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Die Schwedischen Ballette – Les Ballets Suédois

Getanzte Visionen im Paris der 1920er Jahre

von Karin Dietrich (Autor:in)
©2015 Dissertation XII, 378 Seiten

Zusammenfassung

Die Ballets Suédois, die Schwedischen Ballette, die das Paris der «Années folles» zum Experimentierfeld der Künste machten und die Russischen Ballette für kurze Zeit mit ihren innovativen Tanzprojekten in den Schatten stellten, sind heute immer noch wenig bekannt, gelten aber als große Wegbereiter des modernen Tanztheaters. Karin Dietrich fächert die Entwicklung der Truppe vor dem Hintergrund ihres Zeitgeschehens auf, stellt das Repertoire und seine ästhetische Verortung vor und betrachtet exemplarisch einzelne Werke. Sie nähert sich so der Frage, was für die Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die große Faszination der Gattung Ballett ausmachte, und wie es dazu kam, dass sich eine schwedische Balletttruppe Paris als Ausgangspunkt für ihr Unternehmen wählte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Die Geschichte der Ballets Suédois
  • Vor 1920: Idee und Entstehung der Ballets Suédois
  • Michel Fokines Handschrift
  • Rolf de Maré und die Familie Hallwyl
  • Jean Börlin
  • Jacques Hébertot, der „Raub der Sabinerinnen“ und die schwedische Presse
  • „Warmtanzen“ und letzte Vorbereitungen in Paris
  • 1920–1925: Die Ballets Suédois in Paris
  • Künstlerische und soziologische Voraussetzungen im Forum Paris
  • Das Théâtre des Champs-Élysées
  • Werbestrategie und Programmaufbau
  • Das Repertoire und seine Schwerpunkte
  • Die Tourneen und ihre Resonanz
  • Die Ausstatter
  • Die Librettisten
  • Die Komponisten
  • Nach 1925: Die Auflösung der Ballets Suédois
  • Das Ende der Truppe
  • Jean Börlins Tod
  • Statistiken
  • Rolf de Marés „Archives Internationales de la Danse“
  • Wiederbelebungsversuche
  • II. Die Ästhetik der Ballets Suédois
  • Die Grundproblematik der Formulierung einer Ästhetik der Ballets Suédois
  • Neue Wege nach dem Ersten Weltkrieg
  • Positionierung der Ballets Suédois im Zuge der Entwicklung des Genres Ballett
  • Die Ballets Suédois als Katalysator im Paris der 1920er Jahre
  • Personalie 1: Jean Cocteau (1881–1955) und Erik Satie (1866–1925)
  • Jean Cocteaus Le Coq et l’Arlequin als Reaktion auf Erik Saties Parade
  • Hahn contra Harlekin
  • Ablehnung der (deutschen) Romantik und des (französischen) Impressionismus
  • Erik Saties „gehäuteter Stil“ und „Einfachheit“ als idealer Weg
  • Die lapidare Schönheit von Realität und Alltag
  • Bedingungsloser Individualismus mit Überraschungseffekt
  • Integration der Maschine in die zeitgemäße Kunst
  • Jazz und Music-Hall als Inspirationsquelle
  • Rückwirkung der Ästhetik Jean Cocteaus und Erik Saties auf die Ballets Suédois
  • Die Ballets Suédois im Vergleich mit den Ballets Russes
  • Der leidige Vergleich
  • Dynamik einer Konkurrenz
  • Konkrete Vergleiche
  • Was ist schwedisch an den Schwedischen Balletten?
  • Personalie 2: Pär Lagerkvist (1891–1974)
  • „Wortkunst und Bildkunst“
  • Der Mangel an zeitgenössischer schwedischer Literatur
  • Die Bildende Kunst als Vorbild für die Literatur
  • Poesie und Tanz
  • Kongruenzen mit dem Denken Rolf de Marés
  • Tanz als Ausdruck des modernen Lebens
  • Die Sonderstellung der Malerei für die Ballets Suédois
  • Vom Ballett zum Spektakel
  • Personalie 3: Fernand Léger (1881–1955)
  • Stilistische Entwickung
  • Kunst als Abbild des zeitgenössischen Menschen und seiner Umwelt
  • Bühnenerfahrungen
  • „Künstler“ und „Handwerker“
  • Das „Spektakel“ in den Schriften Fernand Légers
  • Das „mobile Dekor“
  • Realisierung im Rahmen der Ballets Suédois
