden Pole stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die folgenden Ausführungen bewegen werden: Es soll danach gefragt werden, welche grundsätzlichen Positionen der deutschen und der italienischen Kulturpolitik zugrunde liegen, welche Strukturen aktuell bestehen und inwiefern diese durch die jeweilige historische Entwicklung geprägt sind. Der inhaltliche Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der kommunalen Kulturpolitik und mit Hilfe empirischer Studien zu den Städten Turin und Essen sollen die aktuellen Zielsetzungen italienischer und deutscher Kulturpolitik analysiert werden, um schließlich in vergleichender Perspektive ← 9 | 10 → Möglichkeiten einer konzeptionellen Weiterentwicklung der Kulturpolitik in beiden Ländern zu erarbeiten.

Zunächst wird jedoch eine erste Klärung der relevanten Begrifflichkeiten erfolgen und der aktuelle Stand der kulturpolitischen Forschung wiedergegeben. Der Fokus liegt dabei erst einmal auf der Situation in Deutschland (Kapitel 1.1), ehe der Blick im weiteren Verlauf der Arbeit auf Italien ausgeweitet wird und der Untersuchungsgegenstand sowie die konkrete Fragestellung der Arbeit (Kapitel 1.2) die komparatistische Herangehensweise deutlich werden lassen.

1.1 Begriffsklärung und Stand der Forschung

Trotz zahlreicher Versuche bleibt eine eindeutige Festlegung des Begriffs Kulturpolitik und seiner konkreten Inhalte schwierig, denn „[w]as mit dem Begriff ‚Kulturpolitik‘ bezeichnet wird, hängt […] davon ab, welches Verständnis von ‚Kultur‘ und welches von ‚Politik‘ darin eingeht“,1 wie sich einleitend mit Bernd Wagner, dem langjährigen Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, formulieren lässt. Doch die Definition der beiden Wortbestandteile ist von Unsicherheit geprägt und vor allem für den Terminus Kultur hat sich nach wie vor keine allgemein gültige Definition durchgesetzt. Zudem schließt sich nach heutigem Verständnis von Kultur – das jegliche Art von Staatskultur ablehnt und diesen zu kultureller Neutralität und Toleranz verpflichtet – die Kombination von Kultur und Politik weitgehend aus.

Möglicherweise ist hierin eine der Ursachen zu finden, weshalb sich die Politikwissenschaft mit dem Phänomen der Kulturpolitik bisher kaum auseinandersetzt und „es Kulturpolitik – etwa als Teildisziplin und Spezialbereich der Politikwissenschaft – als wissenschaftliche Disziplin nicht gibt“,2 wie Max Fuchs, Kulturwissenschaftler und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Kulturrats, konstatiert. Auch die Tatsache, dass es sich bei Kulturpolitik um ein relativ neues und noch nicht umfassend etabliertes Politikfeld handelt, mag eine Rolle spielen, obwohl der Kulturhistoriker Hermann Glaser zu bedenken gibt, dass man lediglich „in Anbetracht fehlender Studien ‚Kulturpolitik‘ bislang als einen verhältnismäßig neuen Terminus angesehen und dabei übersehen [hat], dass zwar das Wort relativ jüngeren Ursprungs ist, aber dass das, was es beinhaltet, viele beachtliche Vorstufen hat; sie reichen in die frühe Neuzeit zurück“.3 ← 10 | 11 →

In den Politik- und Sozialwissenschaften unbestritten ist, dass Kultur eine der Grundfunktionen innerhalb menschlicher Gesellschaften erfüllt. Laut dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons basieren lebensfähige Gesellschaften auf vier unterschiedlichen Typen gemeinschaftlichen Handelns: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, wobei Letztere die Funktion der Geltung durch Deutungen, Normen und Wissen erfüllt, die Politik dagegen durch verbindliche Regelungen die Funktion der Macht einnimmt.4 Kultur ist in diesem Kontext

der Inbegriff für die Gesamtheit der Leistungen, die an die Stelle der unmittelbaren Natur die Steuerung des menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens in Gesellschaften ersetzt. Normen und Werte, Deutungen und Begründungen, Sinn, Beziehungen und Wissen, Erwartungen und Erzählungen sind der Stoff, aus dem Orientierung im Handeln und die Verknüpfung der Motivationen vieler mit den gesellschaftlichen Notwendigkeiten, Zwängen und Möglichkeiten besteht.5

Als Steuerungsmedium der Grundfunktion Kultur gilt Sinn. Kultur trägt somit durch die „Erzeugung und Aufrechterhaltung der unsichtbaren Muster der Weltdeutung, der individuellen Orientierung und der kollektiven Handlungskoordination“ zur gesellschaftlichen Integration bei und schafft dadurch den Bezugsraum, in dem die Legitimität politischen Handelns vermessen wird.6

