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Strafverteidigung in Wirtschaftsstrafverfahren zwischen Rechtsmissbrauch, Konflikt und Konsens

von Kerstin Petermann (Autor:in)
©2015 Dissertation XIV, 260 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit ging aus dem Forschungsprojekt des Instituts für Rechtstatsachenforschung der Universität Konstanz und dem Justizministerium Baden-Württemberg über die Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern hervor. Die Autorin beschränkt sich auf den Teilbereich der Strafverteidigung und legt dabei den Fokus auf die Frage nach den Grenzen zulässigen Verteidigerhandelns. Unter Rekurs auf dogmatische Grundlagen werden anhand der gewonnenen empirischen Erkenntnisse die in der kriminalpolitischen Diskussion verwendeten Begriffe von Rechtsmissbrauch, Konflikt und Konsens untersucht. Auf dieser Grundlage werden mögliche Reaktionen auf rechtsmissbräuchliches Verteidigerhandeln sowohl anhand der geltenden Gesetzeslage als auch durch die Einführung neuer gesetzlicher Regelungen diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Erster Teil: Grundlagen des Missbrauchs prozessualer Rechte, der Konfliktverteidigung und einer konsensualen Verteidigung
  • Erstes Kapitel: Gegenstand und Gang der Untersuchung
  • A. Konzeption der Untersuchung
  • I. Das Forschungsprojekt über die „Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern“
  • II. Der systemtheoretische Ansatz
  • III. Gang der Untersuchung
  • B. Idealtypen des Verteidigungsverhaltens
  • I. Wesen der Idealtypen
  • II. Die Bildung von Idealtypen zur Beantwortung der Untersuchungsfrage
  • Zweites Kapitel: Theoretische Grundlagen der Untersuchung
  • A. Strafverteidigung in Wirtschaftsstrafverfahren
  • I. Strafrechtsdogmatische Definition
  • II. Begriffsbestimmung anhand der Angriffsrichtung der Wirtschaftskriminalität
  • III. Kriminologische Definitionsansätze
  • 1. „White-Collar Crime“
  • 2. „Occupational Crime“ und „Corporate Crime“
  • IV. Der strafprozessual-kriminaltaktische Begriff des § 74c GVG
  • B. „Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens
  • I. Umfang der Wahrheitsermittlung im Strafprozess
  • 1. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit
  • 2. Die Diskurstheorie der Wahrheit
  • II. Festsetzung des zugrunde zu legenden Wahrheitsbegriffes
  • III. (Un-)Erreichbarkeit der materiellen Wahrheit
  • 1. Normative Grenzen der Wahrheitsermittlung: Gewährleistung eines rechtsstaatlichen und justizförmigen Verfahrens
  • 2. Folgen der begrenzt möglichen Wahrheitsermittlung
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Die verfahrensrechtliche Stellung des Strafverteidigers
  • I. Die „klassische“ Organtheorie
  • II. „Eingeschränkte“ Organtheorie
  • III. Die Interessenvertretertheorie
  • IV. Die Vertragstheorie
  • V. Thesen der Bundesrechtsanwaltskammer
  • VI. Konkretisierung anhand gesetzlicher Vorgaben
  • VII. Zwischenergebnis und Anmerkungen
  • Drittes Kapitel: Missbrauch prozessualer Rechte, Konfliktverteidigung und konsensuale Verteidigung
  • A. Der Missbrauch prozessualer Rechte
  • I. Allgemeines Missbrauchsverbot
  • 1. Herleitung und Begründung des allgemeinen Missbrauchsverbots
  • 2. Inhaltsbestimmung des allgemeinen Missbrauchsbegriffs
  • 3. Inhaltliche Ausgestaltung des Kriteriums der Zweckwidrigkeit
  • a. Prozessfremdes und prozesswidriges Verhalten
  • b. Verteidigungs- und verfahrensfremdes Verhalten
  • c. Externe und interne Handlungen
  • d. Objektiv und subjektiv rechtsmissbräuchliches Verhalten nach der Lehre vom institutionellen Rechtsmissbrauch
  • 4. Adressat des allgemeinen Missbrauchsverbots
  • 5. Anwendungsbereich des allgemeinen Missbrauchsverbots
  • 6. Übertragung auf „Rechtsmissbräuchliches Verteidigungsverhalten“
  • II. Die Bildung des Idealtyps
  • III. Bedeutung der Zweckwidrigkeit
