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Erwartungswidrige Minderleistung und Belastung im kaufmännischen Unterricht

Analyse pädagogischer, psychologischer und physiologischer Aspekte

von Tobias Kärner (Autor:in)
©2015 Dissertation XVI, 498 Seiten

Zusammenfassung

Im Buch wird das pädagogisch-psychologische Konstrukt der erwartungswidrigen Minderleistung vor dem Hintergrund von Belastung, Bewältigung und berufsschulischem Unterricht genauer beleuchtet. Mittels eines mehrebenen- und prozessanalytischen Forschungsansatzes wurden vom Autor sowohl psychologische und physiologische Produkt- und Prozessdaten als auch unterrichtliche Beobachtungsdaten erhoben. Die Befunde weisen u. a. darauf hin, dass es zwischen den unterschiedlichen Datenebenen entsprechende Zusammenhänge zu verzeichnen gibt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Abkürzungsverzeichnis
  • I Einleitung
  • 1 Themenrelevanz und Problemstellung
  • 1.1 Thematische Einordnung
  • 1.2 Zielstellungen und Vorgehensweise
  • II Theoretischer Hintergrund und Stand der Forschung
  • 2 Erwartungswidrige Minderleistung
  • 2.1 Konstruktverständnis
  • 2.1.1 Begriff der erwartungswidrigen Minderleistung
  • 2.1.2 Differenzierungen innerhalb des Konstrukts
  • 2.1.3 Kritische Würdigung
  • 2.2 Erwartungswidrige Minderleister in der beruflichen Bildung
  • 2.3 Diagnostik
  • 2.3.1 Bedeutung diagnostischer Kompetenzen
  • 2.3.2 Vom Potenzial zur Performanz
  • 2.3.3 Ausgewählte Identifikationsansätze
  • 2.3.3.1 Prozentrangmethode
  • 2.3.3.2 Regressionsanalytisches Vorgehen
  • 2.3.3.3 Response to Intervention und Growth Mixture Modeling
  • 2.3.4 Underachievementdiagnose nach Ziegler, Dresel & Schober
  • 2.4 Charakterisierung
  • 2.4.1 Physiologische Korrelate
  • 2.4.2 Ausgewählte psychologische Merkmale
  • 3 Belastung und Stress
  • 3.1 Begriffsklärungen und Bezüge zum emotionalen Erleben
  • 3.2 Ausgewählte Modelle
  • 3.2.1 Psychoneuroendokrinologisches Modell nach Henry
  • 3.2.2 Transaktionaler Ansatz nach Lazarus
  • 3.3 Belastungssymptomatik
  • 3.3.1 Physische Symptome
  • 3.3.1.1 Neurophysiologische Aspekte der Belastungsreaktion
  • 3.3.1.2 Ausgewählte Befunde zu endokrinen Reaktionen
  • 3.3.1.3 Bedeutung des autonomen Nervensystems
  • 3.3.2 Psychische Symptome
  • 3.4 Belastungsdiagnostik
  • 3.4.1 Physiologische Indikatoren
  • 3.4.2 Psychologische Indikatoren
  • 3.4.3 Mehrebenenstruktur belastungsbedingter Reaktionen
  • 3.5 Stressbewältigung
  • 3.5.1 Neurophysiologische Korrelate
  • 3.5.2 Problem- und emotionsorientierte Bewältigung
  • 4 Belastung, Minderleistung und schulischer Unterricht
  • 4.1 Physiologische Aspekte
  • 4.1.1 Belastung, Gedächtnis und Lernen
  • 4.1.2 Nichtlineare Beziehung zwischen Belastung und Leistung
  • 4.1.2.1 Performanz in Abhängigkeit vom Belastungsniveau
  • 4.1.2.2 Ausgewählte empirische Befunde
  • 4.2 Psychologische Aspekte
  • 4.2.1 Underachievement, Vulnerabilität und Bewältigung
  • 4.2.1.1 Ausgewählte Forschungsbefunde
  • 4.2.1.2 Bedeutung von Fähigkeitsselbstkonzept und Selbstwirksamkeit
  • 4.2.2 Erwartungswidrige Minderleistung und Angst
  • 4.3 Zusammenfassende Übersicht zu ausgewählten Befunden
  • 4.4 Unterrichtliche Belastungsquellen
  • 4.4.1 Relevanz der Thematik und empirische Befunde
  • 4.4.2 Identifizierung und Kategorisierung unterrichtlicher Stressoren
  • 4.5 Underachievement und unterrichtliche Bedingungen
  • 4.5.1 Indizien und empirische Forschungsbefunde
  • 4.5.2 Zeitdruck im Unterricht
  • 4.5.3 Zusammenfassende Kategorisierung
  • 4.6 Implikationen für eine ressourcenorientierte Unterrichtsgestaltung
  • 4.6.1 Gestaltungsmerkmale selbstorganisationsoffenen Unterrichts
  • 4.6.2 Zentrale empirische Forschungsbefunde aus den SoLe-Studien
  • 4.6.3 Indikatoren unterrichtsbezogener Stressoren und Ressourcen
  • 5 Analysemodell, Forschungsfragen und Hypothesen
  • 5.1 Theoretisches Modell und zentrale Forschungsfragen
  • 5.2 Arbeitshypothesen
  • III Datengrundlage und methodisches Vorgehen
  • 6 Konzeption und Durchführung der Studie
  • 6.1 Stichprobe und Untersuchungsmethoden
  • 6.2 Untersuchungsablauf
  • 7 Operationalisierung der verwendeten Konstrukte
  • 7.1 Erwartungswidrige Schulleistung, Potenzial und Leistung
  • 7.2 Befragung zu Eigenschaften und Unterrichtsmerkmalen
  • 7.3 Subjektives Erleben im Unterrichtsprozess
  • 7.4 Physiologische Parameter
  • 7.4.1 Speichelcortisol
  • 7.4.2 Kardiovaskuläre Variablen
  • 7.5 Unterrichtliche Rahmenbedingungen und soziale Interaktionen
  • IV Empirische Befunde
  • 8 Regressionsanalytische Identifikation und Differenzierung
  • 8.1 Achievement-Gruppen, kognitive Grundfähigkeiten und Leistung
  • 8.2 Lern- und leistungsrelevante Merkmale
  • 8.3 Belastungsbezogene psychologische Merkmale
