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Alter, neuer Kalter Krieg?

Eine philosophiegeschichtliche Analyse des Zusammenhangs von «Sozialismus» und Frieden

von Ulrich Knappe (Autor:in)
©2014 Monographie 214 Seiten

Zusammenfassung

Ist es nicht verwunderlich, mit welcher Präzision der Kalte Krieg an der Ukrainekrise wieder aufbricht? Die alten, eingeübten, systemischen, konfrontativen Denk- und Handlungsmuster sind nicht überwunden, sondern scheinbar nur zurückgedrängt worden. Wenn Verstehen und Verständigung, als Überlebensprinzip im Nuklearzeitalter, jedoch dauerhafter werden sollen, dann lohnt es sich, tiefer zu gehen und nach den überkommenen Ursachen für den neuen Ausbruch der Konfrontation zu suchen. Diese Schrift analysiert das Entstehen, die Existenz und den Untergang des «Sozialismus» und entwirft von daher die Konturen unterschiedlicher Friedenszustände, die diese Gesellschaftsordnung mitgeprägt hat. Ohne diesen weit gefassten philosophisch-historischen Bogen blieben sowohl Umfang und Tiefe der Auseinandersetzung im Kalten Krieg als auch die Wege für einen Annäherungsprozess im Dunkeln.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Erstes Kapitel: Sozialismus und gesellschaftliches Eigentum
  • 1.1. Der Begriff des Sozialismus
  • 1.2. Karl Marx und Friedrich Engels zum gesellschaftlichen Eigentum
  • Zweites Kapitel: Der Sozialismus in der jungen Sowjetunion (1917 bis 1928)
  • 2.1. Die Entwicklung von unterschiedlichen Eigentumsformen
  • 2.2. Die Machtachse verschiebt sich
  • 2.3. Frieden und Krieg im Verhältnis zur Oktoberrevolution
  • Drittes Kapitel: Der sowjetische Totalitarismus (1929 bis 1953)
  • 3.1. Die Schlacht um den „Sieg der sozialistischer Produktionsverhältnisse“ (1928 bis 1941)
  • 3.2. Frieden und Krieg unter totalitären Verhältnissen
  • Viertes Kapitel: Aufbäumen und Abstieg des sowjetischen und Aufstieg des chinesischen Sozialismusmodells
  • 4.1. Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht
  • 4.2. Die Deutsche Demokratische Republik zwischen dem was war und dem, was sein sollte
  • 4.3. Der „Kalte Krieg“ Frieden
  • Schlußbemerkung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Register
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

Seit fast siebzig Jahren befinden sich weite Teile Europas im Frieden. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil die zwei verheerenden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts hier ihre Wurzeln hatten. Solange in Europa Frieden herrscht, solange kann auch der Weltfrieden standhalten. Das scheint eine wichtige Schlußfolgerung zu sein. Doch der Weltfrieden ist brüchig und unstet. Vom europäischen Kontinent ausgehend, hat sich offensichtlich ein grundlegender Wandel hin zu einer friedlicheren Welt vollzogen, was nicht besagt, daß es keine Kriege gab und gibt. Aber der große Krieg, der alle und alles vernichtende Krieg blieb bisher aus. Wenn aber der Wert des Friedens im Bewußtsein allmählich verblaßt, wenn die vorhandenen Bruchlinien nicht mehr reflektiert und ihrer weiteren Ausdehnung nicht aktiv widerstanden wird, dann gerät der Weltfrieden in Gefahr. Das erleben wir gerade mit großem Entsetzen, mit Blick auf die Krim und die Ukraine.

Ist es vor diesem Hintergrund nicht überfällig, sich der jüngeren Geschichte der Friedensentwicklung durch Einschluß aller Protagonisten zuzuwenden? Schaut man zurück auf den alten Kontinent, der in seiner Ausdehnung vom Atlantik bis zum Ural reicht und der darüber hinaus eine Brücke zu Asien ist, so tritt einem eine untergegangene Gesellschaft, die sich als Friedenskraft und Friedensmacht verstand, entgegen. Der Sozialismus prägte mit seinem Aufstieg und seinem Fall das vergangene Jahrhundert, wie kaum eine andere gesellschaftliche Erscheinung.

