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Ethik der Dissidenz

Kritische Theorie und öffentliche Kritik

von Stefan Marx (Autor:in)
©2015 Monographie 279 Seiten

Zusammenfassung

Die öffentliche Kritik verlangt die immanente Kritik der Theorien der Öffentlichkeit. Indem sie nachvollzieht, wie politische Herrschaft in die öffentlichen Diskurse einwandert, ist sie kritische Theorie der Öffentlichkeit. Indem sie eine Kritik am deliberativen Demokratiekonzept entwickelt, ist sie eine Ethik der Dissidenz. Die These ist, dass die agonale Beschaffenheit des Politischen Anforderungen an die Politik stellt, die sich nicht durch permanenten Diskurs bearbeiten lassen, sondern nur durch ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit politischer Praxis. Dissidenz muss dem, was sich beständig diskursiv als Selbstverständlichkeit etabliert, immer auf neuem Stand opponieren. Sei es die Öffentlichkeit im Nationalsozialismus oder die diskursive Verflüssigung von Souveränität im World Wide Web.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Ideengeschichtliche Aufstellung
  • Von der Ästhetik zur Ethik
  • Von der Möglichkeit der Kritik
  • Zur Aktualität des Themas
  • Öffentliche Kritik
  • Individuum und Gesellschaft
  • Transparente Wirklichkeit
  • Was ist Kritik?
  • Subjekt und Subjektivität
  • Zwei Beispiele zur modellanalytischen Konstellation
  • Historische Dialektiken
  • Schrift und Kollektiv
  • Ökonomische Selbstverständnisse
  • Der Rückstand des transzendenten Absoluten
  • Die calvinische „Demokratie“
  • Bürgerliche Öffentlichkeit
  • Öffentlichkeit im Nationalsozialismus
  • Terror und Öffentlichkeit
  • Politik und Kulturindustrie im 21. Jahrhundert
  • Konsum und Kitsch
  • Parteien und politische Präferenzen
  • Kunst und Autonomie
  • Massenbetrug modellanalytisch
  • Aktualität
  • Das Internet: Undurchschaubarer und unumgehbarer Kommunikationsraum
  • Cyber-Postdemokratie?
  • Diskursivierung und Entsubjektivierung
  • Rechtsform und Öffentlichkeit
  • Bürger im Rahmen der Verfassung
  • Freiheit und Notwendigkeit
  • Individualrecht und Bande
  • Presse und Warenhüter
  • Nation und Souveränität
  • Demokratie und Rechtstaatlichkeit
  • Das Minimum an Freiheit
  • Prozeduralismus
  • Von Kant zu Habermas
  • Jürgen Habermas Öffentlichkeit und die diskursive Suspension der Souveränität
  • Prozess und Notwendigkeit
  • Göttliche Kommunikation
  • Arbeit und Interaktion
  • Öffentlichkeit und Politik
  • Exkurs: Deliberation
  • Rechtsform und Öffentlichkeit
  • Der Kern der politischen Theorie: Dualismus und Offenbarung
  • Kommunikation und politische Gewalt
  • Vernunft und Offenbarung
  • Schluss
  • Kritik als Kunstwerk
  • Eine Ethik öffentlicher Kritik
  • Literaturverzeichnis
  • Siglen

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Einleitung

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass überall, wo mittels Kritik am vorgeblich moralischen Schein gekratzt wird, tatsächlich Moral zum Vorschein kommt. Das Versprechen, das Kommunikation gibt, wenn sie als Mittel der Verständigung angepriesen wird, lässt sich politisch nicht einlösen. Politik ist radikaler Konflikt, der sich zwar parlamentarisch moderieren, aber letztlich nicht in kommunikatives Wohlgefallen auflösen lässt, weil konfligierende Interessen zwar als konsensfähig und vermittelbar gelten mögen, aber sich doch ständig auch entgegen der Interessen der so genannten Allgemeinheit durchsetzen lassen. Letztlich bleibt es, was die Ergebnisse politischer Auseinandersetzungen betrifft, immer bei einer „Kommunikation des Unterschiedenen“ (AGS 10.2: 743), die, wenn sie auch scheinbar Versöhnung in der Interessensallgemeinheit findet, doch stets nur die partikularen Ansprüche von Gruppen zum Ausdruck bringt. Die damit verbundene Tendenz der politischen Kommunikation die kategoriale Diversität ihrer eigenen Ausdrucksformen abzuschneiden, trägt zu einer Stillstellung der politischen Handlungsfähigkeit der Individuen bei.1