  • IV. Einwendungen gegen ein allgemeines Missbrauchsverbot
  • 1. Unbestimmtheit des Missbrauchsverbots
  • 2. Ermangelung einer dogmatischen Grundlage
  • 3. Erkennbar entgegenstehender Wille des Gesetzgebers
  • B. Konfliktverteidigung
  • I. Konfliktverteidigung als Missbrauch der Verfahrensrechte?
  • 1. Verteidigungsstrategien nach Jahn
  • a. Definition und Erscheinungsformen der Konfliktverteidigung
  • b. Eignung der Konfliktverteidigung
  • 2. Zwischenergebnis
  • II. Konfliktverteidigung als konfliktbereite Verteidigung
  • 1. Begriffliche Annäherung
  • 2. Das Strafverfahren als symbolische Inszenierung eines Konflikts
  • III. Die Bildung des Idealtyps
  • C. Konsensuale Verteidigung
  • I. Wirtschaftsstrafverfahren als Beispiel eines konsensualen Prozessmodells
  • II. Zum Begriff der konsensualen Verteidigung
  • III. Inhaltliche Ausgestaltung
  • 1. Unterschiedliche Bezugspunkte des Dialogs
  • a. Verfahrenserledigende Urteilsabsprachen
  • aa. Inhalt und Zustandekommen der Verständigung
  • bb. Verfahrenserledigende Absprachen und materielle Wahrheit
  • b. Weitere Formen konsensualer Verfahrensbeendigung
  • aa. Einstellung aus Opportunitätsgründen
  • bb. Strafbefehlsverfahren
  • 2. Sonstige Erscheinungsformen konsensualer Verteidigung
  • IV. Zusammenspiel von Konfliktverteidigung und konsensualer Verteidigung
  • V. Idealtyp konsensuale Verteidigung
  • D. Zwischenergebnis
  • Zweiter Teil: Die methodische Konzeption der Untersuchung und die Musterverfahren
  • Erstes Kapitel: Methoden der Sozialforschung und bisherige empirische Untersuchungen
  • A. Methoden der Sozialforschung
  • B. Bisherige empirische Forschung
  • I. Die Untersuchung von Barton
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • II. Die Untersuchung von Nehm und Senge
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • III. Die Untersuchung von ter Veen
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • IV. Die Untersuchung von Vogtherr
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • V. Die Untersuchung von Perron
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • VI. Die Untersuchung von Dölling u.a.
  • 1. Methodische Konzeption
  • 2. Relevante Erkenntnisse
  • 3. Stellungnahme
  • VII. Sonstige quantitative Ansätze
  • VIII. Zwischenergebnis
  • C. Die Methode der Wahl
  • I. Ungeeignetheit eines quantitativen Forschungsansatzes zur Beantwortung der Untersuchungsfrage
  • II. Der qualitative Ansatz als Methode der Wahl
  • 1. Grounded Theory
  • 2. Auswahl der Verfahren und Ablauf der Untersuchung
  • a. Die Aktenanalyse
  • b. Das qualitative Experteninterview
  • c. Auswertung der Daten
  • 3. Gütekriterien qualitativer Sozialforschung
  • Zweites Kapitel: Die untersuchten Strafverfahren
  • A. Das Verfahren A
  • I. Die Verfahrensbeteiligte und die Angeklagten
  • II. Das „System A“
  • III. Besonderheiten des Verfahrens
  • B. Das Verfahren B
  • I. Die Angeklagten
  • II. Das Tatgeschehen
  • III. Besonderheiten des Verfahrens
  • C. Das Verfahren C
  • I. Der Angeklagte
  • II. Das Tatgeschehen
  • III. Besonderheiten des Verfahrens
  • Dritter Teil: Die Erkenntnisse der empirischen Untersuchung und deren Bedeutung für die Diskussion um rechtsmissbräuchliches Verteidigungsverhalten
  • Erstes Kapitel: Darstellung und Analyse der empirischen Befunde
  • A. Idealtypisches Verteidigungsverhalten in Wirtschaftsstrafverfahren
  • I. Missbrauch der Verfahrensrechte
  • 1. Rechtsmissbrauch bei formal korrekter Wahrnehmung der Verteidigungsbefugnisse
  • 2. Die Zweckwidrigkeit als konstituierendes Element des Rechtsmissbrauchs
  • II. Konfliktverteidigung als konfliktbereite Verteidigung
  • 1. Konfliktverteidigung als Pflicht des Verteidigers
  • 2. Einbringung eines gegenläufigen Wahrheitsbildes und der eigenen Rechtsauffassung
  • 3. Verteidigung im Blickwinkel der Revision