Doch alles, was wir heute über den Zusammenhang von Sozialismus und Frieden wissen, stammt aus der Hochzeit der Existenz dieser Gesellschaftsordnung. Aus postsozialistischer Sicht gibt es kaum Literatur, die sich den Ursachen des Aufstiegs und des Zerfalls dieser Gesellschaftsordnung zuwendet und die darin begründeten Wirkungen auf Frieden und Krieg untersucht. Für manche Leser scheint der Untertitel des Buches -„Sozialismus“ und Frieden- ein vertrautes Thema zu sein. Doch Vorsicht. Müßte nicht angesichts des Scheiterns dieser Gesellschaftsordnung der proklamierte Zusammenhang zum Frieden ganz anders gesehen und neu ausgearbeitet werden? Schon das Stellen dieser Frage verlangt, sich aus der Befangenheit jener Vorstellungen zu befreien, die im untergegangenen Sozialismus vom Marxismus-Leninismus begründet und ← 7 | 8 → durch die Gesamtheit der ideologischen Verhältnisse verfestigt worden sind. Um heute einen möglichen Zusammenhang zwischen wirklichem, aber untergegangenem „Sozialismus“ und Frieden auszuarbeiten, kann man sich nicht blind auf die Vorstellungen der Schöpfer und Gestalter dieser sozialistischen Gesellschaft stützen. Im Gegenteil, man muß ihre geistigen Produkte als Ausfluß zutiefst widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhältnisse verstehen und man muß sich fragen, ab welchem Punkt von ihnen angenommene Prämissen in Irrtümer führten.

Von diesem kritischen Standpunkt aus gesehen ist das Thema „Sozialismus“ und Frieden terra incognita. Um es gedanklich erneut zu erschließen, ja zu erkunden, verzichtet die vorliegende Abhandlung nicht auf das Marxsche philosophische Instrumentarium. Eine kritische Sicht auf die bisherige Theorieentwicklung marxistisch-leninistischen Denkens allgemein und zu Krieg und Frieden im besonderen bedeutet für mich nicht, das gesamte Gedankengebilde einer materialistischen Gesellschaftsauffassung zu verwerfen. Es geht mir nicht darum, den ursächlichen Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrer Wirkung auf Frieden und Krieg in Frage zu stellen. Es geht mir darum, die vergangene „sozialistische“ Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, sich tatsächlicher Zusammenhänge im Gegensatz zu überkommenen Fiktionen bewußt zu werden und die Konsequenzen im zu Ende Denken nicht zu scheuen. In diesem Sinne steht diese Schrift in Kontinuität zum Marxschen Materialismus. Sie steht aber in Diskontinuität zu seiner dogmatischen Entartung und seinem ideologischen Mißbrauch, in einer Gesellschaft, die sich sozialistisch nannte.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich wissenschaftlich der Friedensgestaltung über gesellschaftliche Einflüsse zu nähern. Exemplarisch sei auf Johan Galtung und die von ihm und seiner Schule vertretene Friedens- und Konfliktforschung verwiesen.1 Die vorliegende Arbeit wählt andere Ausgangspunkte, ohne den oben genannten oder auch andere pazifistische Sichtweisen abzulehnen oder in Frage zu stellen. Sie versteht sich als Teil eines Ganzen, setzt aber ihre eigenen Schwerpunkte.

Erstens geht es darum, den ökonomischen Ansatz, der aus den Produktionsverhältnissen heraus auf die politisch bedingten Erscheinungen Frieden und Krieg schaut, konsequent auf die untergegangene „sozialistische“ Gesellschaft anzuwenden und ihn fruchtbar zu machen.

Zweitens geht es darum, das Verhältnis von innerem und äußerem Frieden zu bestimmen, ein Verhältnis das erst schmerzhaft ins Bewußtsein der ← 8 | 9 → Herrschenden trat, als die „sozialistische“ Gesellschaft am inneren Unfrieden, an ihren Widersprüchen, die es angeblich nicht gab, schon zerbrochen war.

Drittens geht es darum, die Ursachen für den Kalten Krieg, als bisher gefährlichsten Frieden der Menschheitsgeschichte zu analysieren und die Wege für das Aufkommen und die Überwindung konfrontativen Denkens in beiden Gesellschaftssystemen als Bewahrenswertes in Erinnerung zu behalten.

Welchen Zusammenhang entwarf die marxistisch-leninistische Philosophie, als sie sich ab Mitte der 1950er Jahre des Themas „Sozialismus und Frieden“, oder in seiner Umkehrung, des Themas „Imperialismus und Krieg“, annahm?

Mit der Oktoberrevolution, damals noch die große sozialistische genannt und möglichst als Eigenname groß geschrieben, sah man das Tor in einen qualitativ neuen gesellschaftlichen Zustand aufgestoßen. Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus, allesamt aufeinander folgende Ausbeutergesellschaften, auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhend und daher gewalttätig und kriegserzeugend, waren jetzt zum Untergang verurteilt. Denn eine neue Gesellschaft war im Entstehen begriffen. Jetzt wurde eine Gesellschaft gestaltet, die die tiefste Ursache für Kriege, nämlich das Privateigentum, beseitigt hatte und an seiner Statt über das gesellschaftliche Eigentum verfügte. Sozialismus und Frieden bildeten daher eine Einheit. Das gesellschaftliche Eigentum war der Grund für die neue Gesellschaftsqualität und der Grund für den von ihr ausgehenden qualitativ neuen Frieden. Sozialismus und Frieden waren wesensein.2 Diese von mir entworfene Kurzform der marxistisch-leninistischen Auffassung von Sozialismus und Frieden entbehrt vorerst jeglichen Entwicklungsgedankens. Sie ist eine Abstraktion, ein Angelpunkt, ohne den keine weiterführende Entwicklung von Gedanken ausgelöst werden kann. Sie reicht hin, um das Problem zu verdeutlichen, daß sich in folgender Frage aufdrängt. Warum ging diese strahlende, die Menschen erlösende, befreiende und reich machende Gesellschaft des Friedens unter?

