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Erbrecht in der VR China

Die aktuelle Entwicklung im Rahmen des Aufbaus der Privatrechtsordnung

von Christina Eberl-Borges (Band-Herausgeber:in) Wang Qiang (Band-Herausgeber:in)
©2015 Monographie X, 228 Seiten

Zusammenfassung

Der Band behandelt die gegenwärtige Diskussion über eine Reform des Erbrechts in der VR China. Schon allein aufgrund der Sprachbarriere ist es für den deutschen Juristen schwer, hier Einblick zu gewinnen. Auch sind die wenigsten mit dem chinesischen Recht vertraut. Die einzelnen Beiträge des Buches gehen neben einem Überblick zum chinesischen Privatrecht auf wichtige Eckpunkte einer chinesischen Erbrechtsreform ein und betrachten die Entwicklung aus rechtslinguistischer und rechtsterminologischer Sicht. Dabei wird auch das deutsche Erbrecht rechtsvergleichend mit einbezogen. Der Anhang enthält Übersetzungen wichtiger Rechtstexte, insbesondere der chinesischen Reformentwürfe für ein neues Erbrecht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zum Stand des chinesischen Privatrechts
  • Erbrechtsreform in China
  • Das chinesische Erbrecht im rechtswissenschaftlichen, -linguistischen und -terminologischen Vergleich mit dem deutschen — unter Berücksichtigung der Erbrechtsreform in der VR China
  • Anhang
  • Ansichten des Obersten Volksgerichts zu einigen Fragen bei der Durchführung des Erbgesetzes der VR China (Übersetzung: WANG Qiang)
  • Vorschlagsentwurf zur Revision des Erbgesetzes der Volksrepublik China (2011) von Prof. LIANG, Huixing et al. (Übersetzung: WANG Qiang)
  • Vorschlagsentwurf zur Revision des Erbgesetzes der Volksrepublik China (2013) von Prof. LIANG, Huixing et al. (Übersetzung: WANG Qiang)
  • Vorschlagsentwurf zur Revision des Erbgesetzes der Volksrepublik China (2012) von Prof. YANG, Lixin et al. (Übersetzung: WANG Qiang)

← X | 1 → Christina Eberl-Borges*

Zum Stand des chinesischen Privatrechts

Abstract: The article gives an overview of the development of private law in the People‘s Republic of China since the late 1970s, when the new policy of reform and opening was introduced in the PRC. It discusses the general principles of civil law as well as contract law, tort law, property law, family law, inheritance law, commercial and corporate law, labour law, and conflict of laws.

I.Einführung

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in China erstmals Rechtsreformen mit Blick auf ausländische Rechtsordnungen in Angriff genommen1. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Recht in China seit Jahrhunderten aus zwei heterogenen Teilen2: dem vom Kaiser erlassenen Recht und den gewohnheitsrechtlichen Regeln. Ersteres waren Gesetzesbefehle der Obrigkeit mit Strafsanktionen. Es war schriftlich fixiertes Gesetzesrecht (fa, oder falü). Zivilrecht fiel nicht in diesen Bereich3. Dieses entwickelte sich vielmehr aus Sittlichkeits- und Anstandsregeln und beruhte damit auf sog. Sozial- und Kulturnormen (), die im Volk seit alters her gelebt wurden. Traditionell war im chinesischen Recht also beispielsweise nicht gesetzlich geregelt, wie Verträge geschlossen werden oder Eigentum übertragen wird. Es gab nur gesetzliche Sanktionen für den Fall, dass z.B. ein Vertrag durch Betrug verletzt oder Vermögen unterschlagen oder gestohlen wurde4. Die Notwendigkeit für den Erlass zivilrechtlicher Normen wurde nicht gesehen, weil Dinge wie der Handel den gesellschaftlichen Gruppen selbst überlassen war: Der Staat griff nur ein, wenn die öffentliche Ordnung, etwa durch schwere ← 1 | 2 → Kriminalität, gestört wurde5. Schriftlich fixiertes Zivilrecht ist vor diesem Hintergrund in China etwas Neues. Gesetze bedeuteten in China herkömmlicherweise vielmehr nur öffentliches Recht6.

Das gegenwärtige Rechtssystem blickt nun auf eine 100-jährige Geschichte zurück. Hierbei ist vor allem auf die sog. „Vollständige Sammlung der Sechs Gesetze“ (Liufa Quanshu)7 hinzuweisen, die auch ein Zivilgesetzbuch beinhaltete, das Zivilgesetzbuch der Republik China von 1929/31. Hierin wurden Systematik und Begriffe des deutschen Zivilrechts rezipiert, welches in der Folge das moderne chinesische Zivilrecht und die Rechtswissenschaft wesentlich beeinflusst hat8. Mit dieser Sammlung war bereits eine relativ vollständige Grundlage des chinesischen Gesetzesrechts gelegt9. Im Zuge der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurde diese Sammlung allerdings wieder aufgehoben10.

Seit der im Jahr 1978 eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik wird nun wieder intensiv am Aufbau einer Zivilrechtsordnung gearbeitet. Bislang gelten in China allerdings nur privatrechtliche Einzelgesetze, keine umfassende Kodifikation. Ein chinesisches Zivilgesetzbuch ist in Vorbereitung. Es gibt bereits mehrere Entwürfe11, darunter ein offizieller Entwurf der Rechtsarbeitskommission des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses, aber auch das Modell, die Einzelgesetze zu einem Zivilgesetzbuch zusammenzufassen. Die Entwürfe stammen allerdings bereits aus den Jahren 2002/03. Wie intensiv der Plan einer Zivilrechtskodifikation momentan noch verfolgt wird oder ob es dauerhaft beim System von Einzelgesetzen bleibt, ist unklar12.

← 2 | 3 → II.Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts

Anfang der 1980er Jahre war das Bedürfnis nach zivilrechtlichen Regelungen in China groß, gleichzeitig erschien es unmöglich, innerhalb kurzer Zeit ein Zivilgesetzbuch zu schaffen13. In dieser Situation wurden am 12.04.1986 die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts der VR China14 erlassen; sie sind am 01.01.1987 in Kraft getreten. Sie enthalten 156 Paragraphen und gliedern sich in neun Kapitel: 1. Grundprinzipien, 2. Bürger (natürliche Personen), 3. Juristische Personen, 4. Zivilrechtshandlungen und Vertretung, 5. Zivilrechte, 6. Zivile Haftung, 7. Klageverjährung, 8. Rechtsanwendung bei Zivilbeziehungen mit Auslandsberührung und 9. Ergänzende Regeln. Die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts decken damit fast den gesamten Bereich des Zivilrechts ab, wenn auch nur in einer knappen Regelung15.

Die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts wurden im Jahr 1988 ergänzt durch Ansichten des Obersten Volksgerichts16, in denen das Gericht eine amtliche Auslegung vorgibt (sog. justizielle Auslegung). Derartige Auslegungsbefugnisse stehen nach Art. 67 (4) der Verfassung17 dem Nationalen Volkskongress und seinem Ständigen Ausschuss zu; letzterer hat 1981 entsprechende Befugnisse an das Oberste Volksgericht delegiert18. Die Ansichten oder Erläuterungen des Obersten Volksgerichts wirken wie Gesetze19.

← 3 | 4 → Die Gliederung der Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts lässt eine Unterteilung in einen Allgemeinen Teil (Kapitel 1 – 4) und einen Besonderen Teil erkennen. In der Tat hat das chinesische Recht bewusst den Ansatz des deutschen Rechts übernommen, Allgemeines „vor die Klammer“ zu ziehen und vorab für alle Regelungsbereiche einheitlich zu normieren20. Der Bereich dieses Allgemeinen Teils ist detailliert geregelt21. Der Bereich des Besonderen Teils umfasst dagegen nur Grundzüge22: Er ist eher rudimentär ausgearbeitet und legt lediglich die Eckpfeiler fest, um Raum für detailliertere Einzelgesetze zu lassen23. Viele dieser Regelungen sind heute in der Tat subsidiär, weil die inzwischen erlassenen Einzelgesetze (wie das Vertragsgesetz24, das Deliktsgesetz25, das Sachenrechtsgesetz26 oder das IPR-Gesetz27) als leges speciales vorrangig anzuwenden sind28. Die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts werden heute hauptsächlich noch dort herangezogen, wo im deutschen Recht (BGB) der Regelungsbereich des Allgemeinen Teils betroffen ist.

Dennoch bilden die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts nach wie vor das „Muttergesetz“29 des chinesischen Zivilrechts. Sie sind die Grundlage für die späteren zivilrechtlichen Bestimmungen in Einzelgesetzen. Problematisch ist, dass die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts unter Einfluss des sowjetischen Rechts ausgearbeitet wurden30 und die Entwicklung Chinas hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft bisher nicht zu einer wesentlichen Überarbeitung geführt hat31.

Zu den wichtigsten Prinzipien der Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts gehören die Freiwilligkeit (im Sinne von Privatautonomie32), die ← 4 | 5 → Gleichberechtigung der Parteien, die Gerechtigkeit und das Gebot von Treu und Glauben (§§ 3 f. AGZ).

In der Rechtsgeschäftslehre des 4. Kapitels der Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts zeigt sich das deutsche Vorbild des Unterteilens, wenngleich sich die Einteilung nicht mit der des deutschen BGB deckt. Oberbegriff ist im chinesischen Zivilrecht die Zivilhandlung. Als Zivilrechtshandlungen werden nur rechtmäßige Rechtsgeschäfte bezeichnet (s. § 54 AGZ). Anfechtbare (§ 59 AGZ) und nichtige Rechtsgeschäfte (§ 58 AGZ) werden davon unterschieden, fallen aber ebenfalls unter den Oberbegriff der Zivilhandlung33. Die ursprünglich große Zahl an Nichtigkeitstatbeständen ist später durch das Vertragsgesetz reduziert worden34. Die Anfechtung erfolgt nicht privatautonom, vielmehr muss bei Gericht die Aufhebung der Zivilhandlung beantragt werden (§ 59 AGZ). Anstelle der Aufhebung kann vom Anfechtungsberechtigten auch eine Änderung beantragt werden (§ 59 AGZ)35.

Die Zivilrechte des 5. Kapitels gliedern sich in dingliche Rechte, Forderungen, Immaterialgüterrechte und Persönlichkeitsrechte. Bei den Forderungen finden sich in den Allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts nach deutschem Muster Bestimmungen des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts sowie die Unterscheidung zwischen vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnissen.

Die große Bedeutung des Haftungsrechts wird durch ein eigenes 6. Kapitel hervorgehoben36. Hier werden sowohl die vertragliche als auch die deliktische Haftung geregelt. In diesen Bereichen gelten heute das Vertragsgesetz 1999 und das Deliktsgesetz 2010.

III.Vertragsrecht

Nach Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurde der Vertrag als kapitalistisches Symbol strikt abgelehnt und aus diesem Grunde das bisherige Vertragssystem abgeschafft37. An dessen Stelle traten staatliche Pläne und die Verwaltung durch Behörden38. Die daneben noch existierenden Musterverträge dienten der Ausführung der staatlichen Wirtschaftsplanung39.

← 5 | 6 → Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 und der damit einhergehenden Hinwendung zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischer Prägung“ ist der Vertrag – als unentbehrliches Mittel im Geschäftsverkehr – wieder ein fester Bestandteil des chinesischen Zivilrechts40. Er ist sogar ein zentrales Institut der chinesischen Rechtsreform, und das Vertragsrecht nimmt eine führende Rolle für das Zivilrecht ein: Das Vertragsrecht ist der „Drachenkopf“ des Zivilrechts41.

Folgende Gesetze wurden in diesem Bereich erlassen: das (Binnen-) Wirtschaftsvertragsgesetz 198142 (revidiert 199343), das Außenwirtschaftsvertragsgesetz 198544, die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts 198645, das Technikvertragsgesetz (TechVG) 198746 und schließlich das Vertragsgesetz (VertragsG) 199947. Das Vertragsgesetz überschneidet sich teilweise mit den Allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts; in diesen Bereichen sind die (mehr rudimentären) Regelungen der Allgemeinen Grundsätze gegenüber dem Vertragsgesetz subsidiär48. Die bisherigen drei Vertragsgesetze wurden durch das Vertragsgesetz 1999 abgelöst (§ 428 VertragsG). Dieses wird ergänzt durch Erläuterungen des Obersten Volksgerichts aus den Jahren 199949 und 200950 (sog. ← 6 | 7 → justizielle Auslegung51). Bemerkenswert ist schließlich, dass China bereits seit 1988 Vertragsstaat der UN-Kaufrechtskonvention (CISG) ist.

Das Vertragsgesetz ist eines der ersten chinesischen Gesetzeswerke, die sich auf hohem wissenschaftlichem Niveau bewegen52. Es wird in China als eigenständige moderne Kodifikation geschätzt53. Das Vertragsgesetz orientiert sich stark am deutschen Recht. Aus dem BGB wurden beispielsweise Bestimmungen über den Vertragsschluss und die Vertragsabwicklung oder auch der Grundsatz von Treu und Glauben entnommen54. Bei der Ausarbeitung des Vertragsgesetzes wurden aber auch das CISG, die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts und die Principles of European Contract Law herangezogen. Soweit sich einzelne Elemente des Common Law im chinesischen Vertragsgesetz wiederfinden (etwa die Widerruflichkeit des Angebots als Grundsatz55), handelt es sich in der Regel um solche, die bereits Eingang ins internationale Recht gefunden hatten56. Auch insoweit haben sich das deutsche und das chinesische Recht seit der deutschen Schuldrechtsreform des Jahres 2002 aber wieder angenähert. So kennen heute beide Rechtsordnungen kein kaufspezifisches Gewährleistungsrecht, vielmehr ist die Lieferung einer mangelhaften Sache ein Fall der Vertragsverletzung bzw. Pflichtverletzung57. Allerdings ist die vertragliche Haftung nach chinesischem Recht (anders als nach deutschem Recht) verschuldensunabhängig58, wobei höhere Gewalt von der Haftung befreit (§ 117 VertragsG).

Das Vertragsgesetz enthält 428 Paragraphen und besteht aus einem Allgemeinen und einem Besonderen Teil. Im Allgemeinen Teil sind Abschluss, Wirkung, Erfüllung und Beendigung des Vertrages geregelt sowie die vertragliche Haftung. Der Besondere Teil regelt einzelne Vertragstypen, darunter auch moderne Vertragstypen, die dem BGB unbekannt sind (wie z.B. den Finanzierungsleasing-Vertrag, §§ 237 ff. VertragsG). Insgesamt sind im Vertragsgesetz 15 Nominatverträge geregelt: Kaufvertrag, Schenkungsvertrag, Miet- und Pachtvertrag, Werkvertrag, Verwahrungsvertrag, Geschäftsbesorgungsvertrag, Maklervertrag, ← 7 | 8 → Lagervertrag, Kommissionsvertrag, Darlehensvertrag, Bauvertrag, Transportvertrag, Liefervertrag für Strom, Wasser, Gas und Heizkraft, Leasingvertrag und Technologievertrag. Die Bürgschaft ist als personenbezogene Sicherheitsform im Sicherheitengesetz von 199559 geregelt und erscheint nicht im Vertragsgesetz.

Leitgedanke des Vertragsgesetzes ist die Vertragsfreiheit (§ 4 Hs. 1 VertragsG)60. Erst das Vertragsgesetz führte in China Vertragsfreiheit für alle Bürger ein61. Die Vorgängergesetze hatten im Wesentlichen nur Wirtschaftsunternehmen Vertragsfreiheit eingeräumt. Einzelne konnten nur als Einzelgewerbetreibende (s. § 26 AGZ) oder dörfliche Übernahmebetreiber (s. § 27 AGZ) Vertragsfreiheit wahrnehmen. Vor 1999 waren chinesische Bürger außerhalb dieser Rechtsformen nur befugt, Technikverträge abzuschließen, da das Technikvertragsgesetz sich als einziges Gesetz auch auf einzelne Bürger bezog (s. § 2 TechVG). In der chinesischen Verfassung62 ist die Vertragsfreiheit übrigens – anders als beispielsweise das Privateigentum (Art. 13 Verf.) – nicht erwähnt.

Die Vertragsfreiheit erfährt nach dem Vertragsgesetz weitreichende Einschränkungen. So müssen die Parteien die Gesetze und verwaltungsrechtlichen Bestimmungen einhalten (§ 7 VertragsG); werden zwingende Bestimmungen verletzt, ist der Vertrag unwirksam (§ 52 Nr. 5 VertragsG). Da justizielle Auslegungen durch das Oberste Volksgericht die Wirkung von Gesetzen haben63, kann auch das Oberste Volksgericht die Vertragsfreiheit einschränken. Das gleiche gilt für den Staatsrat, der nicht nur zur Durchführung von Gesetzen (§ 56 Abs. 1 [1] GesetzgebungsG64) oder aufgrund Ermächtigung des Nationalen Volkskongresses oder seines Ständigen Ausschusses (§ 56 Abs. 2 GesetzgebungsG), sondern auch kraft originärer Gesetzgebungsbefugnisse Verordnungen erlassen kann (Art. 89 [1] Verf., § 56 Abs. 1 [2] GesetzgebungsG). Bloße staatliche Richtlinien oder Richtlinien der Partei können die Vertragsfreiheit heute allerdings nicht mehr einschränken65.

← 8 | 9 → Ein Vertrag ist auch unwirksam, wenn er gesellschaftliche öffentliche Interessen schädigt (§ 52 Nr. 4 VertragsG). Wegen dieses unbestimmten Rechtsbegriffs besteht in China die Furcht vor richterlichem Missbrauch oder Fehlgebrauch66. Eine nähere Konkretisierung ist seit Erlass des Vertragsgesetzes nicht erfolgt. Allerdings sind auch kaum Entscheidungen dazu ergangen. Offenbar schrecken chinesische Richter vor der Anwendung von Generalklauseln zurück. Rückgriff auf eine Schädigung gesellschaftlicher öffentlicher Interessen haben die chinesischen Gerichte bislang nur als zusätzliche Begründung genommen, also in Fällen, in denen der Vertrag bereits wegen Gesetzesverstoßes nichtig war67.

Indem Gesetze oder verwaltungsrechtliche Bestimmungen auch Genehmigungs-, Registrierungs- oder sonstige Verfahren vorsehen können, ohne deren Durchführung ein Vertrag nicht wirksam ist (§ 44 Abs. 2 VertragsG), können auch Behörden die Vertragsfreiheit einschränken. Der chinesische Gesetz- und Verordnungsgeber ist weitgehend frei in der Einführung solcher Verfahren68. In den letzten Jahren ist allerdings eine weitgehende Liberalisierung zu verzeichnen. Genehmigungsverfahren sind inzwischen zugunsten von bloßen Registrierungserfordernissen weit zurückgedrängt69, wobei letztere das Wirksamwerden des Vertrages in der Regel nicht hindern (§ 9 OVG-Erläuterungen 199970). Im Vertragsgesetz ist außerdem eine behördliche Überwachung von Verträgen vorgesehen (s. § 127 VertragsG), wobei Art und Umfang der Überwachung nicht genauer geregelt sind. Die Intensität der behördlichen Überwachung erscheint daher abhängig von der „politischen Wetterlage“.

IV.Deliktsrecht

Das Deliktsgesetz der VR China von 200971 vereinigt deliktsrechtliche Regelungen, die bisher über eine Vielzahl verschiedener Rechtsgrundlagen verstreut waren72. Das Gesetz enthält 92 Paragraphen und regelt neben dem allgemeinen ← 9 | 10 → Konzept der deliktsrechtlichen Haftung auch spezielle Fallkonstellationen wie die Produkthaftung (§§ 41 ff. DeliktsG), die Haftung bei Verkehrsunfällen (§§ 48 ff. DeliktsG), die Haftung für medizinische Fehlbehandlung (§§ 54 ff. DeliktsG)73, die Arbeitgeberhaftung (§§ 34 f. DeliktsG), die Haftung bei Umweltverschmutzung (§§ 65 ff. DeliktsG), die Tierhalterhaftung (§§ 78 ff. DeliktsG)74, die Haftung für hohe Gefahren wie Kernenergieanlagen oder Luftfahrzeuge (§§ 69 ff. DeliktsG) oder die Haftung für den Einsturz von Gebäuden, herabfallende Sachen, umstürzende Bäume o.ä. (§§ 85 ff. DeliktsG).

Ein Grundzug des chinesischen Deliktsgesetzes ist die Besserstellung des Geschädigten. Generell treffen im Deliktsrecht unterschiedlich gerichtete Interessen aufeinander: Der Geschädigte hat ein Interesse auf Schadensausgleich75, der (mögliche) Schädiger ein Interesse an der Vorhersehbarkeit und Einschätzbarkeit seiner Ersatzpflicht durch entsprechend klare Verhaltensnormen76. In diesem Spannungsfeld begünstigt das chinesische Deliktsgesetz den Geschädigten77. Das hängt damit zusammen, dass in China ein funktionierendes und flächendeckendes Sozialversicherungssystem bislang noch fehlt78. Das Privatrecht hat insoweit eine dienende Funktion.

Nach dem Grundkonzept des Deliktsgesetzes unterliegt der deliktsrechtlichen Haftung, wer schuldhaft zivilrechtliche Rechte oder Interessen einer anderen Person verletzt (§ 6 Abs. 1 DeliktsG). Zivilrechtliche Rechte und Interessen umfassen u.a. das Recht auf Leben, Gesundheit, Namen, guten Ruf und Ehre, das Recht am eigenen Bild, das Recht auf Privatsphäre, Selbstbestimmung in der Ehe, das Vormundschaftsrecht, Eigentumsrecht, Nießbrauchsrecht, Sicherungssachenrecht, Urheberrecht, Patentrecht, ausschließliche Nutzungsrecht an Marken, Erfindungsrecht, Anteile ← 10 | 11 → an Kapitalgesellschaften und das Erbrecht (§ 2 Abs. 2 DeliktsG). Diese Regelung ähnelt dem Grundtatbestand des § 823 Abs. 1 des deutschen BGB, wenngleich sie im Hinblick auf die geschützten Rechtspositionen detaillierter ist. Neben dieser Verschuldenshaftung kennt das chinesische Deliktsrecht die Haftung für (widerlegbar) vermutetes Verschulden, die durch Gesetz vorgesehen werden kann (§ 6 Abs. 2 DeliktsG). Bekannt ist auch die verschuldensunabhängige Haftung; auch sie bedarf – wie die Gefährdungshaftung im deutschen Recht – einer gesetzlichen Anordnung (§ 7 DeliktsG). Ergänzend sieht § 24 DeliktsG eine Billigkeitshaftung vor, die entfernt an § 829 BGB erinnert: Wenn weder den Geschädigten noch den Handelnden ein Verschulden trifft, kann die Schadenstragung – „nach den tatsächlichen Umständen“ – auf beide verteilt werden. Ist der Schaden durch höhere Gewalt verursacht, so entfällt die deliktsrechtliche Haftung (§ 29 DeliktsG)79.

Das Deliktsgesetz erleichtert es Personen, die durch fehlerhafte Produkte geschädigt werden, sehr weitgehend, Schadensersatz zu erlangen: Der Geschädigte kann aus Produkthaftung nunmehr Schadensersatz vom Hersteller oder vom Verkäufer des fehlerhaften Produkts verlangen, unabhängig davon, wer von beiden den Fehler verursacht hat (§ 43 Abs. 1 DeliktsG). Die Fehlerverursachung spielt erst bei anschließenden Ausgleichsansprüchen des Inanspruchgenommenen eine Rolle80: Hat der Verkäufer den Geschädigten entschädigt, aber der Hersteller den Fehler verursacht, so kann der Verkäufer Ausgleich vom Hersteller verlangen (§ 43 Abs. 2 DeliktsG) und umgekehrt (§ 43 Abs. 3 DeliktsG), ebenso von weiteren Gliedern in der Vertriebskette wie Transport- und Lagerunternehmen, sofern sie den Fehler verursacht haben (§ 44 DeliktsG). Entsprechendes gilt für die Haftung wegen fehlerhafter Medizinprodukte, auch Bluttransfusionen. Der Patient kann den Hersteller (bzw. die Organisation, die das Blut liefert) oder das behandelnde medizinische Institut in Anspruch nehmen (§ 59 S. 1 DeliktsG). Die Fehlerverursachung ist erst bei etwaigen Ausgleichsansprüchen relevant (§ 59 S. 2 DeliktsG). Für die Produkthaftung hat das Deliktsgesetz nun auch Strafschadensersatz nach anglo-amerikanischem Vorbild eingeführt81: Wer ← 11 | 12 → wissentlich ein fehlerhaftes Produkt herstellt und absetzt, schuldet nach § 47 Deliktsgesetz Strafschadensersatz, wenn durch das Produkt der Tod oder ein erheblicher Gesundheitsschaden bei einem anderen Menschen eintritt. Dieser Schadensersatz ist der Höhe nach nicht beschränkt. Bisherige Regelungen im Verbraucherschutzgesetz82 und im Lebensmittelsicherheitsgesetz83 beschränkten die Erhöhung des kompensatorischen Schadensersatzes auf den für das Produkt bezahlten Preis84 oder ein fest vorgeschriebenes Vielfaches hiervon85. Das Deliktsgesetz ist insoweit offen, sieht aber auch keinen Standard und keine Methode für die Berechnung des Schadensersatzes vor.

§ 65 DeliktsG legt eine Gefährdungshaftung bei Umweltverschmutzung fest. Sie trifft auch denjenigen, der alle Gesetze und sonstigen Regelungen zum Schutz der Umwelt eingehalten hat86, sofern nur aus seiner Handlung eine Umweltverschmutzung resultiert, die einen Schaden verursacht hat. Bei der Kausalität sind in § 66 weitere Erleichterungen für den Geschädigten vorgesehen. So wird die Kausalität zwischen der Umwelteinwirkung und dem Schaden (widerleglich) vermutet87.

V.Sachenrecht

Nach marxistischer Lehre ist das Privateigentum an Produktionsmitteln die Wurzel der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten88. Nach Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 wurde Privateigentum daher schrittweise ← 12 | 13 → in Volkseigentum oder Kollektiveigentum übergeführt. Privatpersonen durften nur das Eigentum an Gegenständen des täglichen Gebrauchs erwerben89.

Seit Einleitung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 ist man von diesen Grundsätzen schrittweise abgerückt. Das Privateigentum wurde 1982 verfassungsrechtlich verankert und durch die Revision 2004 weiter gestärkt (Art. 13 Verf.). Bis heute gibt es in China allerdings kein Privateigentum an Grund und Boden (Art. 10 Verf.).

Die Ausarbeitung eines Sachenrechtsgesetzes wurde bereits Mitte der 1990er Jahre aufgegriffen90. Verabschiedet wurde es schließlich am 16.03.2007. Seit 01.10.2007 ist das Gesetz in Kraft91. Der erste Gesetzentwurf wurde dabei mehrfach geändert und in insgesamt acht Lesungen in drei Legislaturperioden behandelt92 – so oft wie nie in der Gesetzgebung der Volksrepublik China93. Das Sachenrechtsgesetz umfasst 247 Paragraphen und besteht aus fünf Teilen: Allgemeine Regeln; Eigentum; Nießbrauch; Sicherungssachenrechte; Besitz. Gesetzgebungsberatung für das chinesische Sachenrechtsgesetz ist in erster Linie durch die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)94 GmbH erfolgt95.

Der schwierige Gesetzgebungsprozess hatte natürlich seine Gründe. Bemerkenswert ist zunächst, dass der Entwurf des Sachenrechtsgesetzes – für chinesische Verhältnisse bislang ungewöhnlich – einer breiten Öffentlichkeit zur Stellungnahme zugänglich gemacht worden ist96. Hiervon wurde auch reger Gebrauch gemacht: Offiziell wurden über 10.000 Meldungen verzeichnet97. Außerdem hat das Sachenrechtsgesetz im Vorfeld seiner Verabschiedung aber heftige Kontroversen in China ausgelöst98. Immerhin ging es hier um einen politisch hoch sensiblen Bereich, nämlich um Grundsatzfragen zum Schutz von Privateigentum. Die systemkonservative Strömung und der liberale Flügel der Kommunistischen Partei Chinas standen bei diesen Grundsatzfragen miteinander in Konflikt99. So wurde ← 13 | 14 → gegen den Entwurf geltend gemacht, das Volkseigentum müsse seine hervorgehobene Bedeutung behalten und besser geschützt werden als das Privateigentum100. Die Auseinandersetzung wurde schließlich durch parteiinterne Konsultation beigelegt101.

Dabei waren marktwirtschaftlich nutzbare Eigentumsrechte an Grund und Boden sowie an beweglichen Sachen (Produktionsmitteln) bereits vor Erlass des Sachenrechtsgesetzes längst in einer Vielzahl von Gesetzen vorgesehen102. Die Bedeutung des Sachenrechtsgesetzes ist in dieser Hinsicht also an sich vor allem symbolischer Art103. Auch hatte die Verfassungsänderung vom 14.03.2004, wie bereits erwähnt, entscheidende Vorgaben gemacht: Nach Art. 13 Abs. 1 der Verfassung ist das gesetzmäßige private Eigentum der Bürger unverletzlich, und nach Abs. 2 schützt der Staat, in Übereinstimmung mit dem Gesetz, die Rechte der Bürger auf privates Eigentum und Erbschaft. Der Ausbruch der Kontroverse gerade zu diesem Zeitpunkt liegt vermutlich daran, dass das Sachenrechtsgesetz die bisher auf verschiedene Gesetze verteilten Einzelregelungen zusammenfasste und der Frage des Privateigentums schon dadurch ein besonderes Gewicht verlieh; außerdem schien auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, dass der Schutz des Privateigentums unumkehrbar ist104.

Ein wesentliches Grundprinzip des Sachenrechtsgesetzes liegt nun darin, dass alle drei Eigentumsformen (Volks-, Kollektiv- und Privateigentum) geschützt werden (§§ 4, 56, 63 Abs. 1, 66 SachenrechtsG). Folge der heftigen Kontroversen bei Erlass des Sachenrechtsgesetzes ist, dass § 4 nicht mehr, wie frühere Entwürfe, formuliert, Volks-, Kollektiv- und Privateigentum seien „gleichermaßen“ geschützt. Inhaltlich muss das keinen Unterschied machen105. Die §§ 56, 63 Abs. 1 und 66 SachenrechtsG regeln den Eigentumsschutz darüber hinaus für ← 14 | 15 → Volks-, Kollektiv- und Privateigentum jeweils in einer eigenen Vorschrift, ohne allerdings einen unterschiedlichen Schutzumfang festzulegen106.

Welche Sachen jeweils im Eigentum des Staates, von Kollektiven oder von Privatpersonen stehen können, ist im 5. Kapitel des Sachenrechtsgesetzes geregelt. Letzte Klarheit über das Kollektiv- und Privateigentum wird durch die Regelung allerdings nicht geschaffen. Ausschließlich dem Staat stehen zu: Bodenschätze, Gewässer, Seengebiete (§ 46 SachenrechtsG), städtische Grundstücke (§ 47), Rundfunkfrequenzen (§ 50) und Landesverteidigungsanlagen (§ 52 Abs. 1). In der Regel gehören auch Wälder, Berge, Grasland, Ödland und Watten dem Staat; Gesetze können bestimmen, dass sie den Kollektiven gehören (§ 48). Im Eigentum des Staates stehen schließlich bei entsprechender gesetzlicher Anordnung: wilde Tiere und Pflanzen (§ 49), Kulturgüter (§ 51) und Infrastrukturanlagen wie Eisenbahnanlagen, Straßen, Elektrizitäts- und Telekommunikationsanlagen sowie Leitungen für Öl und Gas (§ 52 Abs. 2). § 58 SachenrechtsG umschreibt in einer offenen Vorschrift, welche Sachen im Eigentum der Kollektive stehen: Nr. 1: Land, Wälder, Berge, Grasland, Ödland und Watten bei entsprechender gesetzlicher Bestimmung (vgl. § 48 zum Eigentum des Staates); Nr. 2: kollektiveigene Baulichkeiten, Produktionsanlagen und Bewässerungsanlagen für Felder; Nr. 3: kollektiveigene Erziehungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Gesundheits-, Sport- und andere Anlagen; Nr. 4: andere kollektiveigene unbewegliche und bewegliche Sachen. Ähnlich offen ist § 64 SachenrechtsG, wonach Privatpersonen Eigentum an ihren legalen Einkommen, Gebäuden, Gütern des täglichen Bedarfs, Produktionsgeräten, Rohmaterialien und anderen unbeweglichen und beweglichen Sachen genießen.

Details

Seiten
X, 228
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050400
ISBN (ePUB)
9783653974904
ISBN (MOBI)
9783653974898
ISBN (Hardcover)
9783631658345
DOI
10.3726/978-3-653-05040-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
chinesisches Erbrecht chinesisches Privatrecht akademische Reformentwürfe
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. X, 228 S.

Biographische Angaben

Christina Eberl-Borges (Band-Herausgeber:in) Wang Qiang (Band-Herausgeber:in)

Christina Eberl-Borges ist seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, insbesondere Familien- und Erbrecht, sowie Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte sind das Recht der Erbengemeinschaft und das Privatrecht der VR China. Wang Qiang studierte in China, Deutschland sowie den USA und promovierte an der Universität Mainz. Nach Tätigkeiten als Dozent (Rechtsübersetzen) in Germersheim und wissenschaftlicher Mitarbeiter am FB Rechtswissenschaft der Universität Mainz ist er derzeit als Assoc. Prof. an der China University of Political Science and Law, Dekan der deutschen Abteilung, tätig. Seine gegenwärtigen Forschungsgebiete sind Rechtsvergleichung, Rechtsübersetzung und Rechtslinguistik sowie Vermögens-, Erb- und Wirtschaftsrecht.

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Titel: Erbrecht in der VR China
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