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Die Entwicklung der gütlichen Streitbeilegung in China im Lichte der deutschen Erfahrung bezüglich des Prozessvergleichs

von Sisi Liu (Autor:in)
©2015 Dissertation 214 Seiten

Zusammenfassung

Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozess. Auf dieses Sprichwort trifft man sowohl im westlichen als auch im asiatischen Kulturkreis. Die Autorin widmet sich in ihrem Buch dem Prozessvergleich, welcher die friedliche und harmonische Prozessbeendigung durch das Zusammenwirken der Parteien und des Gerichts bezweckt. Allerdings ist dieses Rechtsinstitut in Deutschland und in China nicht einheitlich geregelt. In diesem Buch untersucht und vergleicht die Autorin den Prozessvergleich als Methode außergerichtlicher Streitbeilegung in beiden Ländern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung
  • A. Ausgangspunkt und Fragestellung der Arbeit
  • B. Gang und Ziel der Untersuchung
  • C. Vergleichende Perspektive
  • Teil Eins Grundlagen des Prozessvergleichs
  • § 2 Begriffsbestimmungen des Prozessvergleichs und anderer außergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen
  • A. Der Prozessvergleich
  • I. Deutschland
  • II. China
  • B. Der außergerichtliche Vergleich
  • I. Deutschland
  • II. China
  • C. Die Schiedsgerichtsbarkeit
  • I. Deutschland
  • II. China
  • § 3 Abgrenzung des Prozessvergleichs von anderen außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen
  • A. Der Prozessvergleich und der außergerichtliche Vergleich
  • I. Deutschland
  • II. China
  • B. Der Prozessvergleich im Vergleich zu der Schiedsgerichtsbarkeit
  • I. Deutschland
  • II. China
  • § 4 Die Rechtsnatur des Prozessvergleichs
  • A. Die materiell-­rechtliche Theorie
  • B. Die prozessuale Theorie
  • C. Die Lehre vom Doppeltatbestand
  • D. Die Lehre von der Doppelnatur
  • E. Analyse der Rechtsnatur am Beispiel eines BGH Urteils
  • F. Stellungnahme
  • Teil Zwei Zu der konkreten Regelung des Prozessvergleichs in Deutschland und China
  • § 5 Der Prozessvergleich in Deutschland
  • A. Grundzüge der historischen Entwicklung des Prozessvergleichs in Deutschland
  • I. Das römische Recht
  • II. Der Vergleich im langobardischen Prozess
  • III. Das Mittelalter
  • IV. Die Entwicklung in den deutschen Territorien
  • B. Die Regelung des Prozessvergleichs
  • I. Rechtslage bis zur Zivilprozessreform 2002
  • II. Aktuelle Rechtslage und gesetzliche Regelung
  • C. Voraussetzungen des Prozessvergleichs
  • I. Anhängiges Streitverfahren vor einem deutschen Gericht
  • II. Rechtshängigkeit
  • III. Parteien
  • 1. Parteifähigkeit
  • 2. Prozessfähigkeit/Geschäftsfähigkeit
  • IV. Streitgenossenschaft
  • V. Dritte
  • VI. Anwaltszwang
  • 1. Anwaltliche Vertretung der Vergleichsparteien
  • 2. Anwaltliche Vertretung des Dritten
  • VII. Vergleichsinhalt
  • 1. Prozessbeendigungsvereinbarung
  • 2. Materiell-­rechtliche Vereinbarung
  • VIII. Widerrufsvorbehalt
  • IX. Formerfordernisse
  • 1. Grundsatz: gerichtliche Protokollierung
  • 2. Gerichtlicher Beschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO
  • a. Schriftlicher Prozessvergleich allgemein
  • b. Zwei Wege zum Vergleichsvertrag
  • i. Vergleichsvorschlag der Parteien
  • ii. Vergleichsvorschlag des Gerichts
  • D. Das Zustandekommen des Prozessvergleichs
  • I. Vergleichsgrundlage
  • II. Güteversuch und Güteverhandlung
  • III. Das Persönliche Erscheinen und Säumnis
  • IV. Sechs Phasen beim Zustandekommen des Prozessvergleichs nach Röhl
  • E. Wirkungen des Prozessvergleichs
  • I. Materiell-­rechtliche Wirkung
  • II. Prozessrechtliche Wirkung
  • F. Rechtskraft
  • G. Die Unwirksamkeit eines Prozessvergleichs und ihre Geltendmachung
  • I. Allgemein
  • II. Unwirksamkeitsgründe
  • 1. Irrtum über die Vergleichsgrundlage, § 779 Abs. 1 BGB
  • 2. Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB
  • 3. Irrtumsanfechtung nach §§ 119, 142 Abs. 1 BGB
  • 4. Anfechtung nach § 123 BGB
  • III. Geltendmachung eines materiell unwirksamen Prozessvergleichs
  • 1. Geltendmachung im Ausgangsverfahren/in einem neuen Verfahren