Theodor W. Adorno spricht von der Öffentlichkeit als polemischem Wesen, das nicht fest umrissen ist (AGS8: 533). Er betrachtet sie als Ort des Meinungsstreits, an dem sich die Verselbständigung diskursiver Auseinandersetzung und die Abhebung des Geschäfts der Kritik von den politischen Subjekten ereignen. Die Beschaffenheit der Öffentlichkeit tendiert zur Objektifizierung ihrer Subjekte im Modus konkurrierender Meinungen und zugleich wird an ihren Grenzen das Potential eines Besseren (AGS8: 536) ablesbar das dieser Manipulation der politischen Urteilskraft nicht bedarf.

Die Theorie des kommunikativen Handelns suggeriert es gäbe eine Möglichkeit zur rational gestalteten, diskursiven Auflösung agonaler politischer Strukturen. Sie vertraut somit auf die intrinsische Rationalität, die sie selbst der Sprache zubilligt anstatt mit dem polemischen Wesen der Öffentlichkeit zu rechnen. Die Strategien politischer Kommunikation orientieren sich dementsprechend seit dem linguistic turn an der Vorstellung, es ginge darum, die Produktion des ← 9 | 10 → Diskurses zu kontrollieren und damit über die Kommunikation zu verfügen. Von Jürgen Habermas2 bis Michel Foucault3 herrscht Einigkeit darüber, dass es der Diskurs ist, der das politische Gespräch einhegt und die Ordnungen und Regeln für die Argumentation zur Verfügung stellt. Die Beschränktheit von Politik findet in der Sprache zu einem Bewusstsein, das zugleich die Grenzen des Subjekts von Politik sprengt. Im Diskurs ersetzt die Sprache die Handlung und löst das politische Ereignis von seinem materialen Kontext, um es sprachlich prozessualisierbar zu machen. Die politische Frage nach der Verhandlungssache wird von der Diskurstheorie wörtlich genommen. Für sie ist die Kommunikation der Souverän, den sie im Falle Foucaults, deskriptiv in Anschauung von Räumen, Ordnungen und Konfigurationen beschreiben, und im Falle von Habermas normativ im Sinne einer unhintergehbaren Vernunft, erschließen will. Während also die Diskurstheoretiker in Ehrfurcht vor dem Selbstgespräch der Gesellschaft erstarren, ist bisher nicht geklärt, ob es für politische Kritik überhaupt opportun ist, sich auf diese Weise den Bezugspunkt ihrer Beschäftigung abspenstig machen zu lassen. Denn wo die politische Kommunikation ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, geht das politische Subjekt, das den Rätselcharakter (Heterogenität/Kontingenz) der Politik bestimmt, der Theorie verlustig. Durch den Verlust dieses Bezugspunkts tritt eine Selbstbeschränkung der Kritik ein, die durch die ausgefeilteste Argumentation nicht mehr einzuholen ist, weil sie den Charakter des Rätsels verfehlt und nur mehr Antworten auf Fragen liefert, die sich für die Politik nicht stellen.