  • 8.4 Interdependenzen zwischen lernrelevanten und belastungsbezogenen psychologischen Merkmalen
  • 8.4.1 Korrelative Zusammenhänge
  • 8.4.2 Interaktionen zwischen Fähigkeitsselbstkonzept, Vulnerabilität und Bewältigung
  • 8.4.3 Kognitive Grundfähigkeiten und nicht-kognitive Merkmale als Leistungsprädiktoren
  • 9 Analysen zur subjektiven Einschätzung des Unterrichts und der Lehrkraft
  • 10 Analyse der Cortisol-Konzentrationen
  • 10.1 Gruppenunterschiede und lineare Steigungskoeffizienten
  • 10.2 Nicht-lineare Verläufe
  • 10.2.1 Quadratisches Modell
  • 10.2.2 Sinusförmiges Modell
  • 10.3 Speichelcortisol-Konzentration vor und nach dem Unterricht
  • 10.3.1 Klassenspezifische Unterschiede
  • 10.3.2 Gruppenspezifische Unterschiede
  • 10.3.3 Prädiktoren vor- und nach-unterrichtlicher Cortisol-Konzentration
  • 11 Analyse der unterrichtlichen Rahmenbedingungen
  • 11.1 Unterrichtsorganisation und unterrichtsbezogene Aktivitäten
  • 11.2 Soziale Interaktionen im Unterricht
  • 11.2.1 Sprechakte, spezifische Interaktionsmuster und Lernobjekte
  • 11.2.2 Unterschiede hinsichtlich interaktionaler Parameter
  • 11.2.2.1 Unterrichtsbezogene Sprechakte
  • 11.2.2.2 IRF-Sequenzen und Lernobjekte
  • 11.2.2.3 Schülerbezogene Korrelate der Unterrichtsbeteiligung
  • 11.2.3 Nachdenk- und Antwortzeiten
  • 11.3 Beobachtungsbasiertes Rating ausgewählter Unterrichtsmerkmale
  • 11.4 Zusammenhänge zwischen den Beobachtungsdimensionen
  • 11.5 Zeitliche Verteilung lehrer- und schülerzentrierter Phasen
  • 11.5.1 Häufigkeitsverteilung pro Klasse und Untersuchungstag
  • 11.5.2 Tagesspezifische Verläufe
  • 11.5.3 Sichtstrukturen und nach-unterrichtliche Cortisol-Konzentration
  • 12 Analyse der kardiovaskulären Parameter
  • 12.1 Korrelative Zusammenhänge
  • 12.2 Cortisol-Konzentration als Prädiktor kardiovaskulärer Aktivität
  • 12.3 Unterschiede hinsichtlich kardiovaskulärer Parameter
  • 12.3.1 Klassenspezifische Unterschiede
  • 12.3.2 Unterschiede nach Achievement-Gruppe
  • 12.3.3 Unterschiede nach Achievement-Gruppe und Klasse
  • 12.4 Kardiovaskuläre Aktivität im Unterrichtsprozess
  • 12.4.1 Sichtstrukturen und kardiovaskuläre Parameter
  • 12.4.2 Kardiovaskuläre Aktivität und lehrer-/schülerzentrierte Phasen
  • 13 Analyse des subjektiven Unterrichtserlebens
  • 13.1 Korrelative Zusammenhänge auf Basis gemittelter Erlebensdaten
  • 13.2 Unterschiede hinsichtlich des subjektiven Erlebens
  • 13.2.1 Gruppenspezifische Erlebensunterschiede
  • 13.2.2 Klassenspezifische Unterschiede
  • 13.2.3 Unterschiede nach Achievement-Gruppe und Klasse
  • 13.3 Fähigkeitsselbstkonzept und Emotionsregulation als Prädiktoren subjektiven Erlebens
  • 13.3.1 Fähigkeitsselbstkonzept als Mediator
  • 13.3.2 Fähigkeitsselbstkonzept als Kovariate
  • 13.4 Einschätzung des Schülererlebens seitens der Lehrkraft
  • 13.5 Überlegungen zu Leistung, Fähigkeitsselbstkonzept, subjektivem Erleben und Unterrichtsinteraktion vor dem Hintergrund erwartungswidriger Minderleistung
  • 13.6 Gruppenspezifische lineare Erlebenstrends
  • 13.7 Zeitreihenanalysen zum Erleben von Underachievern
  • 13.7.1 Erlebensspezifische Prädiktoren
  • 13.7.2 Klassenspezifische Unterschiede hinsichtlich ausgewählter Einflussfaktoren
  • 13.7.3 Einflussfaktoren auf das Bewältigungserleben
  • 13.7.4 Kreuzkorrelative Analysen
  • 13.7.4.1 TraLe-Underachiever
  • 13.7.4.2 SoLe-Underachiever
  • 13.8 Faktoranalytische Identifikation zentraler Erlebensdimensionen
  • 13.8.1 Faktorextraktion, Reliabilität und deskriptive Beschreibung
  • 13.8.2 Gruppenspezifische Differenzen
  • 14 Analysen zu situationsbezogenen und physiologischen Korrelaten subjektiven Erlebens
  • 14.1 Belastungserleben, Ressourcen und Unterrichtsgestaltung
  • 14.1.1 Zusammenhänge zwischen Erleben und Sichtstrukturen
  • 14.1.2 Ressourcen als Moderatoren zwischen Unterrichtssituationen und Belastungserleben
  • 14.1.2.1 Ergebnisse der Moderatoranalysen
  • 14.1.2.2 Bedingte Regressionsanalysen
  • 14.1.3 Kreuzkorrelative Analysen zwischen unterrichtlichen Sichtstrukturen und situativem Erleben von Underachievern
  • 14.1.4 Überlegungen zu personenbezogenen Ressourcen, Lehr-Lern-Prozessen und der Identitätsentwicklung
  • 14.1.5 Untersuchungstagesspezifisches subjektives Erleben
  • 14.2 Subjektives Erleben und Cortisol-Konzentration
  • 14.3 Belastungserleben und kardiovaskuläre Aktivität
  • 14.4 Integrierte Analyse hinsichtlich unterschiedlicher Datenebenen
  • 14.4.1 Mehrebenenanalytischer Zugang
  • 14.4.2 Befunde der mehrebenenanalytischen Auswertung
  • V Diskussion der Ergebnisse und Ausblick
  • 15 Forschungsmethodische Diskussion
  • 16 Zusammenfassung zentraler Ergebnisse
  • 17 Implikationen für die Unterrichtspraxis
  • 18 Offene Forschungsfragen
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang

← XIV | XV → Abkürzungsverzeichnis

A

Achiever

ACTH

Adrenocorticotropes Hormon

ATI

Aptitude-Treatment-Interaction

BGP

Betriebswirtschaftliche Geschäftsprozesse

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CCF

Kreuzkorrelationskoeffizienten

CFT

Culture Fair Test (Weiß & Weiß 2006)

Cort.

Cortisol

CRF

Corticotropin-Releasing-Factor

CSSM

Continuous-State-Sampling-Method

DEX

Dexamethason

ebd.

ebenda

d. h.

das heißt

EEG

Elektroenzephalogramm

EKG

Elektrokardiogramm

EMG

Elektromyographie

ESM

Erlebens-Stichproben-Methode

fMRT

Funktionelle Magnetresonanztomographie

FSK

Fähigkeitsselbstkonzept

GMM

Growth Mixture Modeling

HF

Hohe Frequenzen

HHNA

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse

HR

Herzrate (synonym: Herzfrequenz)

HRV

Herzratenvariabilität (synonym: Herzfrequenzvariabilität)

Hz

Hertz

ICC

Intraklassenkorrelation

KPE

Konstruktiv-palliative Emotionsregulation

KSK

Kaufmännische Steuerung und Kontrolle

K-S-Test

Kolmogorov-Smirnov-Anpassungstest

LRS

Lese-Rechtschreib-Schwäche

l

Liter

LF

Niedrige Frequenzen

LF/HF

Quotient aus LF und HF

M

Mittelwert

← XV | XVI → Max

Maximum

MB

Merkmalsbereich

MDE

Mobile Dateneingabe

Min

Minimum

min

Minute

ml

Milliliter

mmHg

Millimeter-Quecksilbersäule

ms

Millisekunden

MZP

Messzeitpunkt

n

Teilstichprobe

N

Gesamtstichprobe

ng

Nanogramm

NN

zeitlicher Abstand zwischen zwei Herzschlägen

mmol

Nanomol

o. A.

ohne Angabe

OA

Overachiever

OR

Odds-Ratio

p

Signifikanzniveau (auch: Sig.)

PANAS

Positive and negative Affect Schedule

PET

Positronen-Emissions-Tomographie

rmsSD

Quadratwurzel des quadratischen Mittelwertes der Summe aller Differenzen zwischen benachbarten NN-Intervallen

RTI

Response to Intervention

SD

Standardabweichung

SDNN

Standardabweichung aller NN-Intervalle

SoLe

Selbstorganisiertes Lernen

SWK

Selbstwirksamkeitserwartungen

sog.

sogenannte(n)

TraLe

Traditionelles Lernen

TSST

Trier Social Stress Test

UA

Underachiever

VLF

Sehr niedrige Frequenzen

WBT

Wirtschaftskundlicher Bildungs-Test (Beck & Krumm 1998)

z. B.

