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André Gide – Igor Strawinsky: "Perséphone"

Von der Idee zum vollendeten Werk bei Betrachtung der verschiedenen Denkweisen von Schriftsteller und Komponist

von Andrea Hanft (Autor:in)
©2015 Dissertation XXII, 295 Seiten

Zusammenfassung

In Perséphone vereinten zu Beginn der 1930er Jahre mit André Gide und Igor Strawinsky zwei der bedeutendsten Kunstschaffenden ihrer Zeit ihr Können. Diese Studie zielt daher – neben der Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte – auf eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Charaktere, die Darstellung ihrer gedanklichen Nähe auf verschiedenen Ebenen sowie die Offenlegung der gegenseitigen Einflussnahme von Musik und Dichtung im Denken der Künstler. Wenn auch Théodore Strawinsky der Meinung war, dass die Zusammenarbeit seines Vaters mit Gide es nicht vermochte, zwei Naturen einander näherzubringen, «die ein Abgrund voneinander trennte», muss dennoch festgehalten werden, dass eine Übereinstimmung ihres Denkens in wesentlichen Punkten vorhanden ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Überblick
  • Anmerkungen zur Primär- und Sekundärliteratur
  • I. Grundlagen zum Verständnis von Gides Denken und Anmerkungen zum Persephone-Mythos
  • I.1. Stichpunkte zu Gides frühem Lebensweg
  • a) Verschmelzungen
  • b) Die Moral der Entsagung
  • c) „Caméléon“
  • I.2. Die Bedeutung Goethes für Gide und Proserpine / Perséphone
  • a) Goethes Vorbild als Mensch und Dichter
  • b) Goethes Proserpina in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung und Gides erster Tagebucheintrag in Bezug auf den Persephone-Mythos
  • I.3. Die Blume Proserpinas
  • a) Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen und ihr Einfluss auf Gides Le traité du Narcisse und Proserpine
  • b) Le traité du Narcisse: Grundlagen zu Gides Schreibtechnik und seine Vorstellungen über Moral und Kunst
  • Spiegelungen – mise en abyme – Wiederholung / Kreislauf
  • Verknüpfung von Moral und Kunst
  • I.4. Kurzer Überblick über eine Auswahl der wichtigsten (möglichen) Inspirationsquellen Gides hinsichtlich des Persephone-Mythos
  • II. Proserpine
  • II.1. Biographische Notizen und Überblick über erste Annäherungen Gides an den Persephone-Mythos
  • II.2. Verschiedene Ansätze Gides
  • a) Die Granatapfelkerne (1893)
  • b) Proserpina und die Ronde de la grenade
  • c) Orpheus’ Erzählung – „2e acte de Proserpine“
  • d) Proserpine – Fragment eines Dramas von 1899
  • Résumé I
  • II.3. Überblick über Gides Annäherung an das Musiktheater