Während die AnhängerInnen Foucaults nicht den Fehler machen zu behaupten, ihre Position sei rational begründbar, reklamieren TheoretikerInnen Habermas’scher Provenienz ganz offen ein rational begründbares „Moralprinzip“ (Habermas 1983: 73)4 für sich. Und während beide gemeinsam die Ablösung der souveränen SprecherIn und deren Auflösung im Diskursiven feiern, bleibt der hinter dem Prinzip des Diskurses stehende Anspruch doch weitgehend nebulös. Das liegt an der „Unvollständigkeit jeder Rationalitätstheorie“ (Schnädelbach ← 10 | 11 → 2007: 141), welche bedeutet, dass jede Form von Rationalität, und sei sie noch so gut durch universelle Regeln begründet, immer nur vor dem Hintergrund eines Kontextes rekonstruiert werden kann, der selbst dabei unthematisiert bleibt. Kritik müsste aber genau diesen Hintergrund besonders genau betrachten, denn in ihm wächst, auch bei ihren Verächtern, eine moralische Hinterwelt, die in die Theorie hinein wirkt und die im Diskurs vorgelegte politische Kritik kompromittiert.

Kritik ist eine Aufgabe für autonome und souveräne AkteurInnen. Wer vom Diskurs abhängig ist, kann seine Kritik immer nur im Rahmen der durch diesen vorgegebenen Regeln vortragen. Dies mag für die abstrakten sinnhaften Formen der Verständigung im Wissenschaftssystem oder im Recht einen gewissen Nutzen haben. Aber die Sprache der Politik erfordert eigene Strategien, die, wie bereits Machiavelli erkannt hat, a-moralisch sind und die, wie Hobbes zuspitzt, sich keineswegs diskursiv einhegen, sondern nur durch Zwang stabilisieren lassen.

In diesem Text soll der Versuch unternommen werden, dieser Hinterwelt auf die Spur zu kommen, indem vorgeführt wird, welche unausgesprochenen Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen sich hier verbergen können und welche Maßnahmen notwendig wären, die Kritik aus der Umklammerung des Diskurses zu befreien.

Der aktuelle Trend, dass Kritik zum Populismus verkümmert, rührt aus dem Hang der politischen Rhetorik zur Synekdoche und der darauf reflexhaft vollzogenen Anrufung des Volkes. Populismus tendiert dazu, politische Programmatik durch Moralismus zu ersetzen, etwa die politische Elite als Ganze zu dämonisieren und Ethik aus den diffusen kollektiven Traditionen der völkischen Vorstellungswelt zu begründen. Die Kritik hat es daher, so oft sie es mit Ideologie zu tun hat, sicherlich auch mit der „Überschätzung eines Problems in der jeweiligen Gesellschaft“ (Beyme 2012: 39) zu tun. Dabei müsste die Frage erlaubt sein, ob wirklich alles, was an gesellschaftlichen Konventionen von einer ausreichend Mehrheit oder den richtigen Gremien für wünschenswert erachtet wird, auch zur politischen Kategorie erhoben werden muss. Käme es in der Politik wirklich nur darauf an, jede vermeintliche Wahrheit mit ausreichend Resonanz auszustatten müsste nur der Diskurs zum jeweiligen Thema erschöpfend mit den eigenen Ansichten beliefert werden, um Hegemonien5 herzustellen. Das Problem ist allerdings ← 11 | 12 → komplexer. Die Regeln des Diskurses sorgen dafür, dass die Dominanz einer Position durch mehrere Filter- und Gatekeeperpositionen hindurch zur Öffentlichkeit gelangen muss. Hegemonial organisierte Kommunikationsräume sind auf Parteilichkeit und Klientelismus festgelegt und erdrücken gegnerische Argumente nicht einfach mit ihrer Masse, sondern auch durch die selektiven Operationsstruktur ihrer Institutionen.