Innerhalb der Politikwissenschaft besteht somit ein Bewusstsein für den engen Zusammenhang zwischen den Dimensionen Politik und Kultur. Dennoch sind daraus bisher kaum politikwissenschaftliche Studien hervorgegangen bzw. erfolgt(e) keine größere Beachtung dieser Teildisziplin innerhalb der Politikwissenschaft. Häufig wird Kulturpolitik in politikwissenschaftlichen Lexika und Einführungen lediglich als eine, wenn auch zentrale, Komponente der Kommunalpolitik erwähnt.7 Zudem liegt der politikwissenschaftliche Fokus im Kontext der Kulturpolitik oft auf den Bereichen Bildung, Forschung und Wissenschaft, wie etwa die Definition von Carsten Lenz und Nicole Ruchlak im Kleinen Politik-Lexikon zeigt:

Kulturpolitik, Gesamtheit der Maßnahmen zur Planung und Koordinierung der Bereiche Kunst, Forschung und Wissenschaft, Erziehung und Bildung. Ferner zählt man auch den Bereich der Medien und der Religionsgemeinschaften zum Gebiet der K. ← 11 | 12 →

In der Bundesrepublik wird die ->Bildungspolitik als die Hauptaufgabe der staatlichen K. angesehen. Grundsätzlich obliegt die K. den einzelnen Bundesländern (->Kulturhoheit).8

Eine recht ausführliche Definition gibt Manfred G. Schmidt im Wörterbuch zur Politik, die hier bereits einen ersten Einblick in die Organisation von Kulturpolitik in Deutschland geben kann und für die weitere Arbeit relevante Problembereiche anreißt:

Kulturpolitik, die Gesamtheit der politischen Institutionen, Bestrebungen, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse und die verbindliche Regelung von Angelegenheiten in der Erziehung und im Bildungswesen, in Wissenschaft, Forschung und Kunst. In der Bundesrepublik ist K. – im Unterschied zur hochgradig zentralistisch gesteuerten K. während der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland – nach wie vor eine wichtige Staatsaufgabe, aber in einem auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich hohen Maß dezentralisiert. Weite Bereich der K. unterliegen der ->Kulturhoheit der Länder (->Bundesland) oder sind in private oder kirchliche Hände gegeben worden. Dem ->Bund stehen in der K. – mit Ausnahme der ->Forschungspolitik und der Mitwirkung an den bildungs- und wissenschaftspolitischen ->Gemeinschaftsaufgaben – nur eng begrenzte Befugnisse zu, vor allem die auswärtige K. und die ->Rahmengesetzgebung für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens. Alle weiter gehenden Eingriffe des Bundes in die K. erfordern i.d.R. die Kooperation mit den Ländern im Rahmen der ->Politikverflechtung. […] Bestimmend bleiben auch im vereinigten Deutschland der ‚kooperative Kulturföderalismus‘, die Dezentralisation und die weitreichende Delegation kulturpolitischer Aufgaben an die nachgeordneten ->Gebietskörperschaften und an private oder kirchliche Träger.9

Auf die Schwierigkeit einer Festlegung von Kulturpolitik in Abhängigkeit vom jeweiligen Kulturbegriff verweist die Definition von Klaus Schubert und Martina Klein in ihrem 2011 neu aufgelegten Politiklexikon:

Je nach zugrunde liegendem Kulturbegriff kann K. [Kulturpolitik] a) auf jegliche Form gesellschaftlicher Beziehungen bezogen werden oder b) nur die traditionellen Künste (bildende Kunst, darstellende Kunst, Musik, Literatur) einschließen. V.a. auf letzteres bezogen, bezeichnet K. alle politischen und verbandlichen Aktivitäten, die zur Förderung (Bildung, Ausbildung, Verbreitung) und Erhaltung kultureller Güter und Leistungen (z.B. Denkmalschutz) und zur Sicherung der künstlerischen Rechte (z.B. geistiges Eigentum, Verwertung) dienen. In D. fällt die K. in den Zuständigkeitsbereich der Bundesländer; seit dem EU-Vertrag von 1993 verfügt die EU über für Kulturschaffende wichtige Kompetenzen (z.B. im Urheberrecht).10 ← 12 | 13 →

Ausgangspunkt sämtlicher Überlegungen zur Kulturpolitik ist folglich ein erstes Verständnis des Begriffs Kultur, sodass an dieser Stelle eine stark komprimierte Auseinandersetzung damit erfolgen soll.11 Der Kulturphilosoph Klaus Wiegerling gibt im Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart folgende Definition:

Kultur (lat. cultura = Pflege, Landbau) wird im allg. Verständnis der vom Menschen nicht hervorgebrachten Natur entgegengesetzt und umfasst die Gesamtheit der menschlichen Hervorbringungen und Artikulationen, also seiner historischen, individuellen und gemeinschaftlichen, praktischen, ästhetischen und theoretischen sowie mythischen und religiösen Äußerungen. Der Begriff umfasst also sowohl eine K. des Machens (gr. poiesis) als auch eine im eigentlichen Sinne ethische K. des Handelns (gr. praxis).12

Diese hier leitende Gegenüberstellung von Kultur und Natur prägte den Kulturbegriff für lange Zeit (und wirkt noch immer nach), ehe sich der Terminus Kultur im 19. Jahrhundert zunehmend zum „Kampfbegriff“ entwickelte und dem französischen Konzept von civilisation entgegengesetzt wurde:

Civilisation wurde in der napoleonischen Epoche mit dem Nationalgedanken sowie mit einem universellen Fortschrittsglauben verbunden und v.a. als ein System des Handelns ausgelegt. Im Anschluss an den Wortgebrauch Kants und der folgenden idealistischen Epoche setzte sich dagegen in Deutschland ein K.-Begriff durch, der den Schwerpunkt auf eine innere Verfeinerung im Gegensatz zu einer nur äußerlichen Verfeinerung bei der Zivilisation legte. […] Um 1800 erfährt der Begriff eine spezifisch deutsche Innovation, die ihn philosophisch auflädt und den aufklärerischen K.-Begriff mit dem Resultat verengt, dass K. im engeren Sinne, also Künste und Wissenschaft, zum Medium eines anspruchsvollen Bildungskonzepts wird, das als Deutungsmuster bis in die Gegenwart die Weltdeutung des Bildungsbürgertums wesentlich bestimmt (G. Bollenbeck).13

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfuhr dieses Kulturkonzept umfassende Erweiterungen und Aufweichungen, u.a. durch den Einbezug der Kultur des Alltags (Populär- und Massenkultur) sowie eines naturwissenschaftlichen und technischen Weltverständnisses, aber auch durch die Betonung des ökonomisch-kulturellen Komplexes in einer allgemeinen Kultur- und Zivilisationskritik. Gerade das Ziel einer neuen Synthese von Hoch- und Populärkultur, Eigen- und Fremdkultur sowie die Orientierung „an den Dichotomien der Massenmedien“ führten in den 1980er und 1990er Jahren zu einem neuen Kulturverständnis, das aber zugleich ← 13 | 14 → durch die Wiederaufnahme konservativer Kulturmodelle geprägt war.14 Es ist somit von einer erneuten Verengung des Kulturbegriffs während der letzten Jahrzehnte auszugehen, wie auch die Befragung der europäischen Bevölkerung zu ihrem Verständnis von Kultur deutlich macht:

Among the responses to the question ‘What comes to mind when you think about the word ‘culture’?’, the most common answer of Europeans was ‘Arts (performing and visual arts)’, with 39% of all persons surveyed. In second place came ‘literature, poetry and playwriting’, together with ‘traditions, languages and customs’, each accounting for 24% of respondents. Less than 10% of persons surveyed associated culture with ‘values and beliefs’.15

Aus diesem Grund lässt sich im Kontext der vorliegenden Arbeit auch vom Begriffspaar Kunst und Kultur sprechen, das die Ausgangsbasis für Kulturpolitik darstellt. Diese Zuspitzung des heutigen Kulturbegriffs v.a. auf die Künste sieht auch der britische Kultur- und Literaturtheoretiker Terry Eagleton – und bewertet sie durchaus kritisch:

Die dritte Antwort auf die Krise der Kultur als Zivilisation besteht […] darin, die ganze Kategorie ‚Kultur‘ auf eine Handvoll künstlerischer Werke einzudampfen. Kultur bedeutet hier ein Korpus künstlerischer und intellektueller Werke anerkannten Ranges sowie die Institutionen, die es hervorbringen, verbreiten und verwalten. Nach dieser ziemlich jungen Bedeutung des Wortes ist Kultur Symptom und Lösung zugleich. Wenn Kultur eine Oase des Wertes ist, so bietet sie eine gewisse Lösung. Doch wenn Bildung und die Künste die einzigen bleibenden Enklaven der Kreativität sind, befinden wir uns mit Sicherheit in bösen Schwierigkeiten. Welche gesellschaftlichen Bedingungen beschränken die Kreativität auf Musik und Lyrik, während sie Naturwissenschaft, Technik, Politik, Arbeit und Häuslichkeit langweilig und prosaisch werden lassen?16

In der aktuellen Interpretation von Kultur ließen sich eine Entfremdung und zugleich der Versuch „kultivierter Intellektueller“ erkennen, die „degenerierte Gesellschaft“ neu auszurichten. Eagleton kommt zu folgendem Ergebnis:

Ist zivilisiertes Leben die Vorderseite, so ist Kultur deren unbewusste Rückseite; Kultur sind die scheinbar selbstverständlichen Überzeugungen und Vorlieben, die uns undeutlich vorschweben müssen, wenn wir fähig sein sollen zu handeln. Kultur ist das, was wir ‚automatisch‘ machen, was wir ‚in den Knochen haben‘ und nicht im Kopf ausdenken.17 ← 14 | 15 →

Der Rückbezug auf den Zivilisationsbegriff ist hier nicht zu übersehen; zugleich wird die enge Verbindung zwischen Kultur einerseits und der jeweiligen Gesellschaft andererseits deutlich. Dieses Verhältnis thematisiert auch der SPD-Politiker und ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, der Kunst und Kultur damit zugleich im politischen System kontextualisiert:

Es geht um den Sinn für die mögliche, für eine andere, eine bessere Wirklichkeit. Kunst und Kultur sind – sinnlich und intellektuell – Räume menschenverträglicher Ungleichzeitigkeit, und damit entscheidendes Lebensmittel für jede demokratische Zivilgesellschaft. Auch wenn sie nicht immer direkt gesellschaftskritisch und politisch auftreten, schaffen Kunst und Kultur Gegengewichte in einer Welt aus Zweckbestimmungen und Funktionalisierungen. […] In diesem Sinne kann man Kultur auch beschreiben als niemals abgeschlossenes, prozessuales Selbstgespräch in der demokratischen Gesellschaft, als schöpferische, künstlerische, literarische, musikalische, kritisch-intellektuelle Auseinandersetzung auf der Grundlage von Werten, Erfahrungen, tradiertem Wissen und von Weltdeutungen, als jeweils zeitgenössisch ästhetische Bearbeitung des Woher-wir-Kommen und Wohin-wir-Gehen, einschließlich der Reflexion über die beste Form politischer Ordnung, also eben schlicht als Sinnsuche.18

Dass es sich bei Kulturpolitik um eine genuin gesellschaftliche Aufgabe handelt, ist auch die Meinung von Fuchs, der ihre Verteidigung gegenüber der Dominanz „einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung aller Lebensvollzüge“ und neoliberaler Ideologie für zentral hält. Ziel müsse es sein, Kulturpolitik als eigenständiges Politikfeld zu betrachten, das die Selbstreflexion der Gesellschaft ermöglicht und die Voraussetzungen für die Beteiligung möglichst vieler Menschen schafft.19 Fuchs ist wie Eagleton der Meinung, dass das „Kulturelle“ nicht auf ein abgrenzbares Politikfeld beschränkt werden könne, es sei im Gegenteil „implizit und sollte explizit Gegenstand jeglichen politischen Handelns sein, denn es enthält die (auch für die Kulturpolitik) entscheidende Frage nach der Art und Weise, wie wir leben wollen“. Kunst und das Ästhetische seien sozusagen die „Medien“ der Kulturpolitik und diese somit „Politik mit spezifisch ‚kulturellen‘ Mitteln“,20 sodass er wie folgt definiert:

Das Kulturelle verstehe ich hier in soziologischer Weise als denjenigen sozialen Bereich, in dem über einen Austausch von Symbolen Bedeutungen kommuniziert werden im Hinblick auf ihre je subjektive Relevanz, also als ‚Sinn‘.21 ← 15 | 16 →

Voraussetzungen, um über eine sinnhafte Gestaltung des Lebens zu kommunizieren, seien entsprechende Medien und die Beschäftigung des Einzelnen damit als „Prozesse aktiver (Re-)Konstruktion“. Dementsprechend könne Kulturpolitik nur gelingen, wenn möglichst weite Teile der Bevölkerung an diesen Rezeptions- und Austauschprozessen partizipieren – denn laut Bourdieu ist „[d]er Kampf um Rangplätze, der Kampf um Lebenschancen […] entscheidend ein Kampf um und mit Symbolen. Und hier bewegt sich Kulturpolitik auf ihrem ureigensten Terrain.“22 Übergeordnetes Ziel von Kulturpolitik solle es sein, vielfältige Diskurse darüber zu ermöglichen, was „human gestaltete Lebensweise“ bedeuten könne;23 Ausgangspunkt und zugleich Zielsetzung jeglicher Kulturpolitik müsse deshalb „das gute, glückliche und gelungene Leben“ sein.24 Kulturpolitik steht somit nicht nur in einem soziologischen Kontext, sondern bietet zugleich den Ausgangspunkt für philosophische Überlegungen bzw. kann Kunst die Chance bieten, „die richtigen Fragen nach den Idealen, den Werten und der Wahrheit zu stellen und auch geistige, wenn nicht moralische Orientierung zu geben“,25 wie der Kulturpolitiker und -manager Oliver Scheytt formuliert.

Ausgehend von diesen übergeordneten Zusammenhängen und Idealen, unterliegt Kulturpolitik in ihrer praktischen Umsetzung konkreten rechtlichen Rahmenbedingungen; zudem ist sie von finanziellen und sachlichen Ressourcen oder Institutionen abhängig. Für den Kulturmanager Thomas Heinze weist Kulturpolitik somit eine inhaltliche und eine ordnende Dimension auf: Inhaltlich stünden der Diskurs um den Kulturbegriff, die Sicherung der Kulturfreiheit sowie die mittelbare und die unmittelbare Kulturförderung im Zentrum des Interesses. In ordnender Hinsicht könnten die gesellschaftlichen, die ökonomischen, die rechtlichen und die administrativen Rahmenbedingungen als ausschlaggebend gelten.26 Betrachtet man diese Elemente zusammen mit den bereits diskutierten soziologischen und philosophischen Aspekten, kann als erste Definition von Kulturpolitik folgende dienen:

Mit Kulturpolitik werden Prozesse der öffentlichen Steuerung des Kultursektors bezeichnet mit dem Ziel, die Entfaltung von Kunst und Kultur zu ermöglichen. Kunst und Kultur dienen als Sinn- und Orientierungssysteme zur Selbstreflexion der Gesellschaft sowie als Repräsentation von Staat, Land oder Kommune. Kulturpolitik soll darüber hinaus ein vielfältiges kulturelles Leben mit dem Anspruch von Bildung, ← 16 | 17 → aber auch Unterhaltung bereitstellen. Kulturpolitik fördert somit über legislative und administrative Maßnahmen Kunst und Kultur unter der Bedingung, dass es sich bei kulturellen Angeboten um meritorische Güter handelt, deren Autonomie Verfassungsanspruch besitzt.27

Dementsprechend stellt in Deutschland Art. 5, Abs. 3 des Grundgesetzes den zentralen Ausgangspunkt von Kulturpolitik dar, der die Freiheit der Kunst garantiert und auf dem die Kulturpolitik von Bund, Ländern und Kommunen basiert. Eine weitere Grundlage stellt Art. 35 des Einigungsvertrages von 1990 dar, der den Schutz der kulturellen Substanz in den neuen Ländern garantiert und unterstreicht, dass sich Deutschland seiner Bedeutung als „Kulturstaat“ verpflichtet fühle. Unabhängig davon sind die kulturpolitischen Kompetenzen zunächst der Länderebene zugeordnet, die wiederum den Kommunen im Rahmen der Selbstverwaltungsgarantie weite Handlungsspielräume ermöglichen, sodass Kulturpolitik in Deutschland primär Kommunalpolitik ist – zunehmend ergänzt durch private und zivilgesellschaftliche Akteure sowie die Mitsprache von KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Schwerpunkte der Kulturförderung sind laut Otto Singer, Kulturexperte der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, der Unterhalt öffentlicher Institutionen, die vorrangig der Kulturförderung und -vermittlung dienen (z.B. Theater, Museen, Bibliotheken), die indirekte Kulturförderung durch die Schaffung günstiger rechtlich-sozialer Rahmenbedingungen (z.B. Steuer- und Sozialrecht), direkte wirtschaftliche Hilfen (z.B. Produktion und Vertrieb von Filmen, Druckkostenzuschüsse) sowie die Förderung „freier“ Kulturaktivitäten (z.B. Preise oder Stipendien für Künstler, Unterstützung von privaten Theatern, Kunstvereinen).28 Als möglicher pragmatischer Definitionsansatz, der für die vorliegende Arbeit richtungsweisend sein kann, lässt sich somit wie folgt formulieren:

Im heute gebräuchlichen Sinn steht die Bezeichnung ‚Kulturpolitik‘ für staatliches beziehungsweise kommunales Handeln im Bereich von Kunst und Kultur in Form ihres Schutzes und ihrer Förderung sowie der Gestaltung ihrer Rahmenbedingungen. Dies findet vielfach im Zusammenwirken mit Kultur- und Kunstverbänden, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Organisationen sowie mit dem Kulturmanagement einzelner Akteure statt.29

Unangefochten im Mittelpunkt kulturpolitischer Aktivitäten stehen die Künste als das zentrale Gestaltungsfeld der Kultur, wobei die Kunstproduktion und ← 17 | 18 → -rezeption von allen drei Sektoren – Staat, Markt und Zivilgesellschaft – mitgeprägt werden und diese stets zusammenwirken. Dennoch handelt es sich bei Kulturpolitik – auch wenn im entsprechenden Diskurs häufig der Fokus auf Kultur liegt und idealisierende Tendenzen erkennbar werden – im Grunde doch um Politik im wörtlichen Sinne:

Kulturpolitik ist daher in einem engeren Verständnis Politik wie andere Bereichspolitiken auch: es gibt Verbände mit ihren Machtspielen, es gibt die Artikulation und Durchsetzung von Interessen. Und wer jemals an kulturpolitischen Diskussionen teilgenommen hat, sieht kaum Unterschiede im Vergleich zur Tarif-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Dieser Bereich der Kulturpolitik ist – oft erschreckend – wenig unterscheidbar von anderen Politikdiskursen. Man kann ihn ‚operative Kulturpolitik‘ nennen. Hier findet die Gestaltung von Rahmenbedingungen statt, das Aushandeln von Haushaltstiteln, von neuen Gesetzen und Richtlinien, von Anteilen am Gesamtkuchen. Hier geht es um Macht und Einfluß. Es ist […] mehr ‚Politik‘ als ‚Kultur‘.30

In Abgrenzung zu einer eher idealisierenden, philosophisch-soziologischen oder auch künstlerischen Interpretation besteht somit ein eher politisch dominierter Blick auf Kulturpolitik. Der Kulturpolitiker und -manager Volker Heller wirft deshalb im Kontext der Debatte um die Beziehungen zwischen Kulturpolitik und Kulturwirtschaft die ganz grundsätzliche Frage auf, von welcher Kulturpolitik überhaupt die Rede sei. Er schreibt:

Im Grunde geht es um die Politik der öffentlichen Hände zur Förderung von Kultur durch direkte und indirekte Maßnahmen beziehungsweise Instrumente, durch die Setzung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen, durch Aus- und Weiterbildung und Qualifizierung sowie durch das Führen normativer Diskurse. Alles dies nach den hergebrachten Prinzipien der Pluralität, Subsidiarität, Dezentralität und Liberalität. Aber jenseits dieser Grundbedingungen stellt sich die – zugegeben etwas überspitzt formulierte – Frage, reden wir

 über die Kulturpolitik, die wir gerne machen würden (idealtypische fachpolitische Ansätze und Strategien im planungsrationalen Sinne des Begriffs ‚policy‘), oder

 über die Kulturpolitik, welche wir behaupten zu machen (Behauptungen grandioser Wirkungsmacht kulturpolitischen Handelns in Sonntagsreden), oder

 über die Kulturpolitik, die wir in Wirklichkeit machen (real- und machtpolitische Verteilungskämpfe unterschiedlicher Interessensgruppen im handlungsrationalen Sinne von ‚politics‘)?31

Diese Überlegungen gehen mit der Frage einher, wie sich Kulturpolitik im politischen Gesamtkontext positioniert und wodurch sie sich legitimiert. Die Länder ← 18 | 19 → verweisen zwar auf ihre „Kulturhoheit“ und Deutschland definiert sich im Einigungsvertrag explizit als „Kulturstaat“. Doch – und hierin liegt wohl auch einer der Gründe für die geringe Beachtung der Kulturpolitik im Rahmen politikwissenschaftlicher Forschung – kann ihre Legitimation nicht eindeutig und vor allem nicht auf Dauer geklärt werden:

Wir werden heute kaum vermeiden können, uns erneut die Frage zu stellen, wozu Kulturpolitik überhaupt notwendig ist. Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, welche Ziele Kulturpolitik verfolgt und warum wir denken, dass die öffentliche Hand sich für die Umsetzung dieser Ziele verantwortlich fühlen muss.32

Dass nämlich „durch politisches Handeln regulierend in die kulturelle Sphäre eingegriffen wird und dass öffentliche Mittel von politischen Institutionen für kulturell-künstlerische Aktivitäten aufgewandt werden“, bedarf laut dem Kulturwissenschaftler und -manager Armin Klein einer Begründung und einer politischen Legitimation. Kunst und Kultur werden aktuell als „meritorische Güter“ definiert, die einen kollektiven Nutzen haben und deshalb vom Staat zur Verfügung gestellt werden, „weil er aufgrund verzerrter Präferenzen der Bürger vermuten muss, dass diese Güter nicht in dem Maße nachgefragt werden, wie dies für einen gesellschaftlich wünschenswerten Versorgungsgrad notwendig wäre“. Es sei jedoch „keineswegs für ewig und immer entschieden, was meritorische Güter sind“, sondern der öffentliche bzw. der politische Diskurs müsse darüber stets neu entscheiden:33

Die Erhebung von Kunst und Kultur zu meritorischen Gütern ist somit eine normative Entscheidung des Staates beziehungsweise seiner Bürgerinnen und Bürger. Es ist das Ergebnis eines entsprechenden gesellschaftlichen Diskurses beziehungsweise des sich daraus entwickelnden Selbstverständnisses. Allerdings wurde dies bislang (noch) nicht normativ im Grundgesetz (etwa als ‚Staatsziel Kulturstaat‘) festgeschrieben […].34

Historisch entwickelten sich nur wenige systematische Begründungsversuche für die Legitimation von Kulturförderung: Ansätze gab es im Deutschen Idealismus, verbunden mit den Namen Schiller und Humboldt, sowie ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der Ausrichtung auf die Kulturnation bzw. den Kulturstaat. Die Neue Kulturpolitik ab den 1970er Jahren suchte ihre Legitimation in einer ← 19 | 20 → gesellschaftspolitischen Fokussierung.35 Notwendig wurden diese Ansätze erst durch das Wegbrechen der „traditionellen“ Kulturförderer, der Höfe und der Kirchen, sodass die staatliche Verwaltung im 19. Jahrhundert diese Lücke zu füllen begann und sich in der Folge Kulturförderung als Politikbereich nach und nach etablierte. Im weiteren Verlauf vermischten sich schließlich unterschiedlichste, teilweise auch widersprüchliche Argumentationslinien „zu einem vielschichtigen pragmatischen Begründungs- und Legitimationsgeflecht“.36 Es ist somit nicht zu übersehen, dass Kulturpolitik von jeher eng mit Machtdiskursen verknüpft war und beide Bereiche nur schwer voneinander zu trennen sind:

Die Förderung von Kultur durch Fürsten, Staaten, Städte, Parlamente und andere ‚Obrigkeiten‘ hat seit ihrem ersten Auftreten nicht nur den Zweck, Kunst und Künstler zu unterstützen, sondern – wie es im vermutlich ersten Eintrag zu ‚Kulturpolitik‘ in einem Fachlexikon heißt – immer auch den Charakter, dass sich der ‚Kultur als Mittel für Machtzwecke‘ bedient wird: ‚In der kürzesten Antithese:‘, ist im Politischen Handwörterbuch von 1923 formuliert, ‚der Sinn der Kulturpolitik ist entweder Kultur durch Macht oder Macht durch Kultur‘ (Spranger 1923: 1087).37

Das jeweilige Kräfteverhältnis ist wandelbar, doch dient Kultur auch in Demokratien zuweilen der Demonstration von Macht – „und sei es nur in Gestalt des repräsentativen Glanzes eines Kulturereignisses“. Wagner führt hierzu weiter aus:

Dieser ‚Repräsentationscharakter‘ ist kein Nebenprodukt von Kulturpolitik, sondern Teil ihrer Funktion und ihres Wesens. Jeder Museumsneubau und jede Opernpremiere ist auch heute noch – allen Bekenntnissen zum Trotz, dass es um die Kunst geht – immer auch ein Ausdruck der gegenseitigen Spiegelung und Verstärkung von Kultur und Politik.38

Zum Wechselverhältnis und den Abhängigkeiten zwischen Kunst und Macht veröffentlichte der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme 1998 Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, die sich mit der historischen Entstehung und Entwicklung von Kulturpolitik ausgehend vom jeweiligen Verhältnis zwischen Kunst und Macht befassen. Von Beyme geht davon aus, dass sich erst zu Beginn der Neuzeit „die Subsysteme Kunst und Politik aus der ganzheitlichen mittelalterlichen, religiös fundierten societas civilis ausdifferenziert“ und die Autonomiebestrebungen von ← 20 | 21 → Kunst und Politik dabei verstärkend aufeinander eingewirkt haben. Seit dem Zeitalter des Absolutismus sei die „Eigenmacht der Kunst“ geschrumpft, da das politische System alle anderen Subsysteme, und somit auch das der Kunst, dominiert habe.39 Doch „[e]rst in den Demokratien mit allgemeinem Wahlrecht und parlamentarisch verantwortlicher Regierung konnten Kunst und Macht ihre zeitweilige Symbiose aufgeben und sich autonom auseinanderentwickeln“.40 Zugleich habe sich aber auch die Vitalität von Kunst im Dienst der Opposition gegen die Macht verringert:

Es gibt zweifellos langfristig wirkende strukturelle Gründe für den Niedergang der Kunst als Gegenmacht. Die Konsolidierung der Demokratie hat diese Regierungsform berechenbarer, aber auch erlebnisärmer werden lassen. Kritische Künstler wollen heute keine ‚andere Republik‘. Es gehört zu den Paradoxien der Demokratie, daß die große Mehrzahl der Künstler die Grundordnung (polity) akzeptiert, die innere Distanz zur Politik (politics, alltäglicher Prozeß der Politik) jedoch immer größer wird.41

Von Beyme geht davon aus, dass sich „[d]ie Differenzierung von Politik und Kunst […] vermutlich dauerhaft vollzogen [hat]. Eine erneute Entdifferenzierung kann nur durch populistische und autoritäre Bewegungen durchgesetzt werden.“42 Zudem stelle Kunst aktuell eher eine Opposition zur Ökonomie dar als zur Politik43 und deshalb müsse das politische System versuchen, „die Autonomie der Kunst gegen die Dominanz der Wirtschaft zu schützen oder der Kunst im Hinblick auf die Wirtschaft rechtliche Förderung angedeihen zu lassen“.44

Kunst verhält sich zunehmend selbstreferentiell. Dies wurde erkannt, längst ehe es eine Theorie der sich selbst steuernden autopoietischen Systeme gab. […] Die ‚Kunst der Macht‘ nimmt in dem Maße ab, wie die Politik ihre Fähigkeit, andere gesellschaftliche Teilbereiche zu steuern, verliert. Das bedeutet aber nicht, daß die politische Ikonologie nicht weiterhin nachweisen kann, daß im Symbolbereich auch in der Kunst politische Steuerungsversuche immer wieder unternommen werden.45

Gerade dieser Grenzbereich zwischen Kunst/Kultur und Politik und seine Ausdifferenzierung in Deutschland und in Italien sind für die hier vorliegende komparatistisch ausgerichtete Arbeit von Interesse. Es sollen deshalb die vier Modelle ← 21 | 22 → staatlicher Kulturförderung in modernen Demokratien vorgestellt werden, die von Beyme unterscheidet:

1. Das zentralistische Modell unter der Regie eines Kulturministeriums (z.B. Frankreich)

2. Das dezentrale Modell der Dominanz von regionalen Akteuren (Länder) und funktionalen Akteuren (z.B. Deutschland)

3. Das para-staatliche Modell der Steuerung mit hoher Autonomie (National Endowment of the Arts in den USA, Arts Council in Großbritannien)

4. Der Staat organisiert die Kunst in eigener Regie. Das Modell ist meist an Diktaturen gebunden. Im Zeichen des Wohlfahrtsstaates zeigten sich Züge dieses Modells jedoch auch im amerikanischen New Deal und in Skandinavien.46

Obwohl es sich hier um Idealtypen handelt, kann die Einteilung doch für die weitere Analyse der deutschen und italienischen Kulturpolitik hilfreich sein und soll in der vergleichenden Gegenüberstellung im Schlussteil aufgegriffen werden.

Diese ersten Einblicke in die Themenfelder und Diskussionsstränge von Kulturpolitik können den aktuellen Stand der Forschung in groben Zügen wiedergeben.47 Zusammenfassend kann somit als erster Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen gelten:

Aufgabe öffentlicher Kulturpolitik ist – nach der heute gebräuchlichen Auffassung – zum einen der Schutz und die Unterstützung von Kunst und Kultur durch ihre Förderung, die Sicherung ihrer infrastrukturellen Grundlagen und die Schaffung kulturfreundlicher Rahmenbedingungen sowie zum andern die Herstellung der Voraussetzungen, dass möglichst viele Menschen an kulturell-künstlerischen Ereignissen teilhaben können. Dabei hat sie mit den Künstlerinnen und Künstlern, den Kultureinrichtungen und Kunstinstituten sowie der kulturinteressierten Bevölkerung drei große Adressatengruppen. Diese Kulturpolitik befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Neuorientierung. Das betrifft ihre finanzielle Basis, ihre organisatorische Struktur und ihre inhaltlich-konzeptionelle Ausrichtung.48

Wie die KulturpolitikerInnen in Deutschland und auch in Italien mit diesen drei maßgeblich in Veränderung begriffenen Aspekten bzw. Problemfeldern umgehen, wird im Folgenden herauszuarbeiten sein. Mit einer ersten Festlegung ← 22 | 23 → der Begrifflichkeiten sowie der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Legitimationsansätzen von Kulturpolitik schafft das vorliegende Kapitel zunächst die Ausgangsbasis für weiterführende Überlegungen im kulturpolitischen Feld. Darauf aufbauend wird im Anschluss der konkrete Untersuchungsgegenstand weiter präzisiert und schließlich die Fragestellung so klar umrissen, dass die Formulierung der forschungsleitenden Fragen möglich sein wird.

1.2 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung

Der Ansatz dieser Arbeit ist ein klar komparatistischer. Dieser wurde gewählt, da häufig erst der Vergleich die Reflexion eigener Vorannahmen und Herangehensweisen ermöglicht, und sich darauf aufbauend Erkenntnisse gewinnen lassen, die als Ausgangspunkte für Veränderungen und möglicherweise Verbesserungen dienen können.

Sinnvoll erscheint eine vergleichende Perspektive zudem mit Blick auf das Zusammenwachsen Europas: Bisher bemüht sich lediglich das Projekt Compendium – Cultural Policies and Trends in Europe um eine vergleichende europäische Perspektive in der Kulturpolitik.49 Um jedoch langfristig die Erhebung tatsächlich vergleichbarer Daten zu ermöglichen, ist die vertiefte Kenntnis des jeweils anderen Gesamtsystems, seiner Voraussetzungen und Logiken unabdingbar. Hierzu möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, denn es ist unbestritten, dass die europäischen Länder – aufbauend auf einer kontinuierlichen Datenerhebung mit vergleichbaren Parametern – von den Erfahrungen der anderen erheblich profitieren könnten:

Details

Seiten
567
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052961
ISBN (ePUB)
9783653971682
ISBN (MOBI)
9783653971675
ISBN (Hardcover)
9783631660317
DOI
10.3726/978-3-653-05296-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Vergleichende Kulturwissenschaft ExpertInneninterviews Kulturbegriffe Regionale Transformationsprozesse
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 567 S., 6 farb. Abb., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Claudia Burkhard (Autor:in)

Claudia Burkhard studierte Literary, Cultural and Media Studies an den Universitäten Siegen und Granada (Spanien) und absolvierte anschließend den binationalen Master Deutsch-Italienische Studien an den Universitäten Bonn und Florenz.

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Titel: Kulturpolitik als Strukturpolitik?
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