  • Möglichkeiten des Films
  • Schlüsselthemen in der Ästhetik Fernand Légers
  • Personalie 4: Francis Picabia (1879–1953)
  • Totales Theater
  • Die Funktion der Musik im Gesamtkonzept
  • III. Werkbetrachtungen
  • Einleitung
  • Les Mariés de la Tour Eiffel
  • Produktionsteam
  • Besetzung
  • Szenario
  • Die Entstehung des Werkes
  • Jean Cocteaus Plan
  • Die Samedisten
  • Teamwork mit Hindernissen
  • Der Zerfall der Groupe des Six
  • Das Libretto
  • Die Stellung innerhalb Jean Cocteaus Schaffen
  • Inhalt und Form
  • Die Fonografen
  • Bezüge zu Le Coq et l’Arlequin
  • Anmerkungen zu den Textfassungen
  • Die Kompositionen
  • Das Aufgreifen der Ästhetik Jean Cocteaus in der Musik
  • Nähere Betrachtung des Discours du Général und der Marche funèbre
  • Die Funktion der Musik im Gesamtkonzept
  • Die Umsetzung auf der Bühne
  • Das Zusammenwirken des Librettos mit dem Bühnen- und Kostümbild
  • Bühnenbild
  • Kostüme und Masken
  • Choreografische Umsetzung
  • Die Reaktionen
  • Die Premiere
  • Reaktionen der Presse
  • Nachwirkungen
  • Die Quellenlage
  • Verbleib der Autografe
  • Funde im Rahmen der Drucklegung und Einspielung
  • Sonderfall: Fugue du Massacre
  • Bestand des Dansmuseet Stockholm
  • Vergleich der Originale mit den gedruckten Fassungen
  • La Création du Monde
  • Produktionsteam
  • Besetzung
  • Szenario
  • Die Entstehung des Werkes
  • Einflüsse der afrikanischen Kultur auf Bildende Kunst, Literatur, Tanz und Musik
  • Erste Pläne zum Stück
  • Die enge Zusammenarbeit von Blaise Cendrars, Fernand Léger und Darius Milhaud
  • Das Libretto
  • Blaise Cendrars’ Motivation
  • Quellen
  • Inhalt und Form
  • Die Komposition
  • Die Umsetzung des Sujets in Musik
  • Darius Milhauds Jazz-Rezeption
  • Die Funktion der Musik im Gesamtkonzept
  • Die Umsetzung auf der Bühne
  • Fernand Légers Ansatz
  • Bühne und Kostüme
  • Licht und Farbe
  • Primitivismus und Archaismus im Dienst der Mechanisierung der Bühne
  • Reflexionen Légers über La Création du Monde
  • Choreografische Umsetzung
  • Die Reaktionen
  • Die Premiere und die Reaktionen von Publikum und Presse
  • Nachwirkungen
  • Die Quellenlage
  • Relâche
  • Produktionsteam Relâche
  • Besetzung Relâche
  • Produktionsteam Entr’acte
  • Besetzung Entr’acte
  • Ballett-Szenario Relâche
  • Film-Szenario Entr’acte
  • Die Entstehung des Werkes
  • Dadaismus kontra Surrealismus
  • Von Blaise Cendrars’ Après dîner zu Francis Picabias Relâche
  • Integration des Mediums Film
  • Werbestrategien
  • Die Ballets Suédois im Dienst des Instantaneismus
  • Das Libretto
  • Die Negation von Inhalten und Zusammenhängen
  • Texte und Aphorismen um Relâche
  • Die Komposition
  • Der Fall Satie
  • Bezüge zur Unterhaltungsmusik
  • Formale Betrachtungen
  • Dadaistische Musik?
  • Die Umsetzung auf der Bühne
  • Fortsetzung der Textlichkeit auf der Bühne
  • Negativität als Ausstattungskonzept
  • Choreografische Umsetzung
  • Film und Filmmusik
  • Die Vorlage Picabias
  • Clairs filmische Umsetzung des Instantaneismus
  • Erik Saties Filmmusik
  • Aufführungen von Entr’acte ohne Relâche
  • Die Reaktionen
  • Die Premierenpanne
  • Die Premiere und erste Reaktionen
  • Reaktionen der Presse
  • Saties Musik in der Kritik
  • Rezeption des Films
  • Die Auflösung der Ballets Suédois
  • Nachwirkungen
  • Die Quellenlage
  • Verbleib der Autografe
  • Bestand der Archives Salabert
  • Schluss
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Musica practica
  • Nachschlagewerke
  • Literatur, Bildbände, Kataloge, Monografien und Aufsätze
  • Zeitungen/Zeitschriften aus den 1920er Jahren (Auswahl)
  • Filme
  • Konsultierte Archive, Bibliotheken und Museen
  • Anhang