  • 2. Abänderungsklage
  • 3. Vollstreckungsabwehrklage
  • 4. Rechte aus § 826 BGB
  • H. Der Prozessvergleich im internationalen Kontext
  • I. Das anwendbare Recht
  • II. Die internationale Zuständigkeit zum Abschluss eines Prozessvergleichs
  • III. Die Vollstreckung eines Prozessvergleichs
  • I. Kosten des Prozessvergleichs
  • I. Die Gerichtskosten im Rahmen des Prozessvergleichs
  • II. Die Rechtsanwaltskosten im Rahmen des Prozessvergleichs
  • III. Sonderkonstellation: Erweiterung des Prozessvergleichs auf nicht rechtshängige Ansprüche
  • IV. Kostenregelung
  • J. Analyse an Beispielen
  • I. Erster Fall
  • 1. Problemstellung
  • 2. Lösung
  • II. Zweiter Fall
  • 1. Problemstellung
  • 2. Lösung
  • III. Dritter Fall
  • 1. Problemstellung
  • 2. Lösung
  • IV. Vierter Fall
  • 1. Problemstellung
  • 2. Lösung
  • § 6 Prozessvergleich in China
  • A. Eigene Tradition und Entwicklung der Rechtskultur
  • I. Eigene Tradition der Rechtskultur
  • 1. Li und Fa
  • 2. Recht des vormodernen China
  • a. Rezeption des ausländischen Rechts
  • b. Besonderheiten
  • 3. Recht des modernen Chinas
  • 4. Rechtskreis des chinesischen Rechts
  • a. Einordnung der Rechtskreise nach Zweigert und Kötz
  • b. Diskussion
  • i. Unterschied zwischen geschriebenem Recht und Fallrecht
  • ii. China
  • II. Entwicklung der Rechtskultur
  • 1. Rechtsrezeption
  • a. Allgemeines über die Rechtsrezeption
  • b. Rechtsrezeption im Fall Chinas
  • 2. Rechtsstaat
  • a. Allgemein
  • b. Rechtsstaat und Rechtskultur
  • c. Rechtsstaat und deutsche Erfahrung
  • B. Entwicklung des Zivilprozessrechts und des Prozessvergleichs
  • I. Entwicklung des Zivilprozessrechts
  • 1. Die Entwicklung seit 1978
  • 2. Entwicklung seit dem Erlass des Zivilprozessgesetzes im Jahre 1991
  • II. Entwicklung des Prozessvergleichs
  • 1. Die Vergleichsidee in historischem und vormodernem China
  • 2. Gegenwärtige Entwicklung der Schlichtung
  • 3. Regelung des Prozessvergleichs
  • 4. Vollstreckung des Prozessvergleichs in China
  • 5. Stellungnahme
  • § 7 Vergleichsgrundlage und Entwicklung des Prozessvergleichs in beiden Länder
  • A. Unterschied der Kultur als Vergleichsgrundlage
  • B. Einfluss der Grundlage
  • C. Stellungnahme
  • Teil Drei Der Prozessvergleich aus verschiedenen Perspektiven
  • § 8 Der Prozessvergleich aus der Perspektive des Richters, des Anwalts und der Parteien
  • A. Richter
  • I. Die Entscheidung für oder gegen die Schlichtung
  • II. Die Durchführung der Schlichtung durch den Richter
  • III. Information statt Manipulation: Die Grenzen der richterlichen Tätigkeit
  • IV. Stellungnahme
  • B. Anwalt
  • I. Die allgemeine Rolle des Anwalts bei der gütlichen Streitbeilegung
  • II. Die inneren Überlegungen des Anwalts bei dem Versuch der gütlichen Konfliktbeilegung
  • III. Die Überzeugung des Mandanten durch den Anwalt
  • C. Parteien
  • D. Rollenverteilung bei der gütlichen Streitbeilegung im Rahmen der Privatautonomie
  • I. Die Rollenverteilung zwischen Richter und Partei
  • II. Das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant
  • § 9 Schlichten und Richten im Vergleich
  • A. Prozesszweck
  • I. Richten
  • II. Prozessvergleich
  • III. Rechtsfrieden
  • 1. Zwei gegenteilige Meinungen
  • 2. Vertreter der zwei Modelle
  • 3. Stellungnahme
  • B. Zur einvernehmlichen Beilegung geeignete Fälle
  • § 10 Die Vor-­ und Nachteile des Prozessvergleichs
  • A. Vorteile des Prozessvergleichs
  • I. Vorteile im Allgemeinen
  • II. Diskussion über die Effizienz des Verfahrens
  • 1. Diskussion über das Sparen von Kosten
  • 2. Diskussion über die Zeitersparnis
  • B. Nachteile des Prozessvergleichs
  • § 11 Der Prozessvergleich in internationaler Hinsicht
  • A. Der Prozessvergleichs in der Rechtsvergleichung
  • I. Rechtskreis des Civil Law
  • II. Rechtskreis des Common Law
  • III. Direkter Vergleich zwischen Common Law und Civil Law Staaten am Beispiel der U.S.A. und Deutschland
  • IV. China
  • B. Internationaler Trend zum Prozessvergleich
  • § 12 Ausblick für den chinesischen Zivilprozess
  • § 13 Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