zum Beispiel

ZNS

Zentrales Nervensystem

µV

Mikro-Volt

← XVI | 1 → I Einleitung

1 Themenrelevanz und Problemstellung

Unter der individuellen Entwicklung im Rahmen der berufsschulischen Lernumwelt versteht Wittmann (2009, 48) die identitätsbezogene Konstruktion von Wissen in sich wandelnden beruflichen und schulischen Kontexten, welche „in Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Vorrat an Vorstellungen über die Bedeutung von Arbeit und Beruf und ihrer Manifestation in der Organisation von Arbeit“ vonstattengeht. Ein zentrales Ziel beruflicher Bildung wird hierbei in der Ausbildung von Selbstständigkeit und Autonomie der Individuen gesehen, wobei gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu beachten sind (ebd.). Weiter gefasst stellt individuell-kulturelle Entwicklung sowohl das Ergebnis als auch den Ausgangspunkt rückgekoppelter und dynamischer Prozesse „im Wechselwirkungsgefüge von Technik, Ökonomie und Sozialgemeinschaften [dar]“ (Sembill 2008, 83). Nach Sembill (2008) integriert der Entwicklungsbegriff Sozialisations-, Lern- und Reifungsprozesse und erstreckt sich von der Makroeben bis hin zur „Nanoebene“: vice versa. Der Einfluss auf individuelle Lernprozesse ist sowohl als genetisch als auch als gesellschaftlich determiniert anzusehen, ohne exakt bestimmbar zu sein. Individuen finden sich hierbei im Spannungsfeld zwischen ökonomischen, gesellschaftlichen und persönlichen Dispositionen, Ansprüchen und Bedürfnissen wieder, deren Effekte und Wirkungen vor allem in der Institution Schule und der beruflichen Ausbildung deutlich werden und deren Akteure (Schüler, Lehrpersonen, Schulleitungen) beeinflussen (Sembill & Zilch 2010, 260). Auf der Makroebene finden sich Einflussfaktoren, welche sich u. a. auf bestimmte Merkmale milieuspezifischer Settings, auf die Ausbildung von Lehrpersonen oder auf die Gestaltung von Lehrplänen beziehen. Weiterhin spielen auf der Mesoebene spezifische Erziehungsvorstellungen und generelle Lehr-Lern-Konzeptionen eine zentrale Rolle (Achtenhagen 1978, 57; Sembill 2008, 84). Dies wird beispielsweise am Einfluss von Lehrersichtweisen auf deren konkrete Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements sowie anhand von Stereotypen deutlich, wobei in diesem Falle die Mikroebene tangiert wird. So konnte beispielsweise Sembill (1987, 221ff.) zeigen, dass Voraburteile seitens der Lehrkräfte im Unterricht handlungswirksam werden, was sich u. a. auf die Lernobjektzuweisung und somit auf die Zuweisung von Lernchancen auswirkt. Die Befunde von Seifried (2009) liefern wichtige Hinweise darauf, dass sich spezifische Sichtweisen von Lehrpersonen zum einen auf die Wahl der Unterrichtsmethodik auswirken und zum anderen auf unterrichtlicher Prozessebene ← 1 | 2 → wirksam werden, wobei beispielsweise instruktional orientierte Lehrpersonen die Unterrichtskommunikation stärker steuern als dies konstruktivistische Lehrkräfte tun und somit auch die individuelle Unterrichtsbeteiligung von Schülern sowie die Zuweisung von Lernobjekten beeinflussen (ebd., 340f.). Achtenhagen (1978) weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der emotionalen Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden hin. Aus dem Beziehungsaspekt „können sich mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Konsequenzen für die Gefühle der Schüler sich selbst, dem Lehrer und der Schule allgemein gegenüber ergeben, die angst- und streßauslösend bzw. -verstärkend wirken“ (ebd., 144). Individuelle Belastungsreaktionen manifestieren sich wiederum auf der „Nanoebene“ in Form von Veränderungen im peripheren Nervensystem, dem endokrinen System sowie von subjektiven emotionalen Erlebenszuständen (z. B. Lazarus 1966; Kemeny 2003; Hottenrott 2007).

In der wirtschaftspädagogischen Forschung, welche sich nach Achtenhagen (2009, 482) unter anderem auf das Lehren und Lernen im schulischen und betrieblichen Bereich im Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung in der beruflichen Erstausbildung unter Berücksichtigung der unterrichtlichen Mikroebene sowie institutioneller, organisatorischer und politischer Rahmenbedingungen bezieht, steht der Forscher aufgrund der Polyvalenz des Faches unterschiedlichen Spannungsfeldern gegenüber, die es zu berücksichtigen gilt. Hierbei wird ersichtlich, dass die anfänglich an der Lehr- bzw. Ausbildungsperson orientierte empirische Lehr-Lern-Forschung zunehmend die Perspektive der Lernenden einbezieht und diesbezüglich im Sinne eines interaktionistischen Ansatzes auch entsprechende Wechselwirkungen zwischen den Akteuren untereinander sowie mit deren Umwelt mit berücksichtigt (z. B. Sembill 1984, 1992; Scheja 2009; Wuttke 1999, 2005; Seifried 2004a/b, 2009; Rausch 2011). Entsprechende Studien beachten neben der Domänenspezifität der kaufmännischen Ausbildung auch die emotionale Befindlichkeit von Lehrenden und Lernenden, wodurch der Prozesshaftigkeit und Ganzheitlichkeit psychischer Erlebensprozesse entsprechend Rechnung getragen wird (z. B. Achtenhagen 1984; Schumacher 2002; Sembill 2004; Rausch, Scheja, Dreyer, Warwas & Egloffstein 2010; Kögler 2012). Da Entwicklungsprozesse immer auch die physiologische Ebene tangieren, sind im Rahmen der empirischen Lehr-Lern-Forschung außerdem neurowissenschaftliche Forschungsmethoden zu berücksichtigen, da hierdurch gewonnene Erkenntnisse vorliegende erziehungswissenschaftliche Befunde nicht zwangsweise wiederlegen müssen, sondern vielmehr zusätzliche Begründungsstrukturen bieten (z. B. Santjer-Schnabel 2002). Dies erscheint insbesondere deshalb relevant, da beispielsweise der durch eine zunehmende Ökonomisierung der Bildungssysteme sowie durch Medienentwicklungen entstehende Zeitdruck individuelle Belastungsreaktionen ← 2 | 3 → bedingt, was sowohl psychische als auch physiologische Systeme tangiert und eine Weiterentwicklung bestehender Handlungsmuster notwendig macht. Hier gilt es, individuelle psychische und physische sowie soziale Ressourcen zu berücksichtigen und zu fördern, welche unter Beanspruchung die Überschreitung personenbezogener Belastungsschwellen maßgeblich beeinflussen dürften (Sembill & Zilch 2010). Dies wiederum erfordert aus methodisch-didaktischer Perspektive die evidenzbasierte Entwicklung alternativer und ressourcenorientierter Lehr-Lern-Arrangements. Aus wissenschaftlicher Perspektive erscheint diesbezüglich die Entwicklung alternativer Kompetenzmodelle besonders relevant, welche neben rein kognitiven Variablen auch emotionale und motivationale Facetten berücksichtigen (vgl. Sembill, Rausch & Kögler, 2012). Hierzu werden jedoch einerseits entsprechende theoretische Modelle und andererseits adäquate Messverfahren benötigt. Die skizzierten Veränderungen bzw. Entwicklungen fordern somit auch entsprechende Kompetenzen sowohl von Lehrpersonen und Lernenden als auch von Forschenden.