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Einleitung

„En svensk balett i Paris – vous rendez-vous bien compte?

Varför Balett, varför från Sverige, varför Paris?“

Bengt Häger1

Was machte für die Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die große Faszination der Gattung Ballett aus? Wie kam es dazu, dass sich eine schwedische Balletttruppe dem experimentellen Tanz widmete und dafür ein Vermögen aufwendete? Und warum wählte diese Truppe Paris als Ausgangspunkt? Das sind Fragen, die sich nicht nur Bengt Häger, der Assistent Rolf de Marés, des Gründers und Leiters der Ballets Suédois, in seinen Schriften über diese Balletttruppe gestellt hat. Auch für die vorliegende Arbeit, die das Wirken der Ballets Suédois in den 1920er Jahren vor dem Hintergrund ihres Zeitgeschehens untersucht und dabei im Besonderen den Funktionswandel der Musik betrachtet, sind diese Fragen ein erster Leitfaden.

Tatsächlich war das urbane Umfeld, das sich die Ballets Suédois als Ausgangspunkt gewählt hatten, von entscheidender Bedeutung. In Paris hatte sich während des Ersten Weltkriegs ein künstlerischer Freiraum entwickelt, in dem alles möglich schien. Raymond Radiguet nannte diesen Ausnahmezustand, der die Normen aushebelte, die „großen Ferien“2, Jean Cocteau sprach von einer „Revolution“, die den Grundstock für die Avantgarde bildete3. In allen Kunstsparten begann man neues, unbekanntes Terrain zu erkunden. Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Experiments, die getragen war von einem neu gewonnenen euphorischen Lebensgefühl, das sich einerseits darauf berief, dass Frankreich als Sieger aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, und andererseits die Erleichterung über das Ende des Grauens widerspiegelte.

Die 1920er Jahre waren geprägt vom Fortschritt, der den Alltag der Menschen gerade in den Städten stark veränderte: Die feministische Revolte ging mit der sexuellen Revolution einher, die Freizeit wurde quasi „erfunden“, Jahrmärkte und Music-Halls wurden eröffnet, Reisen kam in Mode, Breitensport – darunter Golf, Tennis und Boxen sowie öffentliche Rollschuhbahnen – wurde populär, ← 1 | 2 → Modetänze wie Tango, Foxtrott, Shimmy und Charleston erfuhren einen großen Aufschwung, und man tanzte in Clubs, Tanzsälen, zu Hause, auf Wohltätigkeitsbällen und bei Wettbewerben im Marathontanzen. Die Modeschöpfer kreierten extravagante Toiletten und die Textilindustrie erfand die „Kleidung von der Stange“. Viele technische Errungenschaften wie Automobil oder Telefon, die bisher einer Elite vorbehalten waren, wurden der breiten Masse zuteil. Das Radio, der Stummfilm mit seinen Stars Buster Keaton und Charlie Chaplin und der aufkommende Tonfilm begeisterten das Publikum. Es war die Zeit, in der Albert Einstein den Nobelpreis für Physik erhielt, Alexander Fleming das Penicillin entdeckte, Howard Carter gemeinsam mit Lord Carnarvon die Grabstätte des Tutenchamun öffnete und Charles Lindbergh den Atlantischen Ozean überquerte.4