  • a) Die Entdeckung des Theaters
  • b) Gides Vorstellungen über das Theater – Schwerpunkte
  • c) Erste Erfahrungen mit Raymond Bonheur: Le retour
  • d) Anmerkungen zu Gide und seiner Haltung dem „Gesamtkunstwerk“ gegenüber
  • II.4. Das Projekt Proserpine
  • a) Florent Schmitt
  • b) Strawinsky und die Ballets russes
  • c) Vorgeschmack: Erfahrungen mit Antoine et Cléopâtre
  • d) Paul Dukas
  • II.5. Die Proserpine–Entwürfe
  • Zur Chronologie der verschiedenen Fassungen
  • a) Die Œuvres complètes-Fassung
  • b) Die Ballettfassung
  • Zum Inhalt der Entwürfe
  • a) Die Œuvres complètes-Fassung
  • b) Die Ballettfassung
  • Musik – Tanz – Realisierung auf der Bühne
  • III. André Gide – Igor Strawinsky: Perséphone
  • III.1. Gide: Schriftsteller – Christ – Kommunist?
  • III.2. Überblick über die Entstehung von Perséphone
  • III.3. Gides Libretto
  • a) Zum Inhalt von Perséphone
  • b) Kurze Anmerkungen zu den mythischen Figuren in Perséphone
  • c) Mythos und Klassik
  • d) Goethes Proserpina im Vergleich zu Gides Perséphone
  • Résumé II: Gides Weg von der Idee zum Werk
  • III.4. Zusammentreffen von Gides und Strawinskys Denken über Kunst in Perséphone
  • Grundlagen
  • a) Stichpunkte zu Strawinskys Lebens- und Schaffensweg mit Blick auf André Gide
  • b) Über die geistigen Wurzeln Strawinskys
  • Russland
  • Der Aspekt des Räumlichen: Ost – West
  • Der Aspekt des Zeitlichen
  • c) Einflüsse
  • Strawinskys Vorstellungen über Kunst im Vergleich zu Gide und in Hinblick auf Perséphone
  • a) Religion und Kunst
  • Strawinskys religiöser Weg: Heimat und Religion – Rückkehr zur Kirche
  • „Si le grain ne meurt“ – Tod und Auferstehung
  • Selbstaufopferung – Unterwerfung aus freiem Willen
  • Unterordnung des Künstlers
  • Zwang und Freiheit
  • Exkurs zu Bach
  • Ordnung
  • b) Betrachtungen zum Theater
  • Gesamtkunstwerk – Theatrale Mischform
  • Elemente des Narrativen
  • Strawinsky über die Aufführung von MPerséphone
  • Randnotizen: Oedipus rex – Œdipe – Perséphone
  • Gide, Strawinsky und das Publikum
  • c) Musik und Dichtung
  • Schreiben über das Schreiben
  • Strawinsky und die Dichtkunst
  • Über die Vertonung der Gide’schen Dichtung
  • An Stelle von Entwicklung
  • Der Aufbau von Perséphone
  • Spiegelungen
  • Überlegungen zur Beziehung von Inhalt und Harmonik
  • d) Anmerkungen zur Vorstellung von Zeit und Raum
  • An die Zeit gebunden?
  • Gleichzeitigkeit im unsichtbaren Raum
  • Gleichzeitigkeit im sichtbaren Raum: auf der Bühne
  • Perspektiven
  • Résumé III
  • Literaturverzeichnis