Dass Kritik ein manchmal schmutziges Geschäft ist, ist ihren ProtagonistInnen nicht vorzuwerfen. Zu kritisieren wäre, dass die Kritik ein Geschäft ist, das Gefolgschaft zur Voraussetzung hat und die KritikerInnen in der Öffentlichkeit in den Rahmen eines Klientelsystems stellt, das deren öffentliche Kritik zu einer Klientelveranstaltung macht, die außerhalb eines gruppenbezogenen und moralisierenden Urteilsmodus nur sehr wenig politische Relevanz erzeugt. Daraus auszubrechen und kritische Aussagen treffen zu können erfordert die Ethik der Dissidenz. Das bedeutet, Kritik schließt die Fähigkeit ein, politisch zu denken, ohne sich ständig anleiten lassen zu müssen und die Fähigkeit zu unterscheiden, was ein ideologisches Problem ist und was partikularen Interessen entspringt. Kritik ist eine Fähigkeit, die ein hohes Maß an Eigenständigkeit, Intuition und Charakter und durchaus einsame oder unbeliebte Entscheidungen erfordert.

Demokratie funktioniert heute als „dialogische Politik der ständigen Konsultation“ (Michelsen/Walter 2013: 43), die jeglichen Widerspruch sofort zu absorbieren in der Lage ist, der über die Reklamation von Formfehlern hinausgeht. Während der Staat durch digitalen Zerfall (Darnstädt 2013: 22) bedroht wird und Souveränität sich auf subjektlose Kommunikationsformen zu reduzieren scheint, wird auch die gängige öffentliche Kritik zusehends zur Metapher für den Verlust an politischer Mündigkeit der Einzelnen. Moderne politische Systeme setzen einen bestimmten Typus von Mensch für die Ausschöpfung ihrer politischen Potentiale voraus – den mündigen Menschen. Mündig ist ein Mensch, wenn er von seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch machen kann, wenn er für sich selbst spricht. Der Begriff Politik stammt aus dem Griechischen und umfasst „die Dinge die das Gemeinwesen betreffen“. Hier sprechen also einzelne Menschen über Probleme, die alle betreffen. Das bedeutet Politik ist das Geschäft des Streits. Denn der für sich selbst öffentlich sprechende Mensch stößt notwendig auf einen anderen der ihm widerspricht. Und nur wo es im Sinne dieses Widerspruchs Grund und Möglichkeit für Individuen gibt, von allgemein akzeptierten Meinungen abzuweichen, findet Politik, als Aushandlung von Differenzen und Austragen von Widersprüchen noch statt. Die Abweichung ist das Wesen politischer Auseinandersetzung. Wo Zweifel einen sprachlichen Ausdruck findet, kann von Demokratie gesprochen werden. Und ← 12 | 13 → wo dies darüber hinaus im Rahmen einer Übereinkunft geschieht, die dafür sorgt, dass um diese Abweichung willen nicht getötet wird, herrscht ein Souverän durch Verfassung und Gewaltmonopol. Die Freiheit der Rede organisiert sich immer am fruchtbarsten unter den Auspizien des Zwangs einer monopolisierten Gewalt, die von der Redefreiheit in Schranken verwiesen wird. Aus diesem Paradox resultiert die Voraussetzung der hier vertretenen Meinung, dass Kritik notwendig im Dissens entsteht und ihre politische Wirkung nicht im Rahmen von geregelten Prozeduren oder Hegemonien entfalten kann. Dass die Kritik die bearbeitbare Entschlüsselung des allgemeinen Einverständnisses ist, insofern als in der durch sie eingemahnten Abweichung zum Ausdruck kommt, dass eine Sache verstanden worden ist, ohne das sie akzeptiert wurde, stellt den Schlüssel zum Verständnis der Funktion von öffentlicher Kritik dar. Entgegen der kommunikationstheoretisch hergestellten Behauptung, dass Politik des Einverständnisses bedarf, soll hier klargestellt werden: Es kann nicht die Aufgabe von Kritik sein, am Gespräch teilzunehmen. Kritik beobachtet das Gespräch und stört es an den relevanten Stellen, indem sie Dissonanzen erzeugt und Misstöne, die nicht mit Lärm zu verwechseln sind. Denn im Gegensatz zum Populismus bearbeitet Kritik inhaltliche und nicht imaginierte Probleme. Gerade in einer Zeit, in der Kritik in Form von unzähligen Veranstaltungen, von Protestcamps und Workshops zum populären Mainstream geworden ist, bedarf es einer Erklärung, weshalb die Kritik im Dauerbetrieb so karge Ergebnisse einfährt. Warum auch Gruppen, die sich auf kritische Theorien berufen, stets nur im moralischen Register verbleiben, wenn sie etwa ohne jegliche Ironie zum Kampf gegen das so genannte „1%“ aufrufen. (Graeber 2012: 36)