Auch die Künstleravantgarde der 1920er Jahre, der sogenannten „Années folles“, suchte nach Neuem. In Paris entstanden explosionsartig unterschiedlichste Stilrichtungen auf engstem Raum. Neben neuen Formen und Inhalten, die durch das veränderte Erleben des Alltags geprägt waren, wurden auch Material und Funktion neu gestaltet. Jahrmärkte, Zirkus, Jazzclubs und Music-Halls wurden zu Inspirationsquellen für Musiker, Dichter und Maler.5

Die Entscheidung des Schweden Rolf de Maré, sich mit seiner neu gegründeten Balletttruppe in Paris anzusiedeln, wo sich politische, gesellschaftliche, moralische und künstlerische Werte im Umbruch befanden, war nahe liegend. Seine Idee eines multimedialen Spektakels, einer Art Gesamtkunstwerk von Szene, Malerei, Tanz, Musik, Schauspiel, Drama und Film, konnte sich hier ideal entfalten und verband sich so untrennbar mit dem Rhythmus der Stadt, dass man die Ballets Suédois kein schwedisches oder französisches Phänomen nennen sollte als vielmehr ein pariserisches. Im Kontext dieser Kompanie entstanden Ballette mit Jazz-Musik und Music-Hall-Elementen, Stücke über exotische und antike Themen, Mode und Sport, Frauen wurden sowohl für die Ausstattung als auch die Komposition verpflichtet, Gruppenkompositionen wurden aufgeführt, und sowohl dadaistische als auch surrealistische Strömungen manifestierten sich in einzelnen Projekten. Selbst ein Film von René Clair fand Eingang auf die Bühne als wesentlicher Bestandteil eines Balletts von Erik Satie6. ← 2 | 3 →

Die vorliegende Arbeit untersucht einerseits die Genese, das urbane Umfeld und das Wirken der Ballets Suédois, die im 1. Kapitel mit dem Titel „Die Geschichte der Ballets Suédois“ vorgestellt werden, und widmet sich andererseits in ihrem 2. Kapitel den verzweigten ästhetischen Entwicklungslinien der Truppe, aus deren Repertoire im 3. Kapitel drei Werke genauer betrachtet werden. Dabei begegnet uns immer wieder die Frage, inwiefern sich die Ballets Suédois von den bereits seit 1909 etablierten Ballets Russes abhoben und wie die schwedische Truppe, die insgesamt nur sechs Spielzeiten tanzte, auf das Wirken der Ballets Russes aufbaute. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, warum die Ballets Suédois heute im Vergleich weitaus weniger bekannt sind, obwohl sie zur Zeit ihrer Existenz den Erfolg der Ballets Russes übertrumpften. Und warum werden die Werke – abgesehen von konzertanten Aufführungen – heute nur noch selten auf die Bühne gebracht?

Der Verbund der Künste im Schaffen der Ballets Suédois wird vor allem im 2. Kapitel betrachtet, in dem Jean Cocteau, Erik Satie, Darius Milhaud, Fernand Léger und Francis Picabia als prägenden Künstlern in Form von „Personalien“ besondere Aufmerksamkeit eingeräumt wird. Das 2. Kapitel fokussiert auch die Gattung Ballett, die damals im Umbruch vom traditionsgebundenen Ballett zum totalen Theater war7, was sich unmissverständlich in der Terminologie niederschlug. Zahlreiche Genreerweiterungen und -varianten entstanden im Kontext der Ballets Suédois, die Cocteau als neue Theaterform reflektierte, „die kein Ballett im eigentlichen Sinn des Wortes mehr ist und die weder an der Oper noch an der Komischen Oper noch an irgendeiner unserer Boulevardbühnen ihren Platz findet“8. Das Ineinanderhaken und sich Bedingen der verschiedenen Kunstsparten im Schaffen der Ballets Suédois bringt allerdings das methodische Problem mit sich, dass man sich dem interdisziplinären Thema, um es in seiner Gänze erfassen zu können, interdisziplinär nähern muss, ausgehend von einem Verbund von Theater-, Literatur, Kunst-, Film- und Musikwissenschaft.