← xiv | xv → Überblick

Die vorliegende Arbeit untersucht die Entwicklung einer Idee über Jahrzehnte hinweg, ausgehend von den Granatapfelkernen Proserpinas, auf die der junge Gide in einer Tagebuchnotiz vom 13. September 1893 eingeht, bis hin zum vollendeten Werk Perséphone, das – von Igor Strawinsky vertont – 1934 uraufgeführt wurde. Dabei wird auf verschiedene damit in Zusammenhang stehende Tagebuchnotizen, Fragmente und Entwürfe sowie auch auf Gides Versuche, sein Projekt Proserpine mit verschiedenen Komponisten zu verwirklichen, eingegangen werden. In einem nächsten Schritt sollen die unterschiedlichen ästhetischen Standpunkte und – soweit dies möglich ist – schreib- wie kompositionstechnischen Vorgehensweisen der Künstler miteinander verglichen und in Hinblick auf die Endfassung (Perséphone), welche die Komposition Strawinskys mit Gides Libretto vereint, analysiert werden.

Der erste Teil stellt den Versuch dar, sich Gides Persephone-Interpretation auf eine andere Art und Weise zu nähern, als dies bislang der Fall war. Verschiedene Stationen, die im Gide’schen Denken mit der Entstehung von Perséphone verbunden sind, sollen betrachtet werden. Dabei wird das Augenmerk einerseits auf die geistige Entwicklung Gides (von der ersten Tagebuchnotiz hin zum vollendeten Werk), andererseits aber auch auf die Flexibilität seines Denkens (Entwürfe / Endfassung) gelenkt werden, die für das Entstehen bzw. für den Wandel seiner Ideen bezüglich des Mythos entscheidend sind. Dabei sei bemerkt, dass im Fall von Gide das Leben des Autors eng mit seinem Werk verbunden ist und seine Werke sich mit Hilfe autobiographischer Kenntnisse tiefer erschließen lassen, als das bei einer Untersuchung, die sich allein um das Werk an sich dreht, der Fall wäre. Daher werden zu Beginn die Grundlagen für das Verständnis von Gides Denkweise vermittelt und die Einflüsse untersucht werden, denen der junge Autor bis zur ersten Erwähnung der Granatapfelkerne in seinem Tagebuch unterlag. Da diese Einflüsse zum einen vielfältiger Natur und zum anderen nicht lückenlos zu benennen sind, beschränkt sich die Arbeit in Hinblick auf das Thema auf einige wesentliche Punkte: Gides soziales Umfeld (dominiert von der Mutter und ihren strengen moralischen Vorstellungen sowie geprägt von dem Verhältnis zu seiner Cousine Madeleine) wird kurz skizziert werden. Damit verbunden ist der tiefgreifende Einfluss der Religion, die in Gides Leben eine große Rolle spielt und deren Bedeutung vor allem auch in der Endfassung von Perséphone zum Tragen kommt. Da der Sündenfall, der mit dem Biss in die verbotene Frucht ausgelöst wird, mit dem Genuss des Granatapfelkerns vergleichbar ist, ← xv | xvi → ist es wichtig, Gides Einstellung zu Religion und moralischen Fragen kennenzulernen, um die Bedeutung seiner Proserpina / Persephone-Interpretation – welche ihn ein Leben lang begleitet hat – richtig einzuschätzen. (Im dritten Teil, welcher sich hauptsächlich mit Strawinsky befasst, wird auch dessen Haltung religiösen Fragen gegenüber untersucht und die grundlegend verschiedenen Positionen der Künstler – welche jedoch beide dem Christentum verbunden waren – dargelegt werden.)

Hervorzuheben ist, dass diese Einflüsse in Gides Denken miteinander verschmolzen sind und eine exakte Trennung der Aspekte, besonders im vorliegenden Fall, einem Verständnis hinderlich scheint.

Ein Gegengewicht zur Religion bildet Gides Entdeckung der heidnischen Welt durch Homers Schriften. Dabei ist ein weiterer wichtiger Punkt die Einflussnahme Goethes, der nicht nur Gides Liebe zur griechischen Mythologie beförderte, sondern auch Gide vermittelt durch sein Werk half, sich aus der Enge moralischer Zwänge zu befreien. Daneben spielt er auch für Gides künstlerische Entwicklung in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Gides erster Tagebucheintrag in Bezug auf den Persephone-Mythos, welcher mit Goethe (der selbst ein Bühnenstück mit dem Titel Proserpina verfasst hat) und Schopenhauer in Zusammenhang steht, wird an dieser Stelle interpretiert. – Der anschließende Teil wird sich mit Gides Schreibtechnik in Verbindung mit seinen ästhetischen Vorstellungen beschäftigen. Er bildet die Grundlage zum Verständnis des Werks sowie für den Vergleich mit Strawinskys Denken. – Abgeschlossen wird der erste Teil schließlich mit einem Überblick über die Quellen, die Gide beim Schreiben seiner Entwürfe wie der Endfassung inspiriert haben (und haben könnten). Dabei werden sowohl antike wie moderne Dichter, aber auch Nachschlagewerke aus der Zeit Gides zu Rate gezogen.

Der zweite Teil bietet einen Überblick über den Zeitraum ab Ende 1893 bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Gides erste Annäherungen an den Persephone-Mythos (nach dem Tagebucheintrag von 1893) werden aufgezeigt und die verschiedenen von Gide niedergeschriebenen Ansätze interpretiert. Zunächst geht es um die Granatapfelkerne in Gides Verständnis allgemein, anschließend werden La ronde de la grenade, Orpheus’ Erzählung sowie das Fragment von 1899 und ihr Zusammenhang mit dem Persephone-Mythos bzw. den späteren Fassungen näher erläutert.