Eine an berufs- und wirtschaftspädagogischen Entscheidungen orientierte Diagnostik beinhaltet neben der individuellen, auf eine persönliche Leistungsentfaltung bezogene, auch eine gesellschaftliche Perspektive, bei welcher es sowohl um Selektions- als auch um Allokationsentscheidungen und somit um Lern- und Lebenschancen geht (Breuer 2006, 194f.). Für die berufliche Bildung, insbesondere in der kaufmännischen Domäne, erscheint hierbei die Leistungsfeststellung hinsichtlich der ökonomischen Grundbildung sowie die Betrachtung von Leistungsdeterminanten besonders bedeutsam, da durch entsprechende Instrumente und Methoden einerseits „Wissens- und Verstehenslücken“ und andererseits emotionale, motivationale und soziale Drittvariablen identifiziert werden können, welche für das mögliche Scheitern „weiterführender Aufbaubemühungen“ verantwortlich zu machen sind (Beck 2000, 215). Einer derartigen Analyse relevanter Einflussvariablen liegt wiederum unter Bezug zu berufsschulischen Lehr-Lern-Prozessen das pädagogische Bemühen zugrunde, „Individuen dabei behilflich zu sein, ihren Platz und ihre Identität in einer im normativen wie technischen Sinne veränderungsfähigen und daher gestaltungsfähigen Gesellschaft zu suchen und zu finden“ (Sembill 1999, 152). Daher besteht eine wesentliche Aufgabe von Forschenden und Lehrenden darin, bei der Entfaltung, Erhaltung und Steigerung individueller Leistungspotenziale unterstützend zu wirken, um hierdurch wiederum einer Vergeudung gesellschaftlicher sowie individueller Ressourcen entgegenzuwirken.

Ein konkreter Ansatzpunkt ist hierbei in der Erforschung des Konstrukts der erwartungswidrigen Minderleistung zu sehen, welches – obwohl von hoher Relevanz gekennzeichnet – in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung erstaunlich unterrepräsentiert erscheint (Ausnahmen stellen beispielsweise ← 3 | 4 → Stamm 2004, Stamm & Stutz 2007, Badel 2008 und Badel 2014 dar). Das Phänomen der erwartungswidrigen Minderleistung, welches mit dem Begriff „Underachievement“ gleichgesetzt ist, beschäftigt die pädagogisch-psychologische Forschung bereits seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, wobei es in erster Linie darum ging, wissenschaftliche Verfahren zur Vorhersage schulischer Leistungen zu entwickeln (Stamm 2007, 12). Hinsichtlich einer systematischen Betrachtung der verwendeten Begrifflichkeiten sowie der statistischen Diagnoseverfahren war die im Jahre 1963 von Thorndike publizierte Arbeit zu den Concepts of Over- and Underachievement richtungsweisend für die Weiterentwicklung des betrachteten Forschungsgegenstandes. Die Themenrelevanz zeigt sich auch in den absoluten Veröffentlichungshäufigkeiten zum Thema Underachievement, welche sich über den Zeitverlauf durch einen stetigen Anstieg auszeichnen (siehe Abbildung 11; siehe auch Marcus 1986 nach Mandel & Marcus 1988, 12; Mandel & Marcus 1988, 11f.).

Abbildung 1: Publikationshäufigkeiten zum Thema „Underachievement“

image

Vor diesem Hintergrund versucht die vorliegende Arbeit in der wirtschaftspädagogischen empirischen Forschungs- und Ideentradition an vorhandene Forschungsbefunde anzuknüpfen und ihren eigenen Beitrag zu leisten. Hierbei stehen Interdependenzen zwischen erwartungswidriger Minderleistung und Belastung im kaufmännischen Unterricht im Zentrum der Betrachtung, wobei insbesondere dem subjektiven (Belastungs-)Erleben von Lernenden sowie physiologischen Belastungsindikatoren vor dem Hintergrund des Unterrichtsprozesses Beachtung geschenkt werden soll. So ist die vorliegende Arbeit aus ← 4 | 5 → einem interdisziplinär ausgerichteten Forschungsprojekt heraus entstanden, um dadurch insbesondere pädagogische, psychologische sowie physiologische Aspekte in die theoretischen und empirischen Analysen einbeziehen zu können. Auf ein interdisziplinäres Forschungsinteresse zum Thema Underachievement weist auch eine Analyse von insgesamt 208 wissenschaftlichen Abstracts mit dem Stichwort Underachievement hin, nach welcher sich die untersuchte Abstract-Stichprobe zu 45 % aus psychologischen, zu 38,6 % aus pädagogischen, zu 9 % aus medizinischen, zu 4,7 % aus soziologischen und zu 2,7 % aus anderen Forschungsarbeiten zusammensetzt (Hertel 2012, 43).