Zunächst ist die Beurteilung von Gegenständen und Handlungen anhand von Maßstäben nicht prinzipiell eine politische Angelegenheit. Es ist also nicht jede Kritik politisch. Wenn sie sich aber öffentlich vollzieht und den durch Zweifel genährten Streit gegen die politischen Konjunkturen und Moden der Diskursgesellschaft formuliert, dann wird sie zur öffentlichen Kritik. Zum Einspruch, dessen Aufgabe darin liegt, Gefolgschaften in Frage zu stellen und Hegemonien zu brechen. Das bedeutet, öffentliche Kritik ist notwendig antikonsensuell. Ihre Arbeit besteht darin, Möglichkeiten zur Abweichung hervorzubringen, die sich nicht dazu eignen, selbst hegemonial zu werden. Öffentliche Kritik rechtfertigt sich nur durch die Veränderung konkreter Verhältnisse und betreibt somit ihre ständige diskursive Selbstauflösung. Deshalb kann sie nur von Individuen geübt werden, niemals von Gruppen oder gar Schulen. Jedes Anliegen, das durch Gruppeninteressen getragen wird, verfälscht sich im Konsens der auch noch so geringen Homogenität der Gruppe. Jede Idee, die an einem grundlegenden ← 13 | 14 → ideellen Konsens orientiert ist, macht sich in der politischen Debatte des Klientelismus verdächtig.

Kommunikativ erzieltes Einverständnis ist politisch betrachtet nicht mehr als der Zwang zur Zustimmung zu einer bestimmten Hegemonie. Denn im Rahmen politischer Entscheidungsmöglichkeiten kann es gegenüber kollektiven Entscheidungen nur die Alternative geben mitzumachen oder abzulehnen und in Folge abzuweichen. In einem Entscheidungssystem, das die Ablehnung nicht als Abweichung registriert und den in ihr erzeugten Konsens darauf gründet, Ablehnung argumentativ in Zustimmung zu verwandeln, ist die Möglichkeit zur Abweichung nicht länger gegeben. Öffentliche Kritik ist somit notwendig subjektiv und muss keinesfalls sagen, wie es besser geht. Nur wie es nicht sein sollte, muss sie präzise aussprechen können. Diese Kritik steht zu ihrem Vermittelnden, dem Individuum, und versucht es bis zu dessen durch Kritik eventuell vermeidbaren Widerruf durch das Kollektiv mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Das antikonsensuelle Element öffentlicher Kritik ist deshalb mehr als der Habitus des Meisterkritikers, eine politische Tätigkeit, die dissentiert ohne auf Gewalt zu rekurrieren.6 Dies gelingt ihr durch ihre Verortung im Rahmen einer politischen Öffentlichkeit. Die Theorie der öffentlichen Kritik ist auch eine Theorie der politischen Öffentlichkeit und der sie ermöglichenden Souveränität. Sie ist aber vor allem eine politische Theorie, die eine Praxis öffentlicher Äußerungen vorbereitet, die dem Begriff der Dissidenz als einzige noch gerecht werden kann.