← xvi | xvii → Anschließend geht es um Gide und das Musiktheater, die Versuche, sein Proserpine-Projekt nacheinander mit Hilfe von Florent Schmitt, Igor Strawinsky und den Ballets russes sowie Paul Dukas zu verwirklichen, und um die beiden Proserpine-Entwürfe selbst. Abgerundet wird das Kapitel mit einem Blick auf Gides Stellung zum Thema „Gesamtkunstwerk“.

Im letzten großen Teil der Arbeit geht es schließlich um die Endfassung Perséphone, zum einen um Gides vollendetes Libretto (an dieser Stelle kommt die Vorarbeit der vorhergehenden Kapitel zum Tragen), aber vor allem um Igor Strawinsky, sein bisheriges Schaffen sowie seine ästhetischen Vorstellungen, die sich auch in seiner Musik zu Perséphone wiederfinden. Diese werden Gides Denken gegenübergestellt. Dabei spielen – ebenfalls im Zusammenhang mit Perséphone – die Auffassungen über Religion, Selbstaufopferung, Zwang und Freiheit sowie Ordnung, welche sich durchaus ähneln und in Zitaten einander gegenübergestellt werden, eine Rolle. Diverse Vorstellungen der Künstler über das Theater werden miteinander verglichen werden. Auf Strawinskys Bereitschaft, Vorgehensweisen von Dichtern in seine schöpferischen Überlegungen mit einzubeziehen, wird eingegangen sowie die Vertonung der Gide’schen Dichtung, welche gemeinhin als hauptsächlicher – oft als einziger – Grund genannt wird, der zum Eklat zwischen Gide und Strawinsky geführt haben soll, untersucht werden.

Der Gegenüberstellung der Ansichten über Kunst folgt die Weiterführung des Gedankens in Hinblick auf das Werk, vor allem in Hinblick auf Perséphone. Grundlage eines Vergleichs der Arbeitstechniken bieten die Gemeinsamkeiten, die in den Künsten zu finden sind. Musik wie Literatur können beide auditiv wie schriftlich vermittelt und hinsichtlich des Aufbaus auf Symmetrien, Wiederholung und Montage hin untersucht werden. Der Versuch des Schriftstellers, musikalische Gleichzeitigkeit in eine literarische Form zu übertragen, wird beleuchtet und zum Abschluss auf das Denken von Schriftsteller und Komponist über die „Zeit“ eingegangen werden – all dies mit Bezug auf das gemeinsame Werk Perséphone, in dem sich die verschiedenen Ansichten von Schriftsteller und Komponist widerspiegeln, vereinen – aber auch gegenüberstehen.← xvii | xviii →

← xviii | xix → Anmerkungen zur Primär- und Sekundärliteratur1

Im Gegensatz zu André Gides Schriften, welche in wissenschaftlich-kritischen Ausgaben vorliegen (auf die sich die vorliegende Arbeit stützt), sind weder die musikalischen Werke Strawinskys in einer wissenschaftlich-kritischen Edition noch die Schriften Chroniques de ma vie und Poétique musicale (welche der Komponist nicht alleine verfasst hat und die noch auf eine vollständige kritische Untersuchung, die die Mitautoren und ihren Einfluss auf Strawinskys Denken mit einbezieht, warten2) in einer dem Rang des Komponisten aus heutiger Sicht angemessenen Weise erschlossen. – Robert Crafts Ausgabe der in den 80er Jahren erschienenen Selected correspondence ist sehr verdienstvoll, jedoch gemessen am heutigen wissenschaftlichen Standard unzureichend und wird von vielen Fachleuten bemängelt. Die in mehreren Sprachen verfassten Briefe (Strawinsky sprach neben russisch auch deutsch, französisch, englisch und ein wenig italienisch) wurden ins Englische übersetzt und lassen nicht nur bezüglich der Übersetzung und Edition Fragen offen. – Die Gespräche, die mit Hilfe von Robert Craft entstanden, scheinen authentisch, jedoch ist hier zum einen Robert Craft als Fragesteller in den Antworten spürbar, zum anderen entstehen neue Fragen dadurch, dass Strawinsky, aufgrund der Jahrzehnte, die oftmals zwischen dem Vergangenen und der Aufzeichnung der Gespräche liegen, sich falsch erinnert. – Auch die überlieferten Interviews mit Strawinsky sind mit Vorsicht zu genießen. Sie können unter Umständen einen Sachverhalt erhellen, stellen aber nicht von vorneherein eine gesicherte Quelle dar. (Es ist bekannt, dass Strawinsky schriftlich vorgefertigte „Interviews“ vorgelegt bekam und diese – vermutlich aus Zeitersparnis – schlicht nur durchlas und genehmigte.) Die vorliegende Arbeit zitiert daher nur solche Ausschnitte aus Interviews, deren Inhalt mit dem anderer Quellen übereinstimmt, jedoch den Sachverhalt prägnanter formuliert.