← 14 | 15 → § 1 Einleitung

A. Ausgangspunkt und Fragestellung der Arbeit

„Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozess.“1 Auf dieses Sprichwort trifft man sowohl im westlichen als auch im asiatischen Kulturkreis. Denn der Prozessvergleich ist als historisch gewachsene Form der Streitbeilegung international anerkannt. Es geht um die friedliche und harmonische Prozessbeendigung durch das Zusammenwirken der Parteien und des Gerichts. Durch den Prozessvergleich wird die Streitigkeit oder die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis für die Zukunft beseitigt.2

Die Aufgabe dieser Arbeit ist es, den Prozessvergleich als Mittel gütlicher Streitbeilegung in Deutschland und in China zu untersuchen und zu vergleichen.

B. Gang und Ziel der Untersuchung

Die Untersuchung umfasst drei Teile. Zunächst wird auf die Grundlage des Rechtsvergleichs eingegangen, danach auf die Ausgestaltung des Prozessvergleichs und schließlich folgt eine rechtsvergleichende Betrachtung.

Im ersten Teil wird zunächst der Begriff des Prozessvergleichs erörtert sowie eine Abgrenzung zu anderen Formen gütlicher Streitbeilegung in Deutschland und China vorgenommen. Anschließend folgt ein kurzer Überblick über die zur Rechtsnatur des Prozessvergleichs vertretenen Theorien. Dabei sollen die materiell-rechtliche Theorie, die prozessuale Theorie und die Theorie vom Doppeltatbestand des Prozessvergleichs sowie die Theorie der Doppelnatur des Prozessvergleichs erörtert werden. Zugleich wird zu diesen Theorien kritisch Stellung genommen werden.