1.1 Thematische Einordnung

Nach der Darlegung von Themenrelevanz und Problemstellung wird in diesem Abschnitt auf den thematischen Hintergrund eingegangen. Hierbei soll verdeutlicht werden, dass Belastung und erwartungswidrige Minderleistung als die beiden für diese Arbeit zentralen Konstrukte, auf unterschiedlichen Analyseebenen diskutiert und untersucht werden müssen, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten. Aus zeitlicher Perspektive gesehen, sind sowohl relativ stabile individuelle Eigenschaften als auch situationsspezifische Zustände zu berücksichtigen. Aus einer ontologischen Perspektive sind somit neben Physis und Psyche auch lernumweltspezifische Merkmale zu betrachten.

Die Problematik, dass manche Schüler erwartungswidrige schulische Leistungen2 erbringen, ist sowohl der pädagogisch-psychologischen Forschung als auch den Schulpraktikern seit langem bekannt, verliert jedoch in Anbetracht der Förderung und Erhaltung individueller und gesellschaftlicher Leistungsressourcen nichts an ihrer Brisanz. So wird in diesem Zusammenhang zwischen den Konstrukten Underachievement und Overachievement unterschieden (Sparfeldt & Schilling 2006, 804). Erwartungswidrige Minderleister zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie verhältnismäßig geringe schulische Leistungen erbringen, obwohl sie über die notwendigen intellektuellen Grundfähigkeiten verfügen (McCall, Evahn & Kratzer 1992, 139; Preckel, Holling & Vock 2006, ← 5 | 6 → 403). Bei Overachievern verhält es sich umgekehrt, ihre Leistungen sind höher als es ihr intellektuelles Leistungsvermögen erwarten ließe (Klauer 1990, 300). Interventionsbedarf besteht somit in der Regel nur bei Underachievern (ebd.), da diese in ihren externalisierten bzw. tatsächlichen Leistungen zurückbleiben.3 Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als dieser Umstand mitunter negative Auswirkungen auf Lern- und somit Lebenschancen zur Folge hat. Unter Berücksichtigung gängiger statistischer Identifikationsverfahren, welchen entsprechende Grenzwerte zugrundliegen, ist davon auszugehen, dass ca. 12 bis 15 % aller Lernenden als erwartungswidrige Minderleister zu bezeichnen sind, welches sich im Vergleich zu entsprechenden Kontrollgruppen meistens zum Nachteil der Underachiever auswirkt (Hanses & Rost 1998, 54, 68; Sparfeldt, Schilling & Rost 2006, 214).

Bei der Frage nach möglichen Ursachen erwartungswidriger Minderleistung kommt man zwangsläufig auf die Frage nach der generellen Determination schulischer Leistungen zurück. Hierbei ist davon auszugehen, dass Schulleistungen multifaktoriell bedingt sind (Helmke & Weinert 1997) und es zu kurz gegriffen erscheint, lediglich die Intelligenz im Sinne eines kognitiven Faktors als einzige relevante Größe für das Zustandekommen schulischer Leistungen anzunehmen (Zöller 2009, 97ff.). Dies auch gerade deshalb, da davon auszugehen ist, dass Kompetenz im Sinne des vorzufindenden Leistungspotenzials kein eindimensionales, sondern vielmehr ein facettenreiches Konstrukt darstellt, welches neben rein kognitiven auch emotionale und motivationale Aspekte integriert (Sembill, Rausch & Kögler 2013). Somit sollten auch nicht-kognitive4 Persönlichkeitseigenschaften berücksichtigt werden, wie dies beispielsweise ← 6 | 7 → Heller (2000, 25) im Zusammenhang mit seinem Begabungsmodell formuliert: „Gerade diese personeninternen […] Moderatorvariablen verdienen […] besondere Aufmerksamkeit in der Einzelfallhilfe, etwa der Underachievementdiagnose […] Bloße IQ-Messungen taugen hierfür nur selten.“ Er sieht gerade nicht-kognitive Persönlichkeitsvariablen als wichtige Moderatoren für die Umsetzung von Begabung in Leistung (Heller 2000, 24f.). Eine erfolgreiche Umsetzung von Potenzial in Leistung im Sinne einer Begabungsrealisation ist demnach nur möglich, wenn sowohl die nicht-kognitiven Attribute als auch verschiedene Merkmale der (schulischen) Lernumwelt günstig und förderlich ausgeprägt sind (Ziegler & Perleth 1997, 157; Perleth & Ziegler 1997, 105). Demnach wird angenommen, dass erwartungswidriger Minderleistung unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, welche sowohl in der Person als auch in der Umwelt zu suchen sind.