← xix | xx → Proserpine / Perséphone

Patrick Pollard beleuchtet die Entstehung des Librettos in seiner Studie von 1977.3 Sie beinhaltet die kritische Ausgabe der Entwürfe sowie der Endfassung des Librettos, die die Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet. Pollard geht auf Gide in Zusammenhang mit dem griechischen Mythos ein (die vorliegende Arbeit wird diesen Blickwinkel deshalb etwas aussparen), auf die Quellen Gides (dabei vor allem auf Homers Hymne an Demeter) und legt – neben der Interpretation der verschiedenen Stadien – eine Entstehungsgeschichte des Werks dar, wobei die vorliegende Arbeit – aufgrund einer neuen Forschungslage – die von Pollard vorgeschlagene Chronologie der Entwürfe nicht übernehmen kann. Pollard geht weder auf Strawinsky noch dessen Musik ein, ebenso wenig wie die Aufsätze Jean Claudes,4 welche sich mit entstehungsgeschichtlichen Teilaspekten in Zusammenhang mit Proserpine / Perséphone befassen. – Sigrid Gätjens widmet sich in ihrer im Bereich der Sprachwissenschaften entstandenen Dissertation Die Umdeutung biblischer und antiker Stoffe im dramatischen Werk von André Gide5 u. a. Gides Perséphone und stützt sich dabei ebenfalls auf die Arbeit Pollards. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung des antiken Mythos (auch in literarischer Tradition) und Perséphone selbst, wobei die Musik ebenfalls nicht thematisiert wird.

Robert Craft bildet im Anhang der von ihm herausgegebenen Selected correspondence III6 das maschinengeschriebene Szenario Gides ab, das teilweise mit knappen Randnotizen Strawinskys versehen ist, und geht kurz auf die Entstehung des Librettos von Perséphone ein – im Vordergrund seiner Mitteilung steht das unterschiedliche Verständnis von Schriftsteller und Komponist, mit Text umzugehen. – Richard Taruskin geht expliziter auf Strawinskys Art der Vertonung ein,7 jedoch steht auch bei ihm der Komponist im Vordergrund seines zweibändigen Werks Stravinsky and the Russian traditions. – Eric Walter White kommt in seiner umfassenden Arbeit über Strawinskys Werk8 auch auf Perséphone zu sprechen, und es wird ebenfalls in anderen Nachschlagewerken ← xx | xxi → kurz beschrieben,9 wobei das musikalische Werk im Vordergrund steht, ebenso wie bei Maureen A. Carr in Multiple masks: neoclassicism in Stravinsky’s works on Greek subjects,10 welche auf verschiedene, einzelne Aspekte des Werks (Entwürfe, musikalische Skizzen) eingeht, jedoch in ihrer Darstellung nicht auf ein ausgereiftes Gesamtbild des Werkes zielt, das auch den Autor des Librettos angemessen mit einbezieht.

Wie in dem Überblick bereits dargestellt, ist die Schwerpunktsetzung dieser Arbeit eine andere. Sie zielt auf die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Charaktere, die mit Perséphone ein gemeinsames Werk schufen, die Darstellung der gedanklichen Nähe der Schaffenden auf verschiedenen Ebenen sowie die Offenlegung der gegenseitigen Einflussnahme von Musik und Dichtung im Denken der Künstler.