Im zweiten Teil wird die Ausgestaltung des Prozessvergleichs in Deutschland und in China erörtert.

Zuerst wird der Prozessvergleich in Deutschland erläutert. Dabei wird zunächst auf die Grundzüge der historischen Entwicklung des Prozessvergleichs eingegangen. Danach wird die Regelung des Prozessvergleichs im geltenden Recht dargestellt. Anschließend werden die materiell- und prozessrechtlichen Voraussetzungen sowie das Zustandekommen des Prozessvergleichs und seine Wirkungen erläutert. Weitergehend werden die Fragen der Rechtskraft und der ← 15 | 16 → Unwirksamkeit aus prozessualen und materiellen Gründen sowie der Geltendmachung etwaiger Mängel des Prozessvergleichs erörtert. Im Anschluss werden die Möglichkeiten sowie die Grenzen der Anerkennung und Vollstreckung eines nach deutschem Recht geschlossenen Prozessvergleichs in der internationalen Praxis untersucht. Dann wird auf die Kosten des Prozessvergleichs in Deutschland eingegangen. Schließlich wird durch die Darstellung von Fallbeispielen die Praxis dargestellt.

Diese Untersuchung wird danach in Bezug auf das chinesische Recht fortgesetzt. Zunächst wird die historische Entwicklung in China unter besonderer Berücksichtigung der Rechtskultur erörtert, daraufhin die aktuelle Gesetzeslage des Prozessvergleichs und ihre Auswirkungen auf die Anerkennungs- und Vollstreckungsfähigkeit des Prozessvergleichs in China geschildert. Aus dieser Gegenüberstellung der historischen Entwicklung und der gegenwärtigen Gesetzeslage lässt sich die Ausgestaltung dieses Instituts in China erst begreifen. Zuletzt wird das Institut des Prozessvergleichs im Zusammenhang mit den Traditionen und der Rechtskultur Chinas im Vergleich zu Deutschland betrachtet.

Im dritten Teil stehen die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen und der chinesischen Regelung des Prozessvergleichs im Mittelpunkt. Dabei wird zuerst auf den Prozessvergleich aus den verschiedenen Perspektiven beider Länder eingegangen. Danach wird die klassische Diskussion des Vergleichs von Schlichten und Richten näher betrachtet. Zudem werden die Vor- und Nachteile des Prozessvergleichs diskutiert.

Schließlich werden die Möglichkeiten und Grenzen der Weiterentwicklung des chinesischen Prozessvergleichs im Rahmen der internationalen Entwicklung untersucht. Die rechtsvergleichende Betrachtung stellt die Funktion und Verwirklichung des Prozessvergleichs ins Zentrum der Erörterung.

C. Vergleichende Perspektive

Wo es eine menschliche Gesellschaft gibt, da gibt es entsprechende politische Ordnung. Das Recht erfüllt eine ordnungspolitische Funktion. Daher gibt es in der menschlichen Gesellschaft immer Recht (Ubi societas, ibi ius).3 Dieser Grundsatz gilt in China wie in Deutschland. Dazu bemerkt Friedmann:

„Jedes Recht ist ein Instrument der Gesellschaftsordnung und ist deshalb eng verwoben mit der Struktur der Gesellschaft, die es zu ordnen sucht.“4

← 16 | 17 → Die Rechtsvergleichung dient sowohl der Rechtsfindung als auch der Rechtsauslegung. Durch Rechtsvergleichung können die Juristen Erfahrungen austauschen und neue Gedanken zur Rechtsentwicklung formen.5 Dafür bedarf es einer bestimmten Perspektive, um die Rechtskultur verschiedener Ländern zu vergleichen. In Betracht kommt sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Rechtsvergleichung.6 Horizontale Vergleichung bedeutet, dass bei der Betrachtung auch die eigenen Rechtsinstitute und das eigene Rechtsdenken einbezogen werden; die vertikale Rechtsvergleichung betrachtet die jeweiligen historischen Erfahrungen und ihre Einwirkung auf die Gegenwart.7← 17 | 18 →

________________________

1Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprichwörtern, S. 516 f.

2NK-BGB/Giesler, § 779 Rn. 42; Offermann-Burckart, FPR 2012, 550.

3Gurevich, Kategorien der mittelalterlichen Kultur, S. 188; Rölling, Weil wir überleben wollen, S. 311.

4Friedmann, Recueil des Cours, Bd. 127, S. 39, 47.

5Stürner, FS Rebmann, S. 839 f.

6Heuser, Einführung, S. 28.

7Heuser, Einführung, S. 28; Freedman, The Study of Chinese Society, S. 402.

← 18 | 19 → Teil Eins Grundlagen des Prozessvergleichs

Als Instrument zivilistischer Konfliktbewältigung wird der Prozessvergleich unter mehreren Gesichtspunkten diskutiert. Die Grundlagen des Prozessvergleichs werden in vier Teilen dargelegt. Zuerst wird der Begriff des Prozessvergleichs bestimmt und von anderen Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung abgegrenzt. Anschließend folgt ein kurzer Überblick über die vertretenen Theorien der Rechtsnatur. Am Beispiel eines Urteils des Bundesgerichtshofs wird dann der Theorienstreit über die Rechtsnatur des Prozessvergleichs in seinen praktischen Auswirkungen untersucht. Abschließend erfolgt eine Schlussbetrachtung bzw. eine Stellungnahme.← 19 | 20 →

← 20 | 21 → § 2 Begriffsbestimmungen des Prozessvergleichs und anderer außergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen

Grundsätzlich gibt es zwei Formen für die Streitbeilegung, die durch die Parteien selbst oder durch einen Dritten.8 Welche der beiden Formen die vorherrschende ist, ergibt sich aus der Rechtskultur des jeweiligen Landes.9

A. Der Prozessvergleich

Der Begriff des Prozessvergleichs ist in Deutschland und in China nicht einheitlich definiert, da die Rolle des Gerichts beim Zustandekommen eines Prozessvergleichs in beiden Ländern unterschiedlich ist.

Die Vorgehensweise ist allerdings ähnlich. Nach § 278 der deutschen Zivilprozessordnung10 (nachfolgend: ZPO) „soll“ und nach § 9 des chinesischen Zivilprozessgesetzes11 (nachfolgend: ZPG) „soll“ das Gericht sich bemühen, eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits zu fördern.

I. Deutschland

Zunächst hatte der im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens unter Mitwirkung des Gerichts abgeschlossene Vergleich keinen amtlichen Namen.12 Seit dem Zivilprozessreformgesetz von 2002 nennt das Gesetz in § 278 Abs. 6 ZPO den gerichtlichen Vergleich ausdrücklich. Der Begriff des Prozessvergleichs ist in § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO näher bestimmt.13 Nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO findet die Zwangsvollstreckung „ferner statt: aus Vergleichen, die zwischen den Parteien oder zwischen einer Partei und einem Dritten zur Beilegung des Rechtsstreits seinem ganzen Umfang nach oder in Betreff eines Teiles des Streitgegenstandes vor einem deutschen Gericht oder vor einer durch die Landesjustizverwaltung ← 21 | 22 → eingerichteten Stelle, die gemäß § 118 Abs. 1 S. 3 ZPO oder § 492 Abs. 3 ZPO zu richterlichen Protokoll genommen sind.“

In der deutschen Lehre und Judikatur sowie Rechtsliteratur wird überwiegend der Begriff des Prozessvergleichs verwendet.14 Die Parteien können durch den Prozessvergleich ohne gerichtliche Entscheidung und nur nach ihrem Willen die Rechtshängigkeit beenden.15

II. China

Der Prozessvergleich wird seit mehr als 20 Jahren von verschiedenen Gesetzen und anderen Vorschriften geregelt. Bisher hat sich jedoch kein klarer Terminus des Prozessvergleichs in Gesetzen oder Verordnungen herausgebildet, so dass die begriffliche Differenzierung des Prozessvergleichs von anderen Formen gütlicher Streitbeilegung nicht klar und eindeutig ist.

Um den Prozessvergleich in China zu verstehen, muss man zwingend von dem chinesischen Begriff der Schlichtung ausgehen. Dieser ist nach chinesischem Verständnis weiter als der deutsche Begriff des Prozessvergleichs und umfasst neben dem Prozessvergleich auch andere Formen der gütlichen Streitbeilegung. Die Schlichtung wird häufig folgendermaßen beschrieben:Wenn die Parteien eine Streitigkeit über Zivilsachen durch Schlichtung erledigen möchten, können sie die Durchführung einer Schlichtung vom Volksgericht oder vom Volksschlichtungsorgan beantragen. Wenn das Volksgericht oder das Volksschlichtungsorgan die Aussicht einer gütlichen Beilegung der Streitigkeit sieht, können sie die Parteien darauf hinweisen oder sie überzeugen, um die Prozesslast zu reduzieren.16

Der Begriff des Prozessvergleichs ist in China weder legal definiert noch besteht Einigkeit darüber. Es werden vielmehr verschiedene Auffassungen vertreten.

Wang Liming (Professor an der Renmin Universität Chinas) ist der Ansicht, dass der Prozessvergleich einen zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrag darstellt, der einen bestehenden Streit beenden und ein Wiederaufleben des Streits vermeiden soll.17 Diese Beschreibung umfasst allerdings lediglich die materiell-rechtliche Seite des Prozessvergleichs, enthält hingegen keine prozessrechtliche Bewertung.

← 22 | 23 → Tan Bing (Professor an der Hainan Universität) ist hingegen der Auffassung, dass der Prozessvergleich eine prozessuale Vereinbarung im Prozessverfahren zwischen den Parteien darstellt, durch die sie den Zweck verfolgen, den Streit beizulegen.18 Diese Ansicht weist darauf hin, dass der Prozessvergleich sich im Prozessverfahren ereignen soll. Da diese Definition aber auf die Wirkung des Prozessvergleichs nicht eingeht, bleibt die Bedeutung des Prozessvergleichs unklar.

Eine ähnliche Definition vertreten auch Zhang Wusheng (Professor an der Fudan Universität) und Wu Zeyong (Professor an der Henan Universität). Ihrer Meinung nach stellt der Prozessvergleich eine selbständige Vereinbarung im Verfahren zwischen den beiden Parteien mit dem Ziel, den Streit zu beenden, dar. Nach ihrer These hat der Prozessvergleich nicht dieselbe Wirkung wie ein Urteil, obwohl beide das Verfahren beenden.19

Leider verfügen die oben genannten Meinungen über keine definitorische Qualität, sondern haben eher beschreibenden Charakter.

Der einzige Rechtsgelehrte, der eine konkretere definitorische Begriffsbestimmung vorgeschlagen hat, ist Tang Weijian (Professor an der Renmin Universität Chinas). Dieser definiert den Prozessvergleich wie folgt: Der Prozessvergleich ist eine Vereinbarung, die zwischen den beiden Parteien vor dem Gericht geschlossen wird. Nach Anerkennung durch den Richter muss die Vereinbarung protokolliert oder in Form einer Schlichtungsurkunde erlassen werden, um den Prozess zu beenden.20

Details

Seiten
214
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054590
ISBN (ePUB)
9783653972528
ISBN (MOBI)
9783653972511
ISBN (Paperback)
9783631659823
DOI
10.3726/978-3-653-05459-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
außergerichtliche Streitbeilegung Kulturkreis Prozessbeendigung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 214 S.

Biographische Angaben

Sisi Liu (Autor:in)

Sisi Liu studierte nach ihrem Studium in Peking Rechtswissenschaften in Köln. Nach einem LL.M. Studium promovierte sie an der Universität zu Köln.

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Titel: Die Entwicklung der gütlichen Streitbeilegung in China im Lichte der deutschen Erfahrung bezüglich des Prozessvergleichs
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