Hierbei sind bestimmte Eigenschaften hervorzuheben, welche Underachievern zugeschrieben werden. In der Literatur werden diesbezüglich beispielsweise ein niedriges Fähigkeitsselbstkonzept, eine geringe Leistungsmotivation oder eine erhöhte Leistungsängstlichkeit genannt (z. B. Borkowski & Thorpe 1994, 48f.; McCoach & Siegle 2003, 416). Ein weiterer Aspekt, welcher in der Forschung im Zusammenhang mit Underachievement derzeit nur untergeordnete Beachtung findet, ist der individuelle Umgang mit und das Erleben von Belastung bzw. Stress. Diese Facette darf insbesondere deshalb nicht außer Acht gelassen werden, da die Umsetzung von Begabung in Leistung u. a. von spezifischen Stressbewältigungsfähigkeiten abhängig ist (Heller & Hany 1986, 69f.; Heller & Rindermann 2010, 251f.). Lempp beschrieb 1969 (191ff.) den „normalbegabten Schulversager“, der nicht aufgrund seiner fehlenden Intelligenz, sondern aufgrund bestimmter Belastungsfaktoren in der Schule scheitere und dessen „oft nur verschüttete und unnötig gehemmte Leistungsfähigkeit“ es zur Entfaltung zu bringen gilt (ebd., 199). Perleth & Sierwald (2001, 285; siehe auch Heller, Hany, Perleth & Sierwald 2010, 28) fanden beispielsweise durch eine Befragung heraus, dass die Denkabläufe von Underachievern in Stresssituationen störungsanfälliger sind als dies bei anderen Personen der Fall ist. Dieser Befund erscheint kongruent zu neurophysiologischen Untersuchungen, wie beispielsweise von Fujiwara & Markowitsch (2003) und Piefke & Markowitsch (2011). Die Forscher konnten empirisch belegen, dass der Prozess der Signalübertragung im Zentralnervensystem unter Dauerbelastung leidet und somit die Gedächtnisperformanz nachlässt. Kuhlmann, Piel & Wolf (2005, 2977) fanden in ihrer Untersuchung einerseits heraus, dass die Induktion eines Stressors den Abruf von Gedächtnisinhalten signifikant beeinträchtigt. Andererseits ging die Stressinduktion signifikant mit einem Anstieg des Steroidhormons Cortisol ← 7 | 8 → einher. Oei, Everaerd, Elzinga, van Well & Bermond (2006, 133, 139) stellten in ihrer Studie fest, dass Stress zum Anstieg des Cortisol-Levels und zur Erhöhung von Herzrate und Blutdruck führt. Weiterhin können nicht zu bewältigende Belastungen die Performanz des Arbeitsgedächtnisses und insbesondere den Abruf von gespeicherten Informationen beeinträchtigen (ebd.).

Neben individuellen Eigenschaften nimmt die schulische Lernumgebung bei der Begünstigung von Underachievement einen hohen Stellenwert ein (Stamm 1992, 79f.; Baker, Bridger & Evans 1998, 11f.). In diesem Zusammenhang stellen Sparfeldt & Schilling (2006) die Frage, ob „Underachievement gar ein völlig unspezifischer Indikator suboptimaler Lehr-Lernprozesse und Lehr-Lernumgebungen“ sei (ebd., 811). In diese Richtung argumentierte bereits Lempp (1969), der in seiner Untersuchung u. a. „schulische Mißstände“ (ebd., 195) für das Schulversagen des normal begabten Kindes verantwortlich macht, diese jedoch nicht näher spezifiziert. Ziegler, Dresel & Schober (2000, 260) sowie Vock, Gauck & Vogl (2010, 3) machen darauf aufmerksam, dass es spezifischer Merkmale des schulischen Lernumfeldes bzw. günstiger schulischer und unterrichtlicher Rahmenbedingungen bedarf, damit sich Begabung auch in guten schulischen Leistungen bemerkbar macht. Auch sollen starre und einengende unterrichtliche Abläufe die Begabungsentfaltung hemmen bzw. verhindern und können somit Underachievement fördern bzw. verstärken (Stamm 1992, 79f.). Da sich Underachievement hauptsächlich im unterrichtlichen Umfeld manifestiert, verwundert es, dass das Augenmerk bisher nicht primär auf unterrichtsspezifische Bedingungen gelegt wurde (Stamm 2007, 21, 24). Gerade vor dem Hintergrund fundierter empirischer Ergebnisse, welche den Zusammenhang zwischen emotionalem, motivationalem, kognitivem Erleben, unterrichtsmethodischen Rahmenbedingungen und der schulischen Leistungsentfaltung belegen (z. B. Sembill 2004), stellt die defizitäre prozessanalytische Betrachtung der Underachievement-Thematik ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale sowie das situationsspezifische Erleben auf die schulische Leistung auswirken, erscheint eine prozessanalytische Betrachtung des Underachievement-Syndroms auf einer unterrichtlichen Mikroebene daher angebracht. Stamm (2008) liefert in diesem Kontext Untersuchungsbefunde zum Zusammenhang zwischen Underachievement und schulischen bzw. unterrichtlichen Faktoren. In ihrer Studie analysierte sie die Selbsteinschätzung von Underachievern durch die zwei schulbezogenen Variablen Beziehung zu Lehrkräften und stoffliche Herausforderung (ebd., 76). Sie fand heraus, dass die genannte Schülergruppe in Bezug auf die Lehrer-Schüler-Beziehung im Vergleich zu der Gruppe der Achiever schlechtere Ergebnisse erzielte. Bezogen auf die stoffliche Herausforderung kann ← 8 | 9 → festgehalten werden, dass die Minderleister in der zitierten Studie eher unterfordert waren (ebd., 77). Ähnliche Ergebnisse zeigte eine frühere Studie aus dem amerikanischen Raum. So fanden Baker, Bridger & Evans (1998, 5ff.) heraus, dass schulische Variablen einen signifikanten Einfluss auf das zugrundegelegte Underachievement-Modell hatten.

Die vorangehenden Ausführungen versuchen zu verdeutlichen, dass erwartungswidrige Minderleistung einem mehrdimensionalen Ursachengefüge zugrunde liegt, welches nach Badel (2008) „aus einer interdependenten Anpassung zwischen dem sich entwickelnden Individuum und den sich verändernden Umwelten besteht.“ Hierbei beeinflussen sowohl personenbezogene Variablen als auch Merkmale und Eigenschaften der (schulischen) Umwelt die individuellen Entwicklungswege erwartungswidriger Minderleister, welche sehr sensibel auf ihre Umwelt zu reagieren scheinen und deren Entwicklungsblockaden möglicherweise Ausdruck einer partiellen oder generellen Fehlanpassung darstellt (ebd.)