  • 4. Faktoren konfliktträchtigen Verteidigungsverhaltens
  • a. Professionalität der Verfahrensbeteiligten
  • aa. „Unvorsätzliche“ Konfliktverteidigung
  • bb. Die „Qualität“ der Richter
  • b. Ortsansässige und ortsfremde Verteidiger
  • c. Einfluss der finanziellen Ressourcen
  • III. Konsensuale Verteidigung
  • 1. Bezugspunkt des Konsenses
  • 2. Zeitpunkt des Konsenses
  • 3. Strategische Überlegungen
  • 4. Parameter einer konsensualen Verteidigung
  • a. Das Verhandlungsklima
  • b. Die finanzielle Seite einer konsensualen Verfahrenserledigung
  • c. Untersuchungshaft als „Motor“ einer konsensualen Verteidigung
  • d. Voraussetzungen des Konsenses
  • 5. Gewinn durch Konsens für die Verteidigung und den Mandanten
  • 6. Gefahren einer Verständigung
  • 7. Konsens als Richtigkeitsgewähr
  • IV. Zwischenergebnis
  • B. Relevantes Verteidigungsverhalten
  • I. Sockelverteidigung als Teil der Verteidigungsstrategie
  • 1. Der Aufbau einer Sockelverteidigung
  • 2. Risiken und Zulässigkeit der Sockelverteidigung
  • II. Das Recht, einzelne Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen
  • 1. Befangenheit als Ablehnungsgrund
  • 2. Verwerfung des Ablehnungsantrages
  • III. Das Beweisantragsrecht
  • 1. Das Stellen von Beweisanträgen
  • 2. Motive der Verteidigung
  • 3. Zweckmäßige und zweckwidrige Beweisanträge
  • 4. Einfluss auf das Verfahren
  • a. Beschleunigter Abschluss des Verfahrens durch Wahrnehmung des Beweisantragsrechts
  • b. Verzögerter Abschluss des Verfahrens durch Wahrnehmung des Beweisantragsrechts
  • c. Erfüllen des Beweisbegehrens
  • 5. Ablehnung eines Beweisantrags
  • C. Das Verteidigungsverhalten in den Musterverfahren
  • I. Relevante Befangenheitsanträge in den Musterverfahren
  • 1. Gegenstand der Befangenheitsanträge
  • 2. Bewertung der Verfahrensbeteiligten
  • 3. Zuordnung der Befangenheitsanträge zu den Idealtypen
  • II. Das Beweisantragsverhalten in den Musterverfahren
  • 1. Allgemeines
  • 2. Ausgewählte Beweisanträge
  • a. Der Betrugsvorwurf
  • b. Erkenntnisse der Aktenanalyse
  • aa. Der „Gabelstaplerantrag“
  • bb. Professoren als Zeugen
  • c. Idealtypische Zuordnung anhand der Aktenanalyse
  • d. Erkenntnisse aus den Interviews
  • III. Die Schwierigkeiten der idealtypischen Zuordnung einzelner Verteidigungsphänomene
  • 1. Subjektivität der Zweckbestimmung
  • 2. Zweckbestimmung bei Vorliegen eines Motivbündels
  • IV. Zwischenergebnis
  • V. Idealtypische Qualifizierung einer Verteidigungsstrategie
  • 1. Übergang von Konfrontation zu Konsens
  • 2. Die Weiterentwicklung der Verteidigungsstrategie im Verfahren A
  • a. Entstehung des Konflikts
  • b. Erreichen eines Konsenses
  • VI. Zwischenergebnis
  • Zweites Kapitel: Umgang und Unterbindung rechtsmissbräuchlichen Verteidigungsverhaltens
  • A. Missbrauchsreaktion de lege lata
  • I. Allgemeine Missbrauchsklausel im Beweisantragsrecht
  • II. Spezielle Missbrauchsklauseln
  • 1. Die speziellen Missbrauchsklauseln
  • 2. Geeignetheit der speziellen Missbrauchsklauseln am Beispiel der Musterverfahren
  • III. Zwischenergebnis
  • B. Möglichkeiten de lege ferenda
  • I. Normierung einer allgemeinen Missbrauchsklausel
  • 1. Bedürfnis einer gesetzlichen Regelung
  • 2. Inhaltliche Ausgestaltung einer allgemeinen Missbrauchsklausel
  • 3. Einwände gegen eine gesetzlich normierte allgemeine Missbrauchsklausel
  • a. Zweckwidrigkeit und Objektivität der Missbrauchsklausel
  • b. Sonstige Einwände
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Normierung zusätzlicher spezieller Missbrauchstatbestände
  • 1. „Fristenlösung“ im Beweisantragsrecht
  • a. Normierung der „Fristenlösung“
  • b. Geeignetheit und Notwendigkeit der „Fristenlösung“
  • 2. Einführung weiterer spezieller Normen zur Verhinderung des Rechtsmissbrauchs
  • III. Zwischenergebnis
  • Zusammenfassung und Ausblick
  • Anhang
  • Literaturverzeichnis