Der Einfluss der Ballets Suédois wird in der wissenschaftlichen Betrachtung immer noch stiefmütterlich behandelt. Elke Seipp, die die Ballette Darius Milhauds vor dem Hintergrund der französischen Ballettkunst als „Zeitkunst“ untersucht hat, wies allerdings darauf hin, dass die Bedeutung dieser Kompanie für die Theater- und Ballettentwicklung im 20. Jahrhundert bisher weit unterschätzt ← 3 | 4 → wurde9. Dabei zeichnet sich ab, dass die Ballets Suédois das Sprachrohr der Avantgardekunst und ein „Wegbereiter in der gesamten Ballett- und Theaterentwicklung des 20. Jahrhunderts“ waren: „Der Hauptakzent in der künstlerischen Produktion der Ballets Suédois liegt auf dem innovatorischen Moment, der Bestrebung, eine ‚Theaterkunst‘ zu schaffen, die mit jedem neuen Werk überlieferte Ausdrucks- und Darstellungsformen sprengt und neue, provozierende oder schockierende Entwicklungen einleitet“.10 Wie sehr die Innovation Programm der Ballets Suédois war, bezeugen zahlreiche Äußerungen aus dem Umfeld der Truppe, die sie nie als Ergebnis oder Ziel verstanden, sondern als Ausgangspunkt: „Die Ballets Suédois berufen sich auf niemanden, sie folgen niemandem. Sie verehren den kommenden Tag. Die Ballets Suédois verursachen Enthusiasmus und Wut: das heißt, sie leben!“11

Mit der Neugestaltung des Balletts als totales Theater vollzog sich auch eine Neubewertung der Ballettmusik, für die die Komponisten ein neues Repertoire mit einem neuen Anspruch schufen.12 Hermann Danuser spricht von der „Genese einer Gattung in einer kompositionsgeschichtlich neuen, wegwesenden Funktion“.13 Wie die Ballets Suédois diese Entwicklung fortführten, die nach Isadora Duncan zunächst die Ballets Russes aufgegriffen hatten, ist ein zentrales Thema dieser Arbeit. Welche Stellung nahm die Musik im Verbund der Künste ein und welchen Funktionswechsel erfuhr sie. Diese Fragen stellen sich sowohl bei der Untersuchung der Ästhetik als auch bei den Detailbetrachtungen der drei Ballette Les Mariès de la Tour Eiffel, La Création du Monde und Relâche, die das Erscheinungsbild der Ballets Suédois entscheidend geprägt haben. Diese Werkbetrachtungen, die sich nicht als musikwissenschaftliche Detailanalyse verstehen, sondern die Kompositionen im Gesamtkonzept eines totalen Theaters verorten, bilden das 3. Kapitel.14 ← 4 | 5 →