In diesem Zusammenhang offenbaren sich Parallelen zwischen Belastungs-/Stress- und Minderleistungsforschung darin, dass in beiden Bereichen defizitär ausgeprägte bzw. nicht vorhandene persönliche und (lern-)umweltbezogene Ressourcen eine große Rolle zu spielen scheinen. So wird einerseits erlebte Belastung dann zu Stress, wenn individuelle oder (lern-)umweltbezogene Ressourcen entweder nicht ausreichen oder diese hinsichtlich einer adäquaten Bewältigung als defizitär bewertet werden (Lazarus 1966; Lazarus & Launier 1981; Lazarus 1999). Andererseits bedarf es sowohl günstig ausgeprägter personen- (z. B. Stressbewältigungsfähigkeiten, Fähigkeitsselbstkonzept) als auch umweltbezogener Moderatorvariablen (z. B. Handlungsspielräume) um gegebenes Potenzial in eine angemessene Leistung umsetzen zu können (Heller & Hany 1986; Heller 1992, 21). Nachfolgend sollen entsprechende Interdependenzen exemplarisch anhand einer im Bereich des schulischen bzw. unterrichtlichen Umfeldes wichtigen Facette aufgezeigt werden, die der Zeit (Specht 1977, 23, 57; Kellmer-Pringle 1982, 132). Zöller (2009, 134ff.) weist in diesem Kontext darauf hin, dass Zeit „die wichtigste Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung von Begabung in Leistung“ (ebd., 134) ist. Auch deutet ihrer Ansicht nach vieles darauf hin, „dass Zeitmangel die bedeutsamste bzw. häufigste Ursache von Underachievement ist“ (ebd., 135). Zeitmangel bzw. Zeitdruck stellt neben Überforderung, Unsicherheit und Leistungsdruck wiederum einen spezifischen Belastungsfaktor dar, welcher sich gerade im Unterricht manifestiert (Nitsch & Hackfort 1981, 266; Sembill & Zilch 2010, 260). In einer Studie von Bilz, Hähne & Mälzer (2003) stellte sich zum Beispiel heraus, dass der Unterricht für rund ein Drittel der Schüler zu schnell vonstattengeht, also ein Mangel an Zeit bzw. Zeitdruck vorherrscht (ebd., 253). Dies erscheint in Anbetracht der ← 9 | 10 → Interdependenzen zwischen Belastung und erwartungswidriger Minderleistung beunruhigend. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, innerhalb schulischer Lernumgebungen entsprechende situative Ressourcen für Lernende zu schaffen, welche der empfundenen Belastung entgegengesetzt werden können. Derartige Ressourcen können beispielsweise Zeit- und Methodenspielräume sein (van der Doef & Maes 1999; Jacobshagen & Rigotti 2008, 295), welche jedoch eher in offenen schülerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements als in lehrerzentriertem Unterricht zu vermuten sind (Nitsch & Hackfort 1981).

1.2 Zielstellungen und Vorgehensweise

In Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen liegt dieser Arbeit die zentrale Annahme zugrunde, dass sich Interdependenzen zwischen erwartungswidriger Minderleistung und unterrichtsbezogener Belastung einerseits in einer zeitlichen Perspektive (Produkt, Prozess) und andererseits in einer ontologischen Perspektive (Physiologie, Psyche, Lernumwelt) manifestieren. Um dieser Annahme wissenschaftlich nachzugehen, werden nachfolgend beschriebene Zielstellungen verfolgt:

1Es ist anhand der zugrunde liegenden Daten zu prüfen, ob sich Personen, welche als erwartungswidrige Minderleister klassifiziert wurden, von Schülern, welche dieser Gruppe nicht zuzuordnen sind, hinsichtlich psychischer belastungsbezogener Merkmale sowie ausgewählter persönlichkeitsbezogener Dispositionen unterscheiden und ob hierbei spezifische Interdependenzen zwischen ausgewählten Eigenschaften vor dem Hintergrund der Gruppenzugehörigkeit zu verzeichnen sind.

2Abgesehen von relativ zeitstabilen psychischen Merkmalen soll das subjektive emotionale, motivationale und kognitive Erleben betrachtet werden. In diesem Kontext ist überdies zu prüfen, ob Interdependenzen zwischen psychologischen Trait- und State-Variablen nachgewiesen werden können.

3Auf physiologischer Ebene werden sowohl relativ zeitstabile Attribute in Form der Cortisol-Baseline als auch situationsabhängige Zustände bezogen auf Parameter des kardiovaskulären Systems fokussiert. Entsprechende Interdependenzen werden vor dem Hintergrund der erwartungswidrigen Minderleistung erforscht.

Details

Seiten
XVI, 498
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054743
ISBN (ePUB)
9783653972443
ISBN (MOBI)
9783653972436
ISBN (Hardcover)
9783631659892
DOI
10.3726/978-3-653-05474-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Mehrebenenanalyse Unterrichtsbeobachtung Stressbewältigung Fähigkeitsselbstkonzept
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XVI, 498 S., 127 Tab., 71 Graf.

Biographische Angaben

Tobias Kärner (Autor:in)

Tobias Kärner studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Hof/Saale sowie Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik in Bamberg und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg tätig.

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Titel: Erwartungswidrige Minderleistung und Belastung im kaufmännischen Unterricht
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