← xiv | 1 → Einleitung1

In Strafverfahren aus den Bereichen Wirtschaftskriminalität, Terrorismus und organisierte Kriminalität wird neben tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten auch das Verteidigerverhalten bzw. die umfassende Ausübung der Beschuldigtenrechte immer wieder als Mitursache für die lange Verfahrensdauer angeführt. 2 Der Verteidigung wird mitunter vorgeworfen, sie agiere in einer Art und Weise, die den Abschluss des Verfahrens oder zumindest die Herbeiführung einer Entscheidung in angemessener Zeit gegen ihren Willen infrage stelle. 3 Dabei wird beklagt, dass die Gerichte an ihre Kapazitätsgrenzen stießen, wenn die Verteidigungsrechte zwar formal korrekt ausgeübt würden, tatsächlich aber die Wahrheitsfindung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren als Ziel des Strafverfahrens nicht weiter verfolgt werde. 4 Die negative Entwicklung wird unter anderem der „Flut“ von Beweisanträgen zugeschrieben, die mit den Instrumentarien des geltenden Rechts kaum noch handhabbar sei. 5 Erst jüngst führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass extensiv einsetzbare Verfahrensrechte der Verteidigung zahlreiche Möglichkeiten bieten würden, den Fortgang des Verfahrens zu erschweren. 6 Insbesondere ← 1 | 2 → Befangenheits- und Beweisanträge sowie das Fragerecht könnten zu diesem Zweck missbraucht werden. Eine Verteidigungsstrategie ausgerichtet auf sachwidrige Konfrontation, Verfahrenserschwerung oder Provokation diene weder den Interessen des Mandanten noch dem Interesse der Allgemeinheit an einem fairen, zügigen und rechtsstaatlichen Strafverfahren. 7 Seit Jahrzehnten wird behauptet, dass sich der Strafprozess in einer Krise befinde, die Strafverfolgungsbehörden hilf- und wehrlos seien und die Strafjustiz einen Kollaps erleide. 8 In dieser andauernden Diskussion wird den Strafverteidigern vorgeworfen, sie versuchten das Verfahren und zur Not auch die hieran Beteiligten in einem „Mehrfrontenkrieg zu zertrümmern“. 9