Geht man dieser Frage nach, so kann man den Zusammenhang von „Sozialismus“ und Frieden neu entwerfen. Die große Schwierigkeit besteht darin, zwei leicht dahin gesprochene Begriffe zueinander ins Verhältnis zu setzen, hinter denen Epochen der Menschheitsgeschichte stehen. Eine Analyse des gesellschaftlichen Eigentums als Ursache für Sozialismus und Frieden kann aber nicht anhand einer Definition, die natürlich auch nötig ist und in einem ersten ← 9 | 10 → Kapitel entworfen wird, gelingen. Man muß sich die Mühe machen und in den historischen Prozeß hinabsteigen und „den Pudding mittels des Essens prüfen“. Und man kann nicht beim Eigentum stehen bleiben, sondern muß sich des Gesamtzusammenhangs, der Totalität der ökonomischen Bewegungsformen dieser Gesellschaft versichern, um von da aus auf die Qualität von Frieden und den Krieg zu schließen. Ich bitte den Leser daher um Geduld. Der Frieden gerät nicht aus dem Blick. Aber es muß erst einmal die gesellschaftliche Entwicklung bis zu einem Punkt verfolgt werden, an dem die Konturen der neuen Gesellschaft und ihres Fundamentes deutlich werden, bevor man versuchen kann, über den Zusammenhang zum Frieden und zum Krieg zutreffendes zu sagen. Das zweite Kapitel umfaßt deshalb den Zeitraum von 1917 bis 1928. In diese Zeitspanne fällt die Revolution, der Kriegskommunismus, der Übergang zur- und das Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP). Das Jahr 1928 leitet über in eine „zweite Revolution“. Hier endet eine erste Etappe und eröffnet den Blick auf die politischen Funktionen von Frieden und Krieg nach außen und deutliche Anzeichen eines inneren Unfriedens. Das dritte Kapitel umfaßt den Zeitraum des sowjetischen Totalitarismus von 1929 bis 1953. Hier bildet sich das ökonomische Fundament und ihm entsprechende politische, ideologische Formen der „sozialistischen“ Gesellschaft. Mit dem Tod Stalins setzt zwar ein Umbruch ein, der jedoch die Grundlagen dieser Gesellschaft unangetastet läßt. Innerer und äußerer Frieden (und Krieg) haben in diesem Zeitraum verschiedene Stadien durchlaufen und lassen Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu.

Das Aufbrechen des Kalten Krieges und seine Überwindung, die Entwicklung Chinas bzw. der Volksrepublik China und des sozialistischen Staatensystems, exemplarisch dargestellt an der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik, fallen dann in das vierte Kapitel, das den Zeitraum von 1953 bis 1990 umfaßt. Teils wird hier ein Rückgriff in die Vorperiode nötig sein, aber das tut der Sache keinen Abbruch, da aus einem anderen Blickwinkel die gefundenen Schlüsse noch plastischer hervortreten. ← 10 | 11 →

                                                   

  1  J. Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln, agenda Verlag, 2007.

  2  Autorenkollektiv, Frieden Krieg Streitkräfte, Militärverlag der DDR, 1989, S. 132f. bzw. vgl. E. Hocke, W. Scheler, Die Einheit von Sozialismus und Frieden, Dietz Verlag, 1977, S. 135f.

Erstes Kapitel: Sozialismus und gesellschaftliches Eigentum

1.1 Der Begriff des Sozialismus

Details

Seiten
214
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653049039
ISBN (ePUB)
9783653974263
ISBN (MOBI)
9783653974256
ISBN (Hardcover)
9783631656358
DOI
10.3726/978-3-653-04903-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Sozialismus Staatskapitalismus Totalitarismus Marxismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 214 S.

Biographische Angaben

Ulrich Knappe (Autor:in)

Ulrich Knappe ist Hochschulingenieur und Diplomgesellschaftswissenschaftler. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die marxistisch-leninistische Philosophie, Philosophiegeschichte und die Entwicklung von Auffassungen zu Krieg und Frieden.

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Titel: Alter, neuer Kalter Krieg?
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