Ideengeschichtliche Aufstellung

Dass die Öffentlichkeit autonome Individuen voraussetzt, geht aus der Teleologie der Aufklärung hervor. Denn die Aufklärung erfordert nach Kant die bürgerliche Öffentlichkeit als Forum für Kritik und den Einsatz des Kritikers als lebendiges Exempel seiner Philosophie. Nur dann ist die Öffentlichkeit das Medium der politischen Vernunft und damit der Kern politischer Urteilskraft. Kants Kritik der reinen Vernunft wird als fundamentale Kritik der Metaphysik gehandelt und entpuppt sich gleich in den Vorbemerkungen als eine Kritik an ← 14 | 15 → deren „Indifferentism“ (IKW3: 12). Nicht die behandelten Gegenstände sind abwegig, nicht die Metaphysik7, sondern die sich in endlosen Schichten rankenden Streitigkeiten der dogmatischen Metaphysiker, die ihre Standpunkte nicht mehr überprüfen. Der von ihnen produzierte beständige Schwall an Scholastiken stellt die kritische Funktion der Metaphysik kalt. Diese Indifferenzerfahrung vergällt Kant die Freude am beständigen Gespräch über metaphysische Probleme. Darum will er sie lösen, indem er Subjektivität und Kritik in einem großen erkenntnistheoretischen System zusammenbringt. Denn dem Menschen ist es gegeben, Fragen zu stellen, auch zu Themen, zu denen er keine Antwort erhalten kann, aber diese Fragen unter Bergen von Diskursmasse zu begraben, verheert das kritische Bewusstsein. Kritische Philosophie besteht seit Kants Kritiken in dem Versuch der ständigen analytischen Abwehr dieser Indifferenzerfahrung.

Als im 19. Jahrhundert mit dem Liberalismus auch eine individuelle Sicht auf die Dinge möglich wird, spricht sich Hegel, der avancierteste idealistische Philosoph seiner Zeit, gerade gegen die diskursive Anwendung von Weltanschauungen aus. Denn nur mit dem „Mut der Wahrheit“ (HW10: 404) kann man für Hegel der Macht des Geistes gerecht werden. Wer entgegen der Beliebigkeit von Weltanschauungen „Wahrheit“ ins Spiel bringt, der beweist in der Tat eine eigene Form von Mut, zumal diese Wahrheit bei Hegel aus einer spekulativen Grundannahme resultiert, die den Weltlauf dialektisch denkt. Das denkende Erkennen des Ganzen, erfordert die Überlegung, dass sowohl Ganzes als auch Teile nebeneinander existieren können und gleichzeitig konstitutiv aufeinander bezogen sind. So wie der Begriff des Lebens sich nur mit Inhalt füllt, solange es Lebewesen gibt, die ihn repräsentieren, diese aber wiederum nicht selbst „das ← 15 | 16 → Leben“ sein können. So ist auch das Ganze einer Gesellschaft immer zugleich aus den Individuen zusammengesetzt und dennoch mehr als sie. Konsequenterweise hat die Öffentlichkeit, innerhalb derer Kritik wirksam werden könnte, nur im Rahmen eines staatlich (gewalt-)sanktionierten Raumes einen Platz in Hegels Philosophie.

Das Paradoxon der aufeinander verweisenden Gegenpole von Freiheit und Zwang lässt sich aber auch durch die präziseste Gedankenleistung nicht lösen. Die Indifferenzerfahrung, die in Hegels Fragen nach den Möglichkeiten von Anerkennung bereits ein Vorzeichen auf die folgenden Theorien intersubjektiver Vergesellschaftung ist, schiebt sich zwischen Subjekt und Objekt und beendet die Herrschaft der philosophischen Systeme und bleibt doch selbst System. Eine Gesellschaftskritik, wie sie Hegel vorschwebt, die durch den Einblick in unsere individuelle Endlichkeit den Blick für das Unendliche schärft, ist bis heute ein unbewältigtes Unterfangen, das allerdings eine Renaissance in seinem berühmtesten Schüler erfährt.

Details

Seiten
279
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049237
ISBN (ePUB)
9783653974126
ISBN (MOBI)
9783653974119
ISBN (Hardcover)
9783631656457
DOI
10.3726/978-3-653-04923-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Nationalsozialismus Internet politische Herrschaft Demokratiekonzept
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 279 S.

Biographische Angaben

Stefan Marx (Autor:in)

Stefan Alexander Marx ist Politikwissenschaftler, philosophischer Praktiker und Lehrbeauftragter der Universität Wien.

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