Als Beispiel für den problembehafteten Umgang mit einer unliebsamen Verteidigung kann ein Verfahren vor dem LG Wiesbaden dienen. 10 Nachdem die Angeklagte in erster Instanz vor dem AG Wiesbaden teilweise freigesprochen worden war, legte die Staatsanwaltschaft gegen diesen Teilfreispruch Berufung ein mit dem Ziel der Verurteilung zu einer höheren Strafe und der Aufhebung des Teilfreispruches. Das LG verwarf die Berufung der Staatsanwaltschaft, obwohl die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gekommen war, dass die Angeklagte auch diese Tat begangen hatte. Nachdem das Verfahren in der Berufungsinstanz nach drei Verhandlungstagen noch nicht abgeschlossen werden konnte, sah sich das LG Wiesbaden nicht in der Lage, bei der geführten „Konfliktverteidigung“ der Berufung der Staatsanwaltschaft stattzugeben. Ungeachtet dessen, dass diese Entscheidung zu Recht unisono auf Kritik und Ablehnung gestoßen ist, 11 vermag sie den Blick auf das zugrunde liegende Problem des Umgangs mit „unbequemen“ Formen der Verteidigung zu lenken.

← 2 | 3 → Die Liste solcher problembehafteten Fälle lässt sich durchaus fortführen.12 Man denke nur an den Düsseldorfer Kurdenprozess, der nach 353 Verhandlungstagen zu Ende gebracht wurde,13 an den Stuttgarter Rechtsextremistenprozess14 oder die linksextremistischen Terroristenprozesse in den 1970er Jahren.15 Seither ist die fachliche Diskussion um Konfliktverteidigung und den Missbrauch von Verfahrensrechten nicht abgerissen.16 Nicht zuletzt durch medienwirksame Prozesse, wie etwa den „Kachelmann-Prozess“, rückt die Diskussion zunehmend auch in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.17← 3 | 4 →

______________________

1 Die vorliegende Arbeit ist aus dem Forschungsprojekt des Instituts für Rechtstatsachen Forschung und dem Justizministerium Baden Würrtemberg über die „Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern“ hervorgegangen. Im Zusammenhang mit diesem Forschungsprojekt ist eine Abschlusspublikation im Erscheinen, in der die Verfasserin ihre Erkenntnisse aus der vorliegenden Arbeit darstellt.

2Ankermann DRiZ 1993, 67; Münchner Anwaltshandbuch Wirtschafts- und Steuerstrafsachen/Grunst/Volk § 1, Rn. 37; siehe zu dieser Einschätzung auch Hirsch, Die Initiative zum Dialog, S. 11; Kintzi DRiZ 1994, 325; Landau, Das Beschleunigungsgebot, S. 40 f.; Meyer-Goßner/Ströber ZRP 1996, 354 (356); Senge NStZ 2002, 225 (227); ter Veen StV 1997, 374; Wassermann Kriminalistik 1984, 20 (21); ders. NJW 1994, 1106 (1107). Kritisch Dahs, FS-Odersky, S. 318; Handbuch des FA/Köllner 1. Teil Rn. 77 ff., vgl. auch Jahn, Konfliktverteidigung, S. 94 f.; Stern AnwBl 1997, 90.

3Wohlers, Die Reaktion auf missbräuchliches Verteidigungsverhalten, S. 46.

4 BGH NStZ 2005, 341; 2009, 168; BGH NStZ-RR 2007, 21 (22). Vgl. Breidling StraFo 2010, 398 (399 f.).

5Landau NStZ 2007, 121 (122). Bereits Herdegen, GS-Meyer, S. 187 sieht den Grund für die Opposition gegen das Beweisantragsrecht in seiner ausufernden Verwendung.

6 BVerfG 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 Urteil vom 19.3.2013, S. 4.

7 BGH NStZ-RR 2009, 207; zustimmend Breidling StraFo 2010, 398 (399 f.).

8 Aus neuerer Zeit BGHSt 50, 40 (53 f.). So bereits LG Wiesbaden NJW 1995, 409; Ankermann DRiZ 1993, 67 ff.; Bertram ZRP 1996, 46 (48); differenzierend hierzu Beulke, FS-Amelung, S. 557; ders., Strafverteidigung im Spannungsfeld, S. 154; ders. StV 2009, 554 (555); Bittmann ZRP 2001, 441 (442 f.); Fischer NStZ 1997, 212; ders. NStZ 2007, 433; ders. StV 2010, 423 (424); Hamm StV 1994, 456; Hettinger, FS-Müller, S. 269 ff.; kritisch KMR/Hiebl Vor § 137 Rn. 29; Kintzi DRiZ 1994, 325 (326); Landau NStZ 2007, 121 (122); Rebmann DRiZ 1979, 363 (369); Rieß NStZ 1994, 409 (410); ähnlich Schulte-Kellinghaus DRiZ 2007, 141 (142); Sommer, Effektive Strafverteidigung, S. 256 f. Bereits Gallas ZStW 53 (1934), 256 (270) gab zu bedenken, dass ein praktisches Bedürfnis bestehe, die Strafrechtspflege vor einer missbräuchlichen Ausnutzung der Verteidigerstellung zu schützen.

9Ankermann DRiZ 1993, 67.

10 LG Wiesbaden NJW 1995, 409.

11 Siehe hierzu z.B. Beulke, FS-Amelung, S. 551; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, S. 4; Fischer NStZ 1997, 212 (215) („in der Sache verfehlt“); Jahn, Konfliktverteidigung, S. 21 („offensichtlich haltlos“); ders. ZRP 1998, 103 (104); Niemöller StV 1996, 501 (506) dort Fn. 83; Schaefer NJW 1995, 1723 (1724); Scheffler NStZ 1996, 67 (69 f.), SK-StPO/Wohlers Vor §§ 137 ff. Rn. 62; Wohlers, Die Reaktion auf missbräuchliches Verteidigungsverhalten, S. 45; Widmaier, 50 Jahre BGH Festgabe, S. 1044 dort Fn. 10.

12 Siehe zu weiteren Beispielen Heinrich, Konfliktverteidigung im Strafprozess, S. 7.

13 Urteil des OLG Düsseldorf v. 07.03.1994.

14 Siehe hierzu ausführlicher Berg DRiZ 1994, 380; Ehrmann DPolBl 1994, 29; Wassermann NJW 1994, 1106. Nach wiederholtem Hinweis auf den beabsichtigten Abschluss der Beweisaufnahme erklärte die Kammer nach ca. einem halben Jahr, dass sie keine weitere Beweiserhebung beabsichtige. Im Anschluss bot sich ein als „unwürdig“ bezeichnetes „Spiel“, sodass auch nach weiteren zwei Jahren ein Abschluss des Verfahrens nicht in Sicht gewesen sei. Einer der Verteidiger stellte in Aussicht, die Vernehmung von mindestens 400 weiteren Zeugen zu beantragen. Nachdem das Gericht über 100 „unergiebige“ Zeugen gehört hatte, wurden die weiteren Anträge wegen Prozessverschleppung abgelehnt. Als Antwort auf abgelehnte Beweisanträge seien Befangenheitsanträge gestellt worden und als Reaktion auf deren Ablehnung erneute Befangenheitsanträge. Das Gericht habe durch die „rechtsmissbräuchlichen“ Anträge „weich gekocht“ werden sollen. Aufgrund der Erkrankung einer Schöffin wurde das Verfahren nach drei Jahren Verhandlungsdauer ausgesetzt.

15Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten; Dahs NJW 1994, 909; Ostendorf NJW 1978, 1345; Wassermann NJW 1994, 1106 (1107).

16 Aus der umfassenden Literatur eingehend hierzu Dornach, Der Strafverteidiger als Mitgarant; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß; Jahn, Konfliktverteidigung. Siehe zur erstmaligen Verwendung des Begriffs der Konfliktverteidigung Hassemer ZRP 1980, 326 (327); ders. StV 1982, 377 (382). Vgl. auch Kempf, FS-Hassemer, S. 1041 ff.

17 Die Tätigkeit des Verteidigers, RA Johann Schwenn, wurde in den Medien wiederholt als „Konfliktverteidigung“ bezeichnet. Beispielsweise hierzu: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/kachelmanns-anwalt-fordert-freispruch/4214032.html; http://www.tagesschau.de/inland/kachelmannprozess102.html; http://www.stern.de/panorama/ende-des-prozesses-die-faszination-des-falls-kachelmann-1689774.html.

← 6 | 7 → Erstes Kapitel: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Weder diese Vorwürfe, das Verwenden von Begriffen wie „Amok- oder Chaosverteidigung“18 noch Urteilsverkündungen, die mit dem Zusatz versehen werden, eine weniger konfliktreiche Verteidigung hätte dem Angeklagten „nur“ eine Bewährungsstrafe beschert,19 vermögen einen Beitrag zur Klärung der eigentlichen Problematik zu leisten, wie auch umfangreiche Verfahren zu einem Abschluss gebracht werden können. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die bisherige dogmatische Diskussion um einen geeigneten Umgang mit unterschiedlichen Verteidigungsformen um neue Erkenntnisse anzureichern und auf einer fundierten empirischen Grundlage weiterzuführen. Wie sich eingangs gezeigt hat, erscheint dies umso dringlicher, als die Begrifflichkeiten des „Rechtsmissbrauchs“ und der „Konfliktverteidigung“ in der bisherigen Diskussion als reine Schlagworte eingesetzt werden, ohne einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion zu leisten.

A. Konzeption der Untersuchung

I. Das Forschungsprojekt über die „Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern“

Die vorliegende Untersuchung ist aus dem Forschungsprojekt über die „Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern“ des Instituts für Rechtstatsachenforschung der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium Baden-Württemberg hervorgegangen. Ziel dieses Forschungsprojekts ist es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Wirtschaftsstrafkammern innerhalb des Zwischen- und Hauptverfahrens operieren, um die ihnen obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass den Wirtschaftsstrafkammern im Falle einer Anklage – systemtheoretisch gewendet – die Aufgabe zukommt, außerstrafrechtliche wirtschaftliche Komplexität zu reduzieren ← 7 | 8 → und eine abschließende Verfahrensentscheidung zu treffen, die den Konflikt zwischen Beschuldigten20 und dem strafenden Staat einer Lösung zuführt.21 Im Rahmen des Forschungsprojekts wird der Frage nachgegangen, wie die Gerichte versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei ist von Interesse, wie die Kammern zum einen die Vielzahl der anhängigen Verfahren und zum anderen Umfang und Komplexität der einzelnen Verfahren bewältigen. Für die vorliegende Untersuchung sind allen voran die Erkenntnisse von Bedeutung, die sich auf den Einfluss des Verteidigungsverhaltens beziehen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts über die „Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern“ wurden drei Wirtschaftsstrafverfahren eingehend untersucht. Um die Diskussion auf einer empirisch fundierten Grundlage führen zu können, wurden sowohl die zur Verfügung gestellten Verfahrensakten eingehend analysiert als auch Interviews mit Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern geführt, die an diesen Verfahren beteiligt waren. Sowohl die Konzeption der empirischen Untersuchung als auch der Selektionsprozess, der zur Auswahl der gegenständlichen Verfahren geführt hat, werden in einem eigenen Kapitel ausführlicher dargestellt.22

II. Der systemtheoretische Ansatz

Da der vorliegende Untersuchungsansatz demnach nicht auf Gewinnung dogmatischer Lösungen gerichtet ist, sondern der beabsichtigte Erkenntnisgewinn vielmehr auf den Ergebnissen der empirischen Sozialforschung basiert, sind die für diese Diskussion notwendigen Grundlagen nicht allein anhand einer rein dogmatischen Perspektive aus sich selbst heraus zu betrachten. Hilfreiche Impulse für die Beantwortung der Untersuchungsfrage verspricht die Systemtheorie. Ohne dass die Notwendigkeit besteht, den systemtheoretischen Ansatz vertieft darzustellen, sollen nur einige wenige Aspekte herausgegriffen werden, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind.23 Das von Luhmann maßgeblich geprägte systemtheoretische Verständnis ist eine Gesellschaftstheorie, ← 8 | 9 → in der die Gesellschaft ein umfassendes Sozialsystem darstellt, das alle anderen sozialen Systeme einschließt.24 Das Rechtssystem sei ein Teilsystem der Gesellschaft, das neben anderen Systemen wie beispielsweise Politik, Wirtschaft, Religion, Erziehung oder Kunst bestehe.25 Der Systemtheorie nach Luhmann liegt das Verständnis zugrunde, dass die Gesamtheit aller Möglichkeiten eine nicht erfassbare Vielfalt aufweist und als solche übermäßig komplex ist.26 Diese Komplexität werde in den verschiedenen Systemen reduziert. Das Rechtssystem ist nach Luhmann ein selbstreferentielles autopoietisches (autos = selbst; poiein = machen) System.27 Selbstreferentielle, in sich geschlossene Systeme reproduzierten alle Elemente, aus denen sie bestehen, aus den Elementen, aus denen sie bestehen, selbst.28 Als ein solches reflexives autopoietisches System beobachte, beschreibe und reproduziere sich das Rechtssystem selbst.29 Auf diese Art und Weise erfolge fortlaufend eine Selbstbeobachtung, die die „Identität“ des Systems selbst erzeuge und ihre eigene „Identität“ als Tautologie wahrnehme.30 Um trotz dieser Tautologie eine Selbstbestimmung zu ermöglichen, grenzen sich die selbstreferentiellen Systeme von ihrer Umwelt ab. Hierfür sei die Differenz von System und Umwelt entscheidend.31 Luhmann betont dabei, dass die Möglichkeit der Selbstreferenz und die Autonomie der Systeme nicht dahingehend verstanden werden dürften, dass diese isoliert betrachtet werden könnten oder unabhängig von ihrer Umwelt operierten.32 Da jedes geschlossene System seine ← 9 | 10 → eigene Funktion erfülle, seien diese darauf angewiesen, dass die anderen Funktionen in anderen Systemen auf einem hinreichenden Niveau erfüllt würden und dass deren jeweilige Ausgestaltung nicht zu Friktionen führe.33

Autopoietische Systeme sind demnach stets in Relation zu ihrer Umwelt zu betrachten. Dieses Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt wird als Gegenstand der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie qualifiziert.34

Mithilfe der empirischen Sozialforschung soll hingegen der Standpunkt eines externen Beobachters eingenommen werden, der das System Recht von außen betrachtet.35 Zum Gegenstand dieser Fremdbeobachtung wird sowohl die Selbstreflexion des jeweiligen Systems als auch die dieser Selbstreferenz zugrunde liegende juristische Dogmatik. Durch diese Fremdanalyse eines bestimmten Systemausschnitts sollen neue Impulse für die Selbstbeobachtung des Systems gewonnen werden.36 Das Forschungskonzept der Untersuchung weist jedoch sowohl durch die Auswahl der Probanden als auch der Forscher eine Besonderheit auf, die darin liegt, dass die Beobachtung des Systems nicht durch gänzlich externe Unbeteiligte erfolgt. Die vorliegende rechtstatsächliche Beobachtung legt vertiefte Fachkenntnis der Probanden und der Forscher zugrunde, sodass keine rein externe Beobachtung erfolgt. Die Probanden und die Forscher sind jeweils Teil des Systems Recht und beobachten dieses System auch aus sich selbst heraus, sodass die Selbstreflexion nicht nur Teil der Fremdbeobachtung, sondern auch der Selbstbeobachtung wird. Da sich das Rechtssystem systemtheoretisch gewendet aus dieser Reflexion selbst reproduziert, können diese Erkenntnisse der Fortentwicklung des Rechts neue Denkanstöße liefern.

Details

Seiten
XIV, 260
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653048759
ISBN (ePUB)
9783653974362
ISBN (MOBI)
9783653974355
ISBN (Hardcover)
9783631656303
DOI
10.3726/978-3-653-04875-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Wirtschaftsstrafkammer dogmatische Grundlagen geltende Gesetzeslage missbräuchliches Verteidigerhandeln
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XIV, 260 S.

Biographische Angaben

Kerstin Petermann (Autor:in)

Kerstin Petermann studierte Rechtwissenschaft an der Universität Konstanz und war danach am Landgericht Stuttgart tätig. Am Konstanzer Institut für Rechtstatsachenforschung forschte sie über die Arbeitsweise der Wirtschaftsstrafkammern. Seit Oktober 2013 ist sie als Rechtsanwältin zugelassen.

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