Zitate werden getreu der angegebenen Quelle übernommen. Zitierte Literatur wird bei der ersten Nennung in den Fußnoten vollständig und im Weiteren in verkürzter Form mitgeteilt.← xxi | xxii →

_________

1 Sekundärliteratur wurde bis zur Einreichung der Arbeit im Juni 2012 berücksichtigt.

2 Vorarbeiten dahingehend wurden bereits gemacht (siehe das Literaturverzeichnis am Ende).

3 Patrick Pollard, André Gide. „Proserpine“ – „Perséphone“, Lyon 1977.

4 Siehe dazu das Literaturverzeichnis.

5 Sigrid Gätjens, Die Umdeutung biblischer und antiker Stoffe im dramatischen Werk von André Gide, Hamburg 1993.

6 Siehe Appendix B, S. 475ff.

7 Siehe Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian traditions, Oxford 1996, Bd. 2, S. 1234ff.

8 Eric Walter White, Stravinsky. The composer and his works, Berkely u. a. 1984.

9 Darunter auch in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. v. Carl Dahlhaus, München u. a. 1997, Bd. 6, S. 148ff. (Perséphone von Gabriele Brandstetter).

10 Lincoln u. a. 2002, S. 153ff.

← xxii | 1 → I. Grundlagen zum Verständnis von Gides Denken und Anmerkungen zum Persephone-Mythos

I.1. Stichpunkte zu Gides frühem Lebensweg

Geboren kurz vor dem Zusammenbruch des II. Kaiserreichs, das durch die Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 sein Ende findet, wächst der junge Gide, Sohn begüterter Eltern, in der III. Republik auf, welche zunächst nur verfassungspolitisch einen Bruch mit dem Empire darstellt. Das schließlich seinem Untergang zustrebende bürgerliche Jahrhundert, das nur noch an einer zum Selbstzweck heruntergekommenen Ordnung festhält – an die sich auch Gides Mutter eisern klammert –, bildet den Hintergrund zu Gides jungen Jahren. Seine Kindheit und Jugend stehen im Zeichen einer puritanisch-protestantischen Erziehung durch die Mutter, deren strenge Moralauffassung sowie übertriebene Vorstellung von Pflichterfüllung dem Kind und dem sozialen Umfeld gegenüber den Nährboden von Gides inneren Konflikten bereitet und Anlass zu zahlreichen Auseinandersetzungen gibt. Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit kann Gide die Schule nur unregelmäßig besuchen und wird immer wieder von Privatlehrern – ab 1876 auch im Klavierspiel – unterrichtet. Neben seiner Liebe zur Literatur und Musik entdeckt er auch seinen Hang zur Insektenkunde und Botanik. Mehrere Stellen in seiner Autobiographie, die er 1921 beendet, weisen auf Gides frühes Interesse für Samen bzw. Kerne hin, die im Persephone-Mythos eine entscheidende Rolle spielen. So hat er bspw. in seiner Jugend ein Herbarium angelegt: „[…] on admirait, auprès du bouton, la fleur épanouie, puis la graine.“11 Zu beachten ist die Reihenfolge der hier genannten Pflanzenteile: Das Samenkorn wird zuletzt genannt, quasi als Ziel – und nicht als Beginn eines Entwicklungsprozesses.12 Dass auch für den jungen Gide mit dem Samenkorn die Hoffnung auf das Zukünftige, der Reiz des Möglichen, das noch Verborgene im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben soll – wie für den älteren Gide –, ist denkbar. Doch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gide diese Zeilen im Alter von fast 50 Jahren verfasst hat und rückblickend vielleicht einige Dinge bewusst anders darstellen wollte. Schließlich trägt seine Autobiographie den bezeichnenden Titel: Si le grain ne meurt. Unbestreitbar aber ist, ← 1 | 2 → dass ihm diese Thematik ein Leben lang am Herzen lag und er mit Si le grain ne meurt den Kreis zu seiner Jugend wieder schließen wollte.

Auf die Bedeutung des Samenkorns oder des Granatapfelkerns im Zusammenhang mit der Bibel sowie auch der griechischen Mythologie im Denken Gides wird im Folgenden noch eingegangen werden.

