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Pränatale Schädigungen mit postnatalen Folgen

Überlegungen zu einem neuen Schutz- und Haftungskonzept unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Rechtslage

von Christine Robben (Autor:in)
©2015 Dissertation 294 Seiten

Zusammenfassung

Pränatale Schädigungen stehen bereits seit dem Contergan-Skandal in der Diskussion, haben jedoch in den letzten Jahren aufgrund des medizinischen Fortschritts und einer aus den Vereinigten Staaten stammenden Debatte über den Umgang mit schädigenden Verhaltensweisen einer schwangeren Frau neue Impulse erhalten. Die Arbeit untersucht die verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Schutz des sich entwickelnden menschlichen Lebens und analysiert die vorhandenen Regelungen im einfachen Recht. Insbesondere der strafrechtliche Schutz gegen pränatale Einwirkungen, die zu postnatalen Gesundheitsschädigungen führen, erweist sich als unvollständig. Vor diesem Hintergrund wird ein eigenständiges Schutz- und Haftungskonzept entwickelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Medizinisch-ethische Grundlagen und Begriffe
  • I. Terminologie und medizinische Grundlagen
  • 1. Embryo / Fötus
  • 2. Schwangere Frau
  • 3. Fötale Therapie
  • 4. Statistische Erfassung
  • II. Ethische Bewertung des ungeborenen menschlichen Lebens
  • 1. Beginn einer unbedingten Schutzwürdigkeit mit der Befruchtung
  • a. Spezieszugehörigkeit
  • b. Kontinuität
  • c. Identität
  • d. Potentialität
  • e. Zusammenschau
  • 2. Ablehnung der Schutzwürdigkeit des frühen Embryos
  • 3. Abgestufte Schutzbedürftigkeit
  • a. Embryonale Entwicklung
  • b. Anknüpfungspunkte der Schutzwürdigkeit
  • 4. Stellungnahme
  • C. Der verfassungsrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens
  • I. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
  • 1. Persönlicher Schutzbereich
  • a. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • aa. Schwangerschaftsabbruch I – 25. Februar 1975, 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74
  • bb. Schwangerschaftsabbruch II – 28. Mai 1993, 2 BvF 2/90 und 4, 5/92
  • cc. Beginn des Lebens- und Gesundheitsschutzes
  • b. Auffassungen in der Literatur
  • aa. Soziologischer Ansatz
  • bb. Interessenorientierte Ansätze
  • cc. Objektiv-rechtlicher Ansatz
  • dd. Wachsende Schutzwürdigkeit
  • ee. Biologisch-physiologischer Ansatz
  • aaa. Geburt
  • bbb. Entwicklungsphasen zwischen der Nidation und der Geburt
  • ccc. Nidation
  • ddd. Individuation
  • eee. Fertilisation
  • fff. Stellungnahme
  • c. Subjektive Grundrechtsträgerschaft oder objektiv-rechtlicher Schutz?
  • 2. Sachlicher Schutzbereich
  • 3. Funktionen und Dimensionen des Grundrechtsschutzes
  • a. Staatliche Schutzpflicht
  • aa. Herleitung
  • aaa. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • bbb. Begründungsansätze im Schrifttum
  • (1) Ideengeschichtliche Herleitung
  • (2) Wortlaut-Argument
  • (3) Menschenwürde
  • (4) Abwehrrechtlicher Ansatz
  • (5) Grundrechtsschranken und Sozialstaatprinzip
  • (6) Fazit
  • bb. Tatbestand und Rechtsfolgen einer grundrechtlichen Schutzpflicht
  • aaa. Tatbestand
  • bbb. Rechtsfolgen
  • b. Fazit
  • 4. Schranken
  • 5. Fazit
  • II. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG
  • III. Kollidierende verfassungsrechtlich geschützte Rechte
  • 1. Schädigungen durch Dritte
  • 2. Schädigungen durch in einem Näheverhältnis stehende Dritte
  • 3. Schädigungen durch die schwangere Frau
  • a. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG
  • aa. Schutzbereich
  • bb. Eingriff
  • b. Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG
  • 4. Fazit
  • D. Strafrechtliches Schutzkonzept
  • I. Aufgabe und Relevanz des Strafrechts im Rahmen des pränatalen Gesundheitsschutzes
  • II. Schutzkonzept für das ungeborene Leben de lege lata
  • 1. Schutz der körperlichen Unversehrtheit beim geborenen Menschen
  • 2. Lückenhaftes Schutzsystem für die Leibesfrucht
  • a. Regelungen außerhalb des Strafgesetzbuches
  • aa. Gentechnikgesetz
  • bb. Embryonenschutzgesetz
  • cc. Mutterschutzgesetz
  • dd. Stammzellgesetz
  • ee. Strafvorschriften des Arzneimittelgesetzes
  • b. Fazit
  • 3. Schutz vor pränatalen Schädigungen durch die §§ 223 ff. StGB?
  • a. Körperverletzung an der schwangeren Frau
  • b. Schutzobjekt der §§ 223 ff. StGB
  • aa. Zäsur zwischen Leibesfrucht und Menschsein
  • bb. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Qualität des Schutzobjektes
  • aaa. Einwirkung
  • bbb. Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs
  • ccc. Stellungnahme
  • c. Fazit
  • 4. Zum Umgang mit dem lückenhaften Schutzkonzept
  • a. Rechtsprechung
  • b. Literatur
  • c. Fazit
  • 5. Stellungnahme
  • III. Behandlung pränataler Schädigungen de lege ferenda
  • 1. Strafwürdigkeit und verfassungsrechtliche Bewertung einzelner Verhaltensweisen
  • a. Schädigungen durch Dritte
  • aa. Schädigungen durch den Kindesvater
  • bb. Schädigungen durch den behandelnden Arzt
  • b. Schädigungen durch die schwangere Frau
  • 2. Praktische Bedeutung
  • 3. Ausgestaltung eines Straftatbestandes zum Schutz vor pränatalen Schädigungen
  • a. Tatopfer
  • b. Tathandlung und Taterfolg
  • aa. Gefährdungs- oder Erfolgsdelikt?
  • bb. Unterlassen
  • cc. Strafausschluss in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft?
  • c. Täterkreis und Handlungsmodalität
  • aa. Pränatale Schädigungen durch Dritte
  • aaa. Strafbarkeit des Kindesvaters
  • bbb. Strafbarkeit des behandelnden Arztes
  • Exkurs: Vorsätzliche Körperverletzung der schwangeren Frau mit gesundheitlichen Folgen für die Leibesfrucht
  • bb. Pränatale Schädigungen durch die schwangere Frau
  • aaa. Allgemeines schädigendes Verhalten
  • bbb. Prenatal maternal substance abuse
  • (1) Medizinische Auswirkungen
  • (2) Rechtliche Beurteilung
  • (a) Leichtfertigkeit
  • (b) Interessenabwägung
  • (aa) Fahrlässige Schädigungen
  • (bb) Vorsätzliche Schädigungen
  • ccc. Privilegierung der schwangeren Frau in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft?
  • ddd. Zwischenergebnis
  • eee. Rechtslage in den USA
  • (1) Verfassungsrechtlicher Status der Leibesfrucht
  • (a) Roe v. Wade
  • (b) Planned Parenthood v. Casey
  • (c) Gonzales v. Carhart
  • (d) Fazit
  • (2) Der Status im einfachen Recht
  • (3) Prenatal maternal substance abuse
  • (a) Strafrechtliche Verurteilungen
  • (aa) Abgabe und Verbreitung kontrollierter Substanzen
  • (bb) Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern
  • (cc) Fahrlässige Tötung
  • (b) Forderung nach einem speziellen Tatbestand?
  • (c) Grenzziehung
  • (4) Fazit
  • fff. Bedeutung der extrauterinen Lebensfähigkeit
  • Exkurs: Fahrlässige Tötungen der Leibesfrucht
  • 4. Strafmaß
  • 5. Fazit
  • E. Zivilrechtliches Schutzkonzept
  • I. Relevanz eines zivilrechtlichen Schutzes
  • II. Behandlung pränataler Schädigungen de lege lata
  • 1. Rechtsfähigkeit im Sinne des § 1 BGB
  • 2. Schadensersatzansprüche gegen Dritte
  • a. § 823 BGB
  • aa. Rechtsprechung des BGH
  • bb. Rechtsprechung des BSG
  • cc. Stellungnahme
  • b. Haftung des Arztes
  • c. Haftung des Kindesvaters
  • d. Haftung nach dem Arzneimittelgesetz
  • e. Fazit
  • 3. Schädigungen durch die Mutter
  • a. Repressiver Schutz
  • b. Präventiver Schutz
  • c. Fazit
  • III. Behandlung pränataler Schädigungen de lege ferenda
  • 1. Der zivilrechtliche Status der Leibesfrucht
  • a. Beginn des menschlichen Lebens
  • b. Rechtsstellung der Leibesfrucht
  • 2. Schadensersatz
  • a. Schädigungen durch Dritte
  • aa. „Anderer“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB
  • bb. Verletzung eines Rechtsgutes
  • aaa. Schädigende Handlung vor Zeugung
  • bbb. Haftung der Eltern
  • cc. Haftung für fahrlässige Handlungen
  • dd. Haftung des Kindesvaters
  • ee. Haftung des behandelnden Arztes
  • aaa. Vertragliche Haftung
  • (1) Behandlungsvertrag zwischen Nasciturus und Arzt?
  • (2) Reichweite der Schutzwirkung des Schwangerschaftsbetreuungsvertrages
  • bbb. Fazit
  • ff. Fazit
  • b. Schädigungen durch die schwangere Frau
  • aa. Schadensersatz
  • aaa. Haftungsprivilegierung gemäß § 1664 Abs. 1 BGB
  • bbb. Weiterreichende Haftungsfreizeichnung?
  • (1) Schädigungen durch äußere Einwirkung
  • (2) Prenatal maternal substance abuse
  • (3) Privilegierung der schwangeren Frau in den ersten zwölf Wochen
  • bb. Fazit
  • c. Ersatzfähiger Schaden
  • aa. Entschädigung für Arbeitsunfähigkeit
  • bb. Schmerzensgeld
  • d. Haftung für Unterlassen
  • 3. Präventiver Schutz
  • a. Schädigendes Verhalten der schwangeren Frau
  • aa. Analoge Anwendung von § 1666 BGB
  • bb. Schaffung einer im Schutzumfang § 1666 BGB entsprechenden Vorschrift?
  • b. Rechtslage in den USA
  • c. Bewertung
  • d. Behandlungspflicht einer schwangeren Frau
  • aa. Meinungsstand
  • bb. Stellungnahme
  • e. Fazit
  • 4. Fazit
  • F. Zusammenfassung und Fazit
  • Literaturverzeichnis

A.  Einleitung

„In unserer Rechtsordnung ist kein anderes Rechtsgut so schutzlos wie das ungeborene Leben.“1

Am 31. August 2012 wurde in Stolberg bei Aachen das erste Denkmal für die Contergan-Opfer enthüllt. Das Pharmaunternehmen Grünenthal GmbH2, das im Jahre 1957 das Schlafmittel Contergan auf den Markt brachte, wollte mit der Skulptur ein Symbol für die Opfer der Tragödie schaffen und sich dafür entschuldigen, dass man 50 Jahre lang nicht „den Weg zu [ihnen], von Mensch zu Mensch, gefunden habe“.3 Doch das Denkmal traf nicht nur auf Zustimmung. Es gab Protest von Contergan-Opfern und der Bundesverband Contergangeschädigter blieb der Einweihungsfeier demonstrativ fern. Weltweit nahmen Opferverbände die Enthüllung zum Anlass, um das Pharmaunternehmen und seinen Umgang mit der Contergan-Tragödie erneut zu kritisieren.4

In den Jahren von 1957 bis 1961 wurde das Schlafmittel Contergan in Deutschland rezeptfrei vertrieben. Der enthaltene Wirkstoff Thalidomid stört – wie man heute weiß – die Neubildung von Blutgefäßen und eine Einnahme während der Schwangerschaft führt zu schweren, irreversiblen Missbildungen der Leibesfrucht. Contergan verursachte eine menschliche und medizinische Katastrophe. Weltweit wird die Zahl der Opfer auf rund 10.000 Menschen geschätzt.5

Und auch in rechtlicher Hinsicht herrscht bis heute für die Betroffenen ein unbefriedigender Zustand.

Das Landgericht Aachen stellte das strafrechtlich Verfahren gegen neun Mitarbeiter von Grünenthal wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung ← 19 | 20 → sowie fahrlässiger Tötung am 18. Dezember 1970 per Beschluss ein.6 Zwischen den Staatsanwälten und dem Unternehmen wurde ausgehandelt, dass Grünenthal 100 Mio. DM zuzüglich Zinserträge in die Conterganstiftung zahlen musste.7 Weitere 100 Mio. DM stellte der Bund zur Verfügung.

Zivilrechtliche Verfahren auf Schadensersatz gemäß den Regelungen der §§ 823 ff. BGB gegen den Hersteller Grünenthal erschienen wenig erfolgreich, da die vorgeschriebenen Tests vor dem Inverkehrbringen ohne Risikoanzeichen verlaufen waren.8 Eine verschuldensunabhängige Haftung, wie sie heute im Arzneimittelgesetz enthalten ist, gab es damals noch nicht.9

Der Gesetzgeber hatte sich daher im Jahre 1971 entschieden, eine Stiftung zu gründen, die eine Entschädigung an Menschen auszahlen sollte, die Fehlbildungen aufgrund der Einnahme von Contergan erlitten hatten. Die Beantragung einer Leistung der Stiftung bewirkt gemäß § 23 StHG10 zugleich das Erlöschen potentieller Ansprüche der Geschädigten oder ihrer Eltern gegen Grünenthal.11

Insgesamt hat die Conterganstiftung bis Ende des Jahres 2008 Leistungen in Höhe von mehr als 460 Mio. Euro erbracht.12 Mit der gezahlten Rente sind die Opfer jedoch keineswegs zufrieden. Nach eigenen Angaben beeinträchtigen sie zunehmend Spät- und Folgeschäden der Behinderung.13 ← 20 | 21 →

Der Contergan-Fall hat offenbart, wie lückenhaft der Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens ausgestaltet ist. Die rechtlichen Schwierigkeiten, vor die sich die Geschädigten in den 1960/70er Jahren gestellt sahen, bestehen vergleichbar auch heute noch.14 Dies ist um so erstaunlicher, wenn man sich die medizinische Entwicklung vergegenwärtigt.

Die Fortschritte in der Prä- und Perinatalmedizin des 20. und 21. Jahrhunderts machen es möglich, immer früher und in größerem Maße Fehlentwicklungen und Krankheiten eines Embryos bzw. Fötus zu erkennen, seine Entwicklung und seinen gesundheitlichen Zustand zu überwachen und sogar therapeutisch einzugreifen. Insbesondere in der bildgebenden Diagnostik hat es rasante Entwicklungen gegeben, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Neben den Möglichkeiten der nichtinvasiven Diagnostik haben auch die Methoden der invasiven Diagnostik an Bedeutung gewonnen. Durch pränatale Diagnostik ist es möglich geworden, Anomalien auszuschließen, zu behandeln und Eltern auf sie vorzubereiten.15

Im Gegensatz zu der stetigen Entwicklung der medizinischen Möglichkeiten bilden strafrechtliche Normen, die auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurückgehen, das gesetzliche Raster für die Behandlung von Akten, die das menschliche Leben oder die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen.16 Bildhaft beschreibt Gropp diese Situation: „Während die Peri- und Pränatalmedizin im Mercedes Silberpfeil davonbrausen, holpert das Strafrecht in der Pferdedroschke hinterher.“17

Auch aus zivilrechtlicher Sicht lässt sich von Gesetzes wegen ein Gleichschritt mit der medizinischen Entwicklung nicht beobachten. Das Deliktsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches ist seit dem Jahre 1900 nie einer grundsätzlichen Revision unterzogen worden. Die Grundstrukturen sind bis heute dieselben ← 21 | 22 → geblieben.18 So sind zwar das Leben, der Körper und die Gesundheit als Schutzgüter in § 823 Abs. 1 BGB genannt, vor dem Hintergrund der ebenfalls seit dem Jahre 1900 ohne Veränderungen bestehenden Regelung des Beginns der Rechtsfähigkeit mit Vollendung der Geburt in § 1 BGB ergeben sich jedoch Zweifel an der Einbeziehung des Lebens- und Gesundheitsschutz von Embryonen bzw. Föten.19

I.  Ausgangspunkt und Fragestellung

Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Menschen vor der Geburt erscheint damit einfachgesetzlich nur unzureichend geregelt zu sein. Dies verwundert insbesondere, wenn man sich zwei grundlegende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des Schutzes des Nasciturus vor Augen führt.20 Hierbei stellte das Gericht heraus:

„Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG).“21
„Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten.“
22

Weder die strafrechtliche noch die zivilrechtliche Behandlung von Fällen pränataler Einwirkungen auf die Leibesfrucht, die postnatale Schädigungen mit sich bringen, ist gesetzlich klar geregelt. Dabei ist das Spektrum der in den letzten Jahren immer wieder aufgetretenen Schädigungen neugeborener Kinder sehr weit. Schädigungen wurden verursacht durch die behandelnden Ärzte, den Kindesvater, durch unbeteiligte Dritte oder auch durch die schwangere Frau selbst. Teilweise beruhen die Schädigungen auf fahrlässiger Verursachung, wie bei der schuldhaften Verursachung eines Unfalls, teilweise auf vorsätzlichem Handeln, beispielsweise durch gezielte Schläge auf den Bauch der schwangeren Frau. Und auch die Auswirkungen zeigten höchst unterschiedliche Ausmaße: durch die Gabe von Contergan wurden schwerste Missbildungen des menschlichen ← 22 | 23 → Körpers verursacht, immer häufiger werden Kinder geboren, die Entzugserscheinungen aufgrund mütterlichen Drogen- oder Alkoholkonsums zeigen, oder eine geistige Retardierung aufweisen, die durch eine schädliche Einwirkung verursacht wurde.23

Daher macht es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, das vorhandene Schutz- und Haftungskonzept bei Schädigungen der Leibesfrucht auf seine Angemessenheit zu überprüfen.

Dabei sollen insbesondere die folgenden Probleme einer Lösung zu geführt werden:

Einen strafrechtlichen Schutz gegen Angriffe gegenüber der Leibesfrucht gewährleisten ihrem Wortlaut nach allein die §§ 218 ff. StGB. Damit besteht ein Schutz gegen vorsätzliche Abtötungen des Embryos bzw. Fötus. Eine Strafbarkeit fahrlässiger Abtötungen oder vorsätzlicher oder fahrlässiger Schädigungen des Fötus ist unter der geltenden Rechtslage zweifelhaft.

Ist ein derartiges Regelungskonzept mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt vereinbar oder besteht nicht vielmehr eine verfassungsrechtlich fundierte Verpflichtung des Gesetzgebers, für einen umfassenderen Schutz Sorge zu tragen? Ist es gerechtfertigt, innerhalb eines solchen Schutzkonzeptes die schwangere Frau gegenüber anderen Tätern zu privilegieren? Falls ja, in welchem Rahmen sollte eine Privilegierung vorgesehen werden?

Aus zivilrechtlicher Sicht stellen sich ähnliche Fragen. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Zielrichtungen der beiden Rechtsgebiete ist zu fragen: Ist es erforderlich und geboten, einem Kind, das mit Körper- oder Gesundheitsschäden geboren wird, die auf pränatalen Einwirkungen beruhen, einen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger zuzusprechen, obwohl zum Zeitpunkt der Einwirkung dem Wortlaut des § 1 BGB nach noch kein rechtsfähiger Mensch vorlag? In welchem Ausmaß ist es geboten, einen derartigen Anspruch zu fordern? Sind Besonderheiten bei der Ausgestaltung der Haftung des behandelnden Arztes zu berücksichtigen? Besteht ein Anspruch der Leibesfrucht aus einem eigenen Behandlungsvertrag oder nur ein Anspruch, der sich aus dem Behandlungsvertrag mit der schwangeren Frau ableiten lässt? Kann sich auch die schwangere Frau gegenüber ihrem Kind schadensersatzpflichtig machen? Darf präventiv in ihr Verhalten während der Schwangerschaft eingegriffen, ihr ← 23 | 24 → Leben in gewisse Bahnen gelenkt werden, um den Schutz der Leibesfrucht zu verbessern? Gerade im Bereich des mütterlichen Drogen- und Alkoholkonsums könnte es sich anbieten, Maßnahmen zum Entzug zu fordern. Bestehen grundlegende Bedenken gegen ein Eingreifen gegenüber der schwangeren Frau? Haben die diesen Bedenken zugrunde liegenden Gründe auch Auswirkungen auf ein Schutz- und Haftungskonzept gegenüber dritten Personen, die der schwangeren Frau nahe stehen, wie beispielsweise der Kindesvater?

Trotz zahlreicher Stellungnahmen in den letzten Jahren zum Thema des Schutzes der Leibesfrucht ist eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts bis heute nicht erfolgt. Lediglich kleinere Änderungen wurden in den vergangenen Jahren vorgenommen – bei der Suche nach einer Gesamtlösung scheint man sich im Kreis zu drehen. Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, ein in sich stimmiges, einheitlichen Wertungen unterliegendes Konzept zum Schutz der körperlichen Integrität und Gesundheit des sich entwickelnden menschlichen Lebens zu erarbeiten.

II.  Forschungsstand

Ein derartiger Ansatz zur vorliegenden Problematik ist in der Literatur bis zum heutigen Tage nur unzureichend behandelt worden – ganz im Gegensatz zu einigen anderen Teilaspekten des Schutzes der Leibesfurcht.

So wurde der verfassungsrechtliche Status der Leibesfrucht im Nachlauf der zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch ausführlich in der Literatur untersucht. Die Arbeiten beschränkten sich hierbei nicht auf einen potentiellen Schutzanspruch für das Lebensrecht, vielmehr existieren umfassende Arbeiten zu den Rechtsgütern des sich entwickelnden Lebens.24 Daher ist die Bearbeitung in diesem Bereich darauf zu beschränken, die Vielzahl der unterschiedlichen Ansichten zu erfassen und in eine geordnete Zusammenschau zu bringen. Die Wertungen und Vorgaben, nach ← 24 | 25 → denen sich ein Gesamtkonzept auszurichten hat, sollen dadurch deutlich herausgearbeitet werden.

Im Zusammenhang mit dem medizinischen Fortschritt und Neuerungen in der Reproduktionsmedizin wurde viel über die rechtlichen Rahmenbedingungen derartiger Verfahren diskutiert. Insbesondere Fragen der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellforschung haben für Aufsehen gesorgt.25 Die Bedrohungen in den unterschiedlichen Stadien der Entwicklung des Embryos bzw. Fötus sind mannigfaltig – ähnlich zahlreich sind auch die zu diesen Themen in letzter Zeit erschienenen Arbeiten.26 Die wissenschaftliche Aufarbeitung der ← 25 | 26 → Positionierung des Embryos in-vitro kann daher hier ausgeklammert werden. Vereinzelt wird auf Aspekte dieser Diskussionen eingegangen, beispielsweise um Widersprüche aufzuzeigen.

Weiterhin wurde die Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehrfach thematisiert, insbesondere in der strafrechtlichen Literatur – unter unterschiedlicher Akzentuierung.27 Zusätzlich wurde das Recht zum Schwangerschaftsabbruch im Zuge der Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes von vielen Seiten umfangreich beleuchtet. Unterschiedliche Organisationen, Sachverständige und Ausschüsse haben ihre Lösungsvorschläge vorgebracht.28 Auch wenn weiterhin Zweifel an der Widerspruchslosigkeit der Regelungen und an dem Maß des Schutzes durch die Regelungen bestehen bleiben, kann hier auf eine Einbeziehung dieses Themenkomplexes verzichtet werden.

Gleiches gilt grundsätzlich für die zivilrechtliche Literatur. Die Mehrzahl der Arbeiten konzentriert sich auf das Problemfeld des Abbruchs einer ← 26 | 27 → Schwangerschaft oder aber gerade der Nichtermöglichung eines Schwangerschaftsabbruchs. Die so genannte Kind-als-Schaden-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht regelmäßig im Mittelpunkt.29 Fragen zur rechtlichen Behandlung der Geburt eines unerwünschten Kindes sollen zwar vorliegend nicht behandelt werden, bestimmte Wertungen können aber durchaus fruchtbar gemacht werden.

Seltener finden sich Arbeiten, die sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Aspekte des Schutzes des Embryos in-vivo betrachten.30 Hierbei erlangte der Aspekt des Körper- und Gesundheitsschutzes bisher nur vereinzelt neben dem Lebensschutz an Bedeutung.31 Arbeiten, die sich umfassend mit einem Schutz- oder ← 27 | 28 → Haftungskonzept bei pränatalen Schädigungen des Körpers oder der Gesundheit befassen, sind bisher nicht erschienen. Die Ausfüllung dieser Lücke ist daher Ziel der vorliegenden Arbeit. Die Ausgestaltung eines Regelungskonzeptes für schädigende Einwirkungen auf den Embryo in-vivo, die mit postnatalen Gesundheitsschäden verbunden sind, ist bis heute als ungeklärt zu bezeichnen.

III.  Gang der Darstellung

In den ersten beiden Teilen (B. und C.) werden die ethischen und medizinischen, aber insbesondere die verfassungsrechtlichen Grundlagen für ein Schutz- und Haftungskonzept bei pränatalen Schädigungen herausgearbeitet. Als ranghöchste Rechtsquelle bildet das Grundgesetz den Rahmen der Rechtmäßigkeit eines neuen Regelungskonzeptes. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch Grundsätze zum Lebensschutz der Leibesfrucht aufgestellt, die ebenso fruchtbar gemacht werden sollen, wie die in diesen Entscheidungen betonte besondere Situation einer Schwangerschaft, die „Zweiheit in Einheit“.32

Darauf aufbauend soll im dritten und vierten Teil (D. und E.) der Fokus der Untersuchung auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung eines Schutz- und Haftungskonzeptes gelegt werden. Hierbei erlangen die oben aufgeworfenen Fragen an Bedeutung. Die derzeitigen Regelungen werden häufig in Literatur und Rechtsprechung als widersprüchlich und lückenhaft bezeichnet.33 Diese Unzulänglichkeiten gilt es herauszuarbeiten – wobei sowohl das strafrechtliche als auch das zivilrechtliche Konzept einer kritischen Würdigung unterzogen werden soll.

Im Rahmen der strafrechtlichen Untersuchung gilt es zu beachten, dass strafrechtliche Mittel lediglich als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes eingesetzt werden, wenn ein Verhalten in besonderer Weise sozialschädlich und für das ← 28 | 29 → Zusammenleben der Menschen unerträglich ist.34 Diese Annahme erscheint vor dem Hintergrund der in Frage stehenden Rechtsgüter nahe liegend.

Dennoch wurde pränatalen Schädigungen, die vor Beginn der Geburt von dritten Personen verursacht wurden, eine strafrechtliche Relevanz in der Rechtsprechung bisher nicht beigemessen. Es stellt sich damit die Frage, ob es einer eigenständigen Regelung bedarf oder ob die Regelungen der §§ 223 ff. StGB einen hinreichenden Schutz des Nasciturus gewährleisten könnten.

Details

Seiten
294
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050868
ISBN (ePUB)
9783653974607
ISBN (MOBI)
9783653974591
ISBN (Paperback)
9783631658543
DOI
10.3726/978-3-653-05086-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Contergan-Skandal verfassungsrechtliche Vorgaben Schwangerschaft Schutz menschlichen Lebens
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 294 S.

Biographische Angaben

Christine Robben (Autor:in)

Christine Robben studierte Rechtswissenschaften in Göttingen und an der University of California, Los Angeles. Seit 2012 ist sie in Düsseldorf als Rechtsanwältin tätig.

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