Als Quellen für die Untersuchung der Ballette wurden neben den Partituren, den Libretti und den wenigen filmischen Dokumentationen vor allem Bilder, Entwürfe, Briefwechsel sowie Rezensionen und Presseartikel als Primärquellen herangezogen. Da Jean Börlin kaum Notizen zu seinen Choreografien machte, die unter großem Zeitdruck entstanden, sind Fotos und Beschreibungen der Tänze wichtige Anhaltspunkte. Eine wesentliche Quelle für meine Arbeit bilden die Rezensionen vor allem der französischen Presse. Die Ballets Suédois waren ein vieldiskutiertes Phänomen, und die Artikel beschreiben nicht nur die Kompanie selbst, sondern bilden auch den Zeitgeist der „Années folles“ ab. Rolf de Maré sammelte er alle Artikel akribisch, so dass er bereits 1931 rund 40kg an Papier angehäuft hatte.15 Diese Sammlung befindet sich heute zusammen mit dem Großteil der Primärquellen im Dansmuseet Stockholm. Zahlreiche Artikel, Vorträge und Memoiren teilnehmender Künstler wie Milhaud, Léger, Satie und Cocteau ergänzen die Primärquellen. Diese Schriften sind aufgrund einer möglichen Befangenheit besonders kritisch zu betrachten, was ebenso für die zahlreichen Magazine der 1920er Jahre gilt, die teilweise als Werbeorgane dienten, da sie im Besitz Rolf de Marés waren.16 Wertvolle Dokumentationen und Materialsammlungen stammen von Rolf de Maré, Bengt Häger und Erik Näslund. Ein Großteil an Sekundärliteratur über die Truppe findet sich in Ausstellungskatalogen, was der engen Zusammenarbeit mit zahlreichen Bildenden Künstlern geschuldet ist. 2009 erschien eine umfangreiche Biografie von Rolf de Maré, mit der Näslund noch einmal viele Lücken schließen konnte.17 Eine Biografie über Jean Börlin steht derzeit noch aus. Alle fremdsprachigen Qquellen werden zweisprachig wiedergegeben, wobei ich die Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, selbst verfasste. Da für Autoren wie Satie oder Picabia Textformatierungen untrennbar mit dem Inhalt verbunden waren, werden Hervorhebungen als Kursiva oder in Einzelfällen als Versalien dargestellt. ← 5 | 6 →

Einige der Partituren liegen als gedruckte Werke vor, zahlreiche der Kompositionen konnten als Manuskript in den Archiven des Dansmuseet nachgewiesen und eingesehen werden. Auch nahezu das komplette Aufführungmaterial des Orchesters aus den 1920er Jahren, das größtenteils seit jener Zeit nicht wieder gespielt worden ist und deshalb wertvollen Aufschluss über mögliche Aufführungsdetails geben kann, ist Bestandteil des Archivs. Nicht zuletzt konnten, wie im Fall von Les Mariés de la Tour Eiffel, einer Gruppenkomposition der Groupe des Six, verschollen geglaubte Teilpartituren entdeckt werden.18 Die Titel der Ballette folgen in der Regel der französischen Schreibweise. Auch hier habe ich, soweit nicht anders angegeben, die Übersetzung vorgenommen.

Anhand der Quellen, die in dieser Arbeit zum Teil neu erschlossen werden konnten, entfalten sich die Ballets Suédois als ein Brennspiegel ihrer Zeit, der „die in der Luft verstreuten Ideen“ polarisiert und fixiert.19 Einer, der das früh erkannte, war Oscar Bie, der bereits 1922 über die Ballets Suédois schrieb:

Wer hätte geahnt, dass sich da oben in Schweden in ernster und stiller Arbeit die Schule eines neuen Balletts bilden würde, das jetzt seit einigen Jahren Europa bereist, bewundert wegen seiner Kunst und noch mehr wegen seines Mutes, neue Dinge in den Bereich des Tanzes zu ziehen, die man bisher nicht gewohnt war, auf der pantomimischen Bühne zu sehen. (…) So selbständig der Tanz als Kunst geworden ist, so lebt er doch sein eigentliches Leben in der Verbindung dichterischer, malerischer und musikalischer Vorgänge, die er durch sein rhythmisches Bild vereinigt. Er steht mitten in den Ausdrucksmöglichkeiten unserer Epoche und es ist fast so, als ob er gewisse Geheimnisse, die in der modernen Plastik, Malerei und Musik liegen, für uns erst sinnfällig löste. Gerade in dieser Beziehung verdient das schwedische Ballett eine besondere Aufmerksamkeit und seine Leistungen eine ehrliche Aufmunterung.20

Die vorliegende Arbeit versteht sich in der Beschreibung und Untersuchung dieser außergewöhnlichen Balletttruppe, die zahlreiche Experimente der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg bereits im Keim in sich trug, ganz im Sinne Bies, als „besondere Aufmerksamkeit“. Sie betrachtet sowohl die Genese, die ästhetischen Grundlinien als auch einzelne Projekte der Ballets Suédois, um die getanzten Visionen der Truppe als wichtige Etappe innerhalb einzelner Künstlerbiografien, aber auch in der Geschichte des modernen Tanztheaters zu markieren.

1 Bengt Häger, De kloka dårarna in: Svenska Baletten – Les Ballets Suédois 1920–1925, Ur Dansmuseets samlingar, Ausstellungskatalog des Moderna Museet Stockholm 27. Februar – 7. April 1969, Malmö 1969, 5: „Ein schwedisches Ballett in Paris – vous rendez-vous bien compte? Warum Ballett, warum aus Schweden, warum Paris?“

2 Jean Cocteau, La Difficulté d’être, Paris 1983, 21.

3 Jean Cocteau, La corrida du premier mai (L’Improvisation de Rome), Paris 1957, 172f.

4 Wie sich das Alltagsleben für die breite Masse veränderte, veranschaulicht Nick Yapp – hauptsächlich am Beispiel Englands – in: The Hulton Getty Picture Collection: 1920s, Köln 1998.

5 Eine Beschreibung solcher Treffen gibt Darius Milhaud in: Ma vie heureuse, Paris 1987, 84. Vgl. auch Kap. I: 37ff.

6 Vgl. Kap. III, wo dieses Werk – Relâche – gesondert betrachtet wird: 291ff.

7 Vgl. auch Konrad Landreh, Die Rolle des Balletts in der musikalischen Avantgarde Frankreichs in: Handbuch der musikalischen Gattungen, hg. v. Siegfried Mauser, Band 17,1, Laaber 2009, 233ff.

8 Jean Cocteau, Die Hochzeit auf dem Eiffelturm (Vorwort von 1922), Frankfurt 1988, 18.

9 Elke Seipp, Die Ballettwerke von Darius Milhaud, Untersuchungen zur Typologie und Bedeutung im Rahmen der französischen Ballettkunst als „Zeitkunst“ (1910–1960), Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 33, Tutzing 1996, 2.

10 Ebd. 18.

11 La Danse, Paris Dancing et Danse de nos jours réunis, 4 (janvier 1924) o. S., zit. nach Seipp, 18f.

12 Ebd., 5ff. Siehe auch: Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft 7, hg. von Carl Dahlhaus, Laaber 1984, 21992, 63f. sowie Jörg Rothkamm, Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung, Mainz 2011, 16.

13 Hermann Danuser, Gattung in: MGG, Sachteil, Bd. 3, 1995, Sp. 1065.

14 Eine detaillierte musikwissenschaftliche Analyse originärer Ballettmusik des 19. und 20. Jahrhundertes hingegen bietet Jörg Rothkamm in seinem Buch Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung, der auch die Schwierigkeit der Methodik problematisiert. Er untersucht unter anderem, welche Parameter der Musik choreografiebezogen konzipiert bzw. inwiefern Strukturen der Musik im Hinblick auf eine choreografische Umsetzung erdacht worden sind und geht diesen Fragen – anders als die vorliegende Arbeit – ganz von der Musik ausgehend nach. Er erörtert auch eingehend die Problematik, warum Ballettmusiken lange nicht als eigenständige musikalische Gattung akzeptiert waren und als Thema generell von der Musikwissenschaft gemieden wurden (18ff., 29ff.).

15 Rolf de Maré, Naissance et Évolution des Ballets Suédois in: Les Ballets Suédois dans l’art contemporain, Paris 1931, 32.

16 Siehe Kap. I: 45ff.

17 Erik Näslund, Rolf de Maré – Fondateur des Ballets Suédois, Collectionneur d’art, Créateur de musée, Stockholm 2009.

18 Siehe Kap. III (Les Mariés de la Tour Eiffel): 252ff.

Details

Seiten
XII, 378
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052916
ISBN (ePUB)
9783653971743
ISBN (MOBI)
9783653971736
ISBN (Paperback)
9783631660287
DOI
10.3726/978-3-653-05291-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Ballett im 20. Jahrhundert Tanztheater Avantgarde Années folles
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XII, 378 S., 25 s/w Abb.

Biographische Angaben

Karin Dietrich (Autor:in)

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