Den Mythos, in welchem Kerne eine entscheidende Rolle spielen, lernt Gide womöglich bereits als Kind durch A Wonder Book von Nathaniel Hawthorne kennen:

Tout enfant, les premiers livres que mes parents m’avaient donnés à lire – ils ont eu mille fois raison – étaient le charmant livre de Hawthorne, l’auteur de La Lettre écarlate, qui s’appelle, je crois, Le Livre des merveilles; du moins, il a été traduit sous ce titre. Ce sont deux volumes que bien peu d’enfants aujourd’hui connaissent; ils avaient paru dans la Bibliothèque rose.13

In diesem Buch wird die Geschichte der Proserpina, unter dem Titel The Pomegranate-Seeds (frz.: Les grains de grenade), kindgerecht erzählt. Bis zu Gides erstem Entwurf seiner eigenen Proserpina-Interpretation vergehen jedoch noch Jahre. Welche Einflüsse sein Denken auf dem Weg dahin formen und welche Entwicklung seine Persönlichkeit durchläuft (welche sich in seinem Proserpina-Projekt niederschlagen werden), versucht das nachfolgende Kapitel zu skizzieren.

a) Verschmelzungen

Ein Großteil von Gides Lieblingslektüre in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts besteht sowohl aus heidnischen als auch biblischen Mythen. Ergänzt durch Märchen aus 1001 Nacht, die sein Vater ihm vorliest, verschmelzen die gewonnenen Eindrücke miteinander und bilden einen reichen Schatz an Motiven, auf den Gide später immer wieder zurückgreifen wird. Daneben sind in Gides Schriften und Briefen noch verschiedene andere Einflüsse offenbar, die Aufschluss über den geistigen Hintergrund des Autors geben und damit den Grundstein für das weitere Verständnis seiner Persephone-Interpretation und ihren Wandel legen.

Wann Gide zum ersten Mal auf den Persephone-Mythos gestoßen ist, ist ungewiss. In seinem Journal14 findet man bis 1893 nur spärliche Hinweise auf sein Interesse an Dichtern der Antike oder an antiken Mythen. Unter anderem ← 2 | 3 → berichtet er, dass er Aristophanes studieren möchte,15 oder man erfährt, dass er am Ostersonntag 1892 den Prometheus von Goethe gelesen hat.16 Da Gide aber Teile des Tagebuchs aus dieser Zeit – wie er selbst in einer Anmerkung von 1902 schreibt17 – verbrannt hat, lässt sich die Spur von Einflüssen antiker Mythen auf Gide auf diesem Weg nicht eingehender verfolgen. Mehr Informationen bietet Gides Autobiographie Si le grain ne meurt: Mit Vergnügen hört er als kleiner Junge seinem Vater zu, wenn dieser ihm Stellen aus der Odyssee vorliest18 (wiewohl auch, wenn er von den Abenteuern Sindbads und Ali Babas erzählt) und unvergesslich scheint ihm geblieben zu sein, dass sein Vater, dessen Bibliothek überwiegend griechische und lateinische Bände enthält,19 kurz bevor er stirbt, Platon gelesen hat.20 Im Lateinunterricht übersetzt er Vergil.21 Von einem Griechischunterricht ist in Si le grain ne meurt nicht die Rede, und aus Ainsi soit-il ou Les jeux sont fait (ein Buch, das autobiographische Beobachtungen wiedergibt und nach Gides Tod erscheint) geht hervor, dass Gide untröstlich ist, kein Griechisch zu können.

Details

Seiten
XXII, 295
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049398
ISBN (ePUB)
9783653973969
ISBN (MOBI)
9783653973952
ISBN (Hardcover)
9783631656532
DOI
10.3726/978-3-653-04939-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Kompositionstechnik Spiegelung Musik und Dichtung Schreibtechnik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XXII, 295 S.

Biographische Angaben

Andrea Hanft (Autor:in)

Andrea M. Hanft studierte Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur, Philosophie sowie Galloromanische Philologie an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Wien und Berlin (Promotion).

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Titel: André Gide – Igor Strawinsky: "